Home "Der Freymäurer" durchschaut die Kunst der Verstellung

 

 

 

Der Freymäurer.

 

Seiten 41-48

 

Das sechste Stück.

 

Leipzig, Sonnabends, den 8. Horn. 1738.

 

Fallit enim vitium specie virtutis et vmbra.

 

Juven.

 

Ich wollte jüngst in unsre Versammlung gehen, als mir eben einer von meinen Mitbrüdern begegnete, und mir ein kleines Briefchen zeigte, welches er von ungefähr gefunden hatte. Ich las es, und fand folgendes darinnen:

 

Mein Herr!

darf man denn gar niemand in der Welt mehr trauen? Das hätte ich nimmermehr von Ihnen geglaubt, daß Sie sich so sehr verstellen sollten. Aber nun habe ich es zu meinem Schaden erfahren. Sie sollen meine Aufrichtigkeit nicht mehr misbrauchen. Ich wollte nur wünschen, daß Sie alle Leute so kennen möchten, wie ich Sie nun kenne: So würde sich niemand mehr durch ihre Verstellung betrügen lassen.

 

Wir konnten nicht wissen, bey was für einer Gelegenheit, und von was für einer Person dieses war geschrieben worden. Man hatte die Unterschrift hinweggerissen. So viel wir aber aus den Zügen der Schrift urtheilen konnten, so mochte dieses Briefchen wohl von einem Frauenzimmer gekommen seyn.

 

Es ist wahr, fieng mein Mitbruder an, man hat Ursache, sich in der Welt über die Verstellung zu beklagen. Und es ist zu bedauren, daß man die Fragen so häufig hört: Darf man dem andern auch trauen? Sollte er uns nicht zu betrügen suchen? Sollte er wohl in der That so beschaffen seyn, wie er sich von aussen stellt? Aber, was richten doch so viele mit ihrer Verstellung aus, erwiederte ich darauf. Ehe sie es glauben, entdeckt man ihre eigentliche Gestalt. Denn ein gezwungenes und verstelltes Wesen hält selten eine scharfe Probe aus.

 

Mein Mitbruder wußte, daß ich mir, aus dem Umgange mit Menschen, verschiedene Nachrichten zu meinem eigenen Unterrichte sammlete. Er gab mir also dieses Briefchen. Und dieß brachte mich des Abends wieder auf meine Betrachtung, welche ich bereits vorher angefangen hatte. Ich erinnerte mich dabey etlicher Entdeckungen eines verstellten Wesens, welche ich mir vor einiger Zeit angemerket hatte.

 

Ich will dieselben meinen Lesern mittheilen, ehe ich meine Gedanken weiter eröffne.

 

Ich habe den Chrysander immer für geizig gehalten. Einer von meinen Freunden aber hat es mir niemals glauben wollen. Es geschah, daß wir mit ihm in einer Gesellschaft waren. Man brachte für diejenigen, welche sich nicht getrauten, Materie genug zu einer Unterredung zu haben, einen Lombertisch mit Karten. Chrysander wurde mit zu dem Spiele gezogen. Gut! sagte mein Freund zu mir, nun will ich bald erfahren, ob Chrysander geizig ist oder nicht. Ich will nur sein Gesicht, seine Gebehrden und Worte beobachten, wenn er vielleicht verliehren sollte. Chrysander verlohr wirklich 10 Thaler, und Titius gewann sie von ihm. Er zahlte sie mit einer solchen Gleichgültigkeit aus, als wenn er nichts verlohren hätte. Das Spiel wurde bald hernach aufgehoben, und Chrysander versicherte den Titius, mit einer freundlichen und zufriedenen Mine, daß er mit besonderem Vergnügen gespielt hätte.

 

Da siehst du nun, sagte mein Freund zu mir, daß Chrysander nicht geizig ist. So lange du nicht weißt, antwortete ich ihm, worinnen Titius dem Chrysander dienen kann: So lange kannst du aus diesem Spiele von Chrysanders wahrer Gemüthsbeschaffenheit nicht urtheilen. Chrysander hofft, durch Hülfe des Titius, einen Rechtshandel, und dabey eine ansehnliche Summe Geldes zu gewinnen. Er hat ihm seit geraumer Zeit kein Zeichen einer thätigen Erkenntlichkeit gegeben. Er sieht also die verlohrnen 10 Thaler, als ein Geschenk an, welches Titius von ihm erhält. Er hofft, Titius werde dadurch angetrieben werden, bey der Sache keinen Fleiß zu sparen. Denn 10 Thaler verliehrt man nicht gern umsonst.

