Home Magie und Animismus

 

Zum Werk von Eduard Renner:

Eherne Schalen - Über die animistischen Denk- und Erlebnisformen.

Verlag Paul Haupt, Bern 1967.

 

Mag dieses ausserordentlich schwer zu lesende und recht unzeitgemässe Buch auch nur wenige Leser finden, so ist dennoch verdienstvoll, dass es der Verlag Paul Haupt mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung publiziert hat - ein kleiner Interessenkreis wird es hoch zu schätzen wissen.

 

Eduard Renner (1891-1952), der humanistisch gebildete Urner Bergarzt, ist vor allem durch seine 1941 erschienene Sammlung «Der goldene Ring über Uri» bekanntgeworden. Sie bildet den zweiten Teil seiner Lebens-Trilogie, die er mit der späten Dissertation «Über das Magische und Animistische im Erleben der Urner Bergbauern» (1939) begonnen hatte und in einem dritten Teil zu vollenden gedachte.

 

Während zehn Jahren schrieb er an demselben, entwarf einen weitgespannten, über einzelne Wissenschaftsgebiete hinausgehenden Plan, berechnete und zeichnete, doch war es ihm nicht vergönnt, seine Arbeit zum wohlgerundeten Abschluss zu bringen. Nun hat es sein Klassenkamerad aus dem Gymnasium Stans und langjähriger Freund, Jakob Wyrsch, unternommen, die grosse Fülle der hinterlassenen Papiere und Skizzen zu sichten und was davon abgeschlossen war, wortgetreu und ohne jegliche Hinzufügungen herauszugeben und einzig mit kurzen, präzisen Ein- und Überleitungen verständlich zu machen.

 

Es, Ring und Frevel

 

Eduard Renner hat mit seiner seltenen Gabe, vom Objektiven und empirisch Verifizierbaren in «Gedanken(an)flug», Intuition und Phantasie ins Subjektive und Zeitlose hinaufzustreben, schon im «Goldenen Ring» versucht, die Sagen und Gebräuche der Urner Bergbauern in die Lehre vom Es, Ring und Frevel zu fassen. Als Kernsatz galt hierbei:

Der magische Mensch steht als Erhalter (nicht Schöpfer) seiner Welt im Ring, bedroht vom Es (der Härte und Macht der Umwelt und ihrer Kräfte); aber die Gefahr ist gebannt (durch Trug-Gesten, Besitzergreifen und Signaturen) solange er nicht frevelt.

 

Magie (Bann) war früher als der Animismus (Zauber)

 

Wie schon der Titel seiner Dissertation andeutet, vertritt Renner eine strenge - aber selten sonst beachtete - Scheidung von «magisch» (zum Beispiel bei den Bergleuten) und «animistisch» (bei Talleuten, Technikern), die, obwohl diametrale Gegensätze, doch oft, vermengt, zusammen wirken und in Spannung fruchtbar werden.

 

Magie ist einfach da, als Erfüllung der magischen Erlebnis- und Denkformen. In der Magie gibt es keine Götter und Dämonen (die tauchen erst später, im Animismus als getrübter Magie auf), sondern nur den Menschen, seinen Clan und die Dahingegangenen, kurz: die Gemeinschaft.

Die Welt der Animisten hingegen ist - unter anderem - voller Götter und Dämonen, Heroen (Helden), Hexen und vermenschlichter Kräfte; ihre Gesten dienen nicht dem Bann, sondern die Riten (Kult) und der Zauber streben eine Veränderung der Umwelt durch göttliche Kräfte, durch Wunder und Blendwerk an, eine Beherrschung der Dämonen.

Animistische Bräuche sind etwa das Maskenwesen, Peitschen und Schellen, Bräuche mit Feuer und Lärm, Personifikationen irgendwelcher Naturmächte (Zwerge, Geister). Animismus ist also das Spätere, Jüngere; so gibt es «wohl eine Magie ohne Animismus, aber keinen Animismus ohne Magie».

 

„Tiefenpsychologische Materiale“ bei archaischen Menschen, Wilden und Berglern

 

Am Anfang seiner Studien ging es Renner um die Urner Gebirgsbewohner, dann aber, dank der Beschäftigung mit dem ihn tief beeindruckenden Werk des Vorgeschichtsforschers Herbert Kühn, leuchtete ihm der beinahe geniale Gedanke auf, dass nicht nur die Äusserungen der abendländischen Seele (zum Beispiel Folklore und Kunstgewerbe) heute wie vor zwei, vier Jahrtausenden, sondern ebenso die primitiven Erlebnisreihen heutiger Wilden (Heiden) wie auch der (archaischen) Menschen der Urzeit zu betrachten und einander als völlig gleichwertig und -geartet gegenüberzustellen sind: Es handelt sich bei alledem um «tiefenpsychologische Materiale» in ihrer weltweiten Gültigkeit über alle Zelten.

 

In den «Ehernen Schalen» nun fahndet Renner nach den animistischen (und den mit ihnen verknüpften magischen) Denkgesetzen. Das Buch «bestätigt die Magie» und «zeigt die Unmöglichkeit auf, dem Animismus zum vorneherein auf europäischem Boden beizukommen, führt uns aber auf dem Umweg über die Kunstgeschichte, die Ethnologie, die grossen philosophischen und mystischen (mythischen) Systeme auf animistische Gesetze», auf die «zehn grossen Normen».

 

So leitet er uns auf 200 dichten Seiten in bewunderungswürdig vielseitiger und kenntnisreicher Führung von den arktischen und subarktischen Gefilden über China und Tibet, das Wildkirchli, Spanien, Afrika bis nach Mittel- und Südamerika und in die Südsee. Er beginnt bei den allerersten Zeugnissen menschlicher Geistigkeit in der magischen Kunst des Paläolithikums (vor allem eiszeitliche Höhlenmalereien und Werkzeuge) und stösst über die ausführlich bearbeitete Kunst der Neusteinzeit bis zu den «granitenen» Gesetzen vor. «Unser Weg geht also in den unermesslichen Abgrund der Seele, die älter und dunkler, niedriger und höher ist, als alles, was uns als älteste, und niedrigste