 

Du sollst noch heute erfahren, fuhr ich fort, daß Chrysander geizig ist. Gehe diesen Abend zu ihm, und bitte ihn nur um 2 Gulden für einen armen kranken Menschen; erzähle ihm, daß er der Sohn von demjenigen Manne sey, welcher in Chrysanders Handlung mit aller Treue viele Jahre lang gedient habe. Sage ihm, daß es eben der Mensch sey, welcher ihm jüngst die verlohrne göldene Uhr wieder zugestellt. Beschreibe ihm des jungen Menschen Elend, wie verlassen er sey, und wie wenig er noch vom Gelde übrig habe.

Chrysander verließ die Gesellschaft bey Zeiten. Mein Freund gieng nach einer halben Stunde zu ihm. Chrysander bewillkommt ihn anfangs mit aller Freundlichkeit: Allein da er den unvermutheten Vortrag hört, so bekömt sein Gesicht eine ganz andere Gestalt. Er fällt meinem Freunde in die Rede, und sagt ihm, daß er mit dem jungen Menschen nichts zu schaffen habe. Er möchte sehen, wie er auskäme. Dieser will seine Bitte wiederholen: Allein Chrysander entschuldiget sich: Er habe noch nöthige Briefe zu schreiben; er könne sich unmöglich länger aufhalten. Mein Freund sagte mir hierauf, wie er Chrysandern in seiner wahren Gestalt hätte kennen lernen, und wie er mir nunmehro glaubte.

 

 

Ich stund in Belanders Wohnung, vor seiner Saalthüre, und wartete auf einen guten Freund. Fassette, Belanders Tochter, war auf dem Saale. So bald ich sie erblickte, erinnerte ich mich dabey des Lobes, welches man ihr wegen ihres Mitleidens, und ihrer Freygebigkeit gegen die Armen beylegte. Man hatte mir sonst von ihr erzählt, daß sie öfters arme Leute, welche ihre Mutter bereits abgewiesen habe, wieder zurücke rufe, und ihnen Gaben mittheile. Wenn sie bisweilen die Verweise ihrer Mutter deswegen anhören müsse, pflege sie sich mit den Regeln der Sittenlehre zu verteidigen.

Indem ich daran gedenke, kömmt eben ein altes Weib mit einer andächtigen Mine. Sie betete, und seufzete oft dazwischen. Fassette nahete sich zu ihr, und fragte sie: Wie es käme, daß sie seit acht Tagen kein Allmosen geholt hätte? Sie gab ihr dabey Geld, und ich wurde gewahr, daß die alte Frau ihrer Wohlthäterinn ein kleines Briefchen geschwinde zusteckte.      Das alte Weib gieng unter vielen Danksagungen weg, und Fassette ermahnte sie, fein bald wieder zu kommen. Ich konnte es für kein Dankschreiben halten; weil man schon weis, zu was für einer Art von Briefen diejenigen gerechnet werden, welche dergleichen alte Weiber bestellen. Und ich erfuhr auf solche Art, daß Falsette sich nur darum freygebig und mitleidig gegen arme Leute stelle, damit sie unter diesem Vorhänge ihre Liebesstreiche spielen könne.

 

 

Ich fand den jungen Vinosus in einer Gesellschaft, welcher ansehnliche Männer beywohnten. Es war darunter sonderlich einer, der auf dessen Sitten ein wachsames Auge hatte. Dieser Mann konnte zu desselben Glücke vieles beytragen. Vinosus wußte, daß sein Vater durch ihn erfahren könne, wie er sich in der Fremde aufführe. Er gab sich daher alle Mühe, sich als einen Menschen zu erweisen, von dem man viel gutes denken und hoffen könnte.

Wer in solchen Umständen zum erstenmale mit ihm umgieng, der trug kein Bedenken, ihn wegen seiner besondern Bescheidenheit und seines stillen Geistes zu loben. Er gab durch seine Reden zu verstehen, daß er die Tugend hoch schätze, und daß man sich durch ein unordentliches Leben in das Verderben stürze. Als man bey der Mahlzeit Flaschen mit Wein auf die Tafel setzte, und ein jeder sein Glas bekam, fieng Vinosus, nebst den andern in der Ordnung zu trinken an. Allein, er brauchte alle Vorsichtig, keit, damit er sein Glas nicht völlig ausleeren möchte. Er gieng so sparsam mit dem Weine um, daß oft ein einiges volles Glas zureichte, viele ausgebrachte Gesundheiten mitzutrinken.

Derjenige, welcher die Gesellschaft zu sich gebethen hatte, bemerkte solches, und sagte ihm, daß er zwar niemand zum übermäßigen Trunke nöthige, doch wolle er auch nicht, daß man von ihm durstig nach Hause gehe. Vinosus entschuldigte sich damit, daß er nie mehr zu trinken pflege, und er müsse gestehen, daß er wenig vertragen könne. Es wurden ihm von den andern einige Gesundheiten zugebracht: Allein er that mit solcher Behutsamkeit Bescheid, daß man völlig von ihm hätte glauben sollen, er halte das starke Getränke für einen gefährlichen Feind.

Mein Nachbar sagte mir dabey ins Ohr: Es ist doch etwas rares, daß ein junger Mensch so wenig trinket. Man nennte seinen Vater glücklich, daß er einen Sohn hätte, welcher in der Fremde so mäßig lebte.

 

Allein, ich lernte den jungen Vinosus bald anders kennen; und ich erfuhr, daß er seine wahre Gestalt nur auf kurze Zeit verborgen gehalten, und seinen unordentlichen Begierden den freyen Lauf nicht gelassen hatte. Ein jeder begab sich nach zehn Uhr des Nachts nach Hause, und Vinosus mochte nicht wissen, daß ich ihm auf der Straße so nahe wäre. Es begegnete ihm von ungefähr ein Mensch, welcher ihn also anredete : Wie gehts? Bringst du einen guten Rausch aus deiner Gesellschaft mit? Wie viele Kannen Wein hast du im Leibe? Wir haben, auf deine Gesundheit, das größte Glas ausgeleeret.

Ja, zum Henker! fieng Vinosus an, einen Rausch? Ich bin froh, daß ich aus der Sclaverey erlöst worden. Hätte mich jemand aus eurer Gesellschaft heute gesehen: So würde er mich gewiß für den einfältigsten Pinsel gehalten haben. Der alte Sauertopf, den du wohl kennst, war da, und vor dem mußte ich mich in Acht nehmen, damit er nicht auf den nähesten Posttag meinem Vater etwas zu schreiben bekommen möchte. Denn da würde mir mein Vater das verlangte Geld nicht schicken.

Komm mit mir, sagte der andre, du sollst einbringen, was du versäumt hast. Ich hielte gewiß nichts mehr von dir, wenn du heute nüchtern zu Bette gehen wolltest. Und hierauf gieng Vinosus mit ihm fort.

 

 

Ich weis, meine Leser werden, aus eigner Erfahrung, die Zahl von dergleichen Geschichten vermehren können. Denn es geschieht fast nichts öfters, als daß man einen Menschen, nach verschiedenen Umständen, in veränderter Gestalt erblickt. Diejenigen, welche Meister in der Kunst sich zu verstellen abgeben wollen, glauben zwar, daß sie sich vor den Augen der andern sattsam verbergen: Allein, es wird ihnen oft die Larve zu ihrer Beschimpfung abgezogen.

Man hat aus der Erfahrung gewisse Regeln angemerkt, nach welcher man die Aufführung der andern prüfet. Bey manchen darf man nicht viele Mühe anwenden, wenn man ihre eigentliche Gemüthsbeschaffenheit erforschen will. Es fällt ihnen beschwerlich, sich auf lange Zeit zu zwingen. Denn es wird eine allzugroße Behutsamkeit dabey erfordert, wenn man den andern beständig betrügen will. Solche Personen wollen uns nicht lange im Irrthume lassen: Daher zeigen sie uns bey Zeiten, was wir von ihnen zu halten haben.

Bey einigen aber fällt es schwerer, ehe man sie recht kennen lernt. Es ist eine ausgemachte Sache, daß ein jeder Mensch nach besondern Absichten handelt. Er hält es nicht allemal für rathsam, nach seiner Gewohnheit zu verfahren. Er sieht sich daher genöthigt, bisweilen etwas zu unterlassen, was er sonst mit Vergnügen zu thun pflegt. Eine besondere Absicht treibt ihn an, etwas zu beobachten, welches er ausser gewissen Umständen unterläßt. Denn es bringt keine Ehre, wenn man seinen Begierden in dem Umgange mit andern folgt. Man glaubt, in der Welt vieles gewonnen zu haben, wenn andre eine gute Meynung von uns hegen. Deßwegen sucht man sich zu verstellen.

 

Wenn die Tugend bey allen herrschte: So dürfte man sich nicht scheuen, seine eigentliche Gestalt zu zeigen. Man würde zu einer Zeit, wie zu der andern, eine völlige Gleichheit und Uebereinstimmung der Worte und Thaten bey den Menschen an treffen. Allein, viele Menschen vermeynen, daß sie bey der Ausübung der Laster Vergnügen finden werden. Ihr Gewissen überzeugt sie, daß sie sich nicht zu den strengen Verehrern der Tugend zählen können. Gleichwohl will man noch den äußern Schein der Tugend beybehalten. Denn man sieht, daß es schädlich ist, wenn uns andre für lasterhaft halten.

Der Geiz macht uns bey andern Leuten verhaßt. Durch die vielerley Arten der Wollust wird man verächtlich. Und wer wird gern den Ehrgeiz aufgeblasener Thoren vertragen? Niemand will sich mit demjenigen in Freundschaft einlassen, von welchem er offenbar weis, daß er ein falsches, treuloses und tückisches Gemüthe hat. Man sucht also die Menschen einzuschläfern; man will sich ihrer in so weit bemächtigen, daß sie unsern Worten trauen, und unsere Thaten für aufrichtig halten mögen.

 

Es ist uns aber oft vieles daran gelegen, daß wir den andern kennen lernen. Und wer die Kunst weis, der Menschen Gemüther zu erforschen, dem wird es gelingen, manche Verstellung zu entdecken. Ich wünsche, daß man dergleichen Entdeckungen häufig machen möge, damit die Laster nirgends sicher seyn können, und daß sie alsdann den Augen der andern am ersten offenbar werden, wenn sie sich unter dem Aufputze der Tugend beliebt machen wollen. Wollt ihr die Verstellung wahrnehmen: So betrachet einen Menschen nicht in solchen Umstanden, da ein jeder sich, so viel ihm möglich ist, vor Fehlern zu hüten sucht. Urtheilet nicht von seiner wahren Gemüthsbeschaffenheit, wenn er sich mit Personen in Gesellschaft befindet, vor welchen er sich fürchten muß, und welche ihm so wohl schaden, als nützen können.

 

Sehet ihr einen Sohn, welcher vor den Augen eines ernsthaften Vaters mäßig, arbeitsam und ordentlich ist; erblickt ihr eine Tochter, welche in der Gegenwart einer tugendhaften Mutter, die Personen des andern Geschlechts kaum ansehen will: So gebt Acht auf sie, wenn sie sich ohne die Aussicht ihrer Eltern in Freyheit befinden. Ihr werdet oft veränderte Sitten wahrnehmen; und wenn ihr nicht gewiß davon überzeugt wäret, würdet ihr sie kaum für eben die Kinder halten.

So verräth sich Vinosus, wenn er mit seinen Saufbrüdern wieder in Gesellschaft kömmt. Denn er glaubt, er dürfe nunmehro nicht weiter mäßig seyn, weil ihn kein aufmerksames Auge beobachtet.

 

Betrachtet einen Menschen, wenn er von den Affekten eingenommen ist. Da ist er nicht im Stande, die vorige Sorgfalt anzuwenden. Er sagt in der Hitze seine Meynung, die er sonst verborgen gehalten. Er giebt durch sein Bezeigen zu verstehen, wie nahe ihm dieses oder jenes gehe, und welches seine wahre Meynung sey. Ihr werdet von einem der im Zorne redet, eine ganz andere Sprache vernehmen, als wie er sonst zu führen gewohnt ist. Hat er euch sonst gelobt, und euch die schmeichelhaftesten Worte vorgesagt: So werdet ihr nunmehro erkennen, wie ernstlich er es damit gemeynt bat.

 

Chrysander wird freylich ungehalten, wenn man ihm mit solchen Anforderungen beschwerlich fällt. Er glaubt, man müsse seine Vollkommenheiten immer zu vermehren suchen. Wie kann aber dieses geschehen, wenn man geben, und nichts davor wieder nehmen und hoffen kann? Er ist also in solchen Umständen so offenherzig, und entdeckt euch die Wahrheit, die ihr gerne wissen wollt, daß er nemlich geizig sey.

 

 

Untersucht die That selbst, welche ein Mensch ausübt. Kömmt sie euch gut, und dem ersten Ansehn nach untadelhaft vor: So bemühet euch, zu erfahren, ob er nicht besondere Ursachen dazu hat, und ob er nicht dadurch einen wichtigen Vortheil zu erhalten, und ein Vergnügen, welches er sonst schwerlich erlangen kann, zu befördern sucht. Stellet euch ihn alsdann vor, wenn ihn diese Bewegungsgründe nicht antreiben sollten. Chrysander würde eine schlaflose Nacht gehabt haben, wenn nicht eben Titius das Geld von ihm gewonnen hätte. Und Falsette würde ihre Freygebigkeit gegen die Armen weniger ausüben, wenn sie nicht unter diesem Vorwande erfreuliche Nachrichten von ihrem Liebhaber erhalten könnte.

 

Wiederholt man seine Anmerkungen öfters: So wird uns die Länge der Zeit eine Verstellung zeigen, welche wir anfangs nicht haben entdecken können. Es kann geschehen, daß sich ein Mensch auf etliche Jahre, als unser treuer Freund aufführt. Er bemüht sich, uns allen Argwohn zu benehmen, und uns durch viele Proben von seiner ächten Freundschaft zu überführen. Wir glauben ihm auch. Wir befürchten nichts weniger, als daß er uns untreu werden sollte. Allein endlich, wenn er seinen Zweck erreicht hat, wenn er keinen Nutzen mehr von uns erwarten kann: So zieht er die Maske ab, und da erfahren wir, wem wir uns vertraut haben.

Unser eignes Wohl kömmt darauf an, daß wir mit aller Vorsichtigkeit verfahren, und darauf sehen, ob nichts gezwungenes, nichts eigennütziges die Menschen bewege, sich zu verstellen. Und man hat oft von großem Glücke zu sagen, wenn man eine Verstellung gleich anfangs wahrnimmt.

 

 

Was soll man aber von einem Menschen urtbeilen, welcher uns nur zu betrügen sucht ? Und was bringt es ihm für Nutzen, wenn es ihm auch gelungen ist? Weis man einmal von ihm, daß er sich nur verstellt: So glaubt man ihm nicht, und wenn er auch noch so eine ehrbare freundliche Gestalt an sich nimmt. Dergleichen Leute sind hernach so unglücklich, daß man auch ihre Thaten, bey welchen sie doch keine falsche Absichten haben, für gezwungen hält. Sie müssen erst viele Proben ablegen, daß sie es in der That so meynen, ehe man recht wieder glaubt; und doch lassen sich viele kaum dadurch bewegen, ihnen von neuem zu trauen.

 

Wer kann den loben, welcher die Tugend so schändlich misbraucht, und sie sonst für unnütz ansieht, wenn er seine Thorheiten nicht damit bemänteln kann? Ich zähle zwar niemand gern zu den Lasterhaften: Allein, wer mich zu betrügen sucht, von dem kann ich nichts gutes denken. Wer den Namen eines Tugendhaften zu führen verlangt, der muß sich immer, bey allen Umständen und bey aller Gelegenheit so erweisen.

Ich kann Menschen, welche sich nur aus Zwang und Furcht vor andern verstellen, als keine freyen Leute ansehen. Es ist ihnen höchstverdrüßlich, wenn sie der gewöhnlichen Sclaverey ihrer Laster auf eine kurze Zeit entsagen sollen. Sie sind in beständiger Furcht, man möchte sie entdecken, und sie scheuen sich vor den üblen Folgen, die daraus entstehen.

 

Wie glücklich würden wir seyn, wenn wir allen Menschen gleich trauen könnten! Aber so betrügt uns das äußerliche Ansehn, und die Scheintugenden verblenden unsre Augen. Wird man noch weiter in der Verstellung gehn: So wird künftig dieses in dem Umgänge mit Menschen zur Regel werden, daß man das Gegentheil von demjenigen glaubt, was man noch Gutes sieht und hört.

Es ist nicht zu verwundern, daß die Verstellung so überhand nimmt. Man wird in der Jugend schon dazu gewöhnt, damit man bey erwachsenen Jahren ja seine Rolle gut spielen möge. Ich habe selbst gehört, daß eine Mutter zu ihrer kleinen Tochter sagte: Das gefällt mir noch am besten an dir, daß du dich so zu verstellen weißt. Und ist es wohl etwas ungewöhnliches, daß man zu dem Lobe des andern spricht: Er hat es weit in der Kunst sich zu verstellen gebracht?

 

M.

 

 

[nachstehend ein kurzer Auszug aus dem neunten Stück:

Leipzig, Sonnabends, den 1. Merz 1738,

Seiten 71-72:

 

… Wir Freymäurer sind wohl recht wunderliche Leute. Das erste Gesetz, das wir unsern neuen Mitbrüdern vorlegen, ist: Zeige dich so, wie du bist. Wir glauben, sie dadurch am stärksten zu verpflichten, recht tugendhaft zu werden.

 

… Ich thue also hiermit der beleidigten Verstellung eine öffentlichen Ehrenerklärung. Sie ist dem Lasterhaften eben so nütze, als die Schminke einem häßlichen Angesichte; und wir sind beyden verbunden, daß sie uns durch keinen garstigen Anblick erschrecken wollen.

Wer wirklich tugendhaft und schön ist, der kann nur so eigensinnig seyn, und ohne Larve einhergehen.]


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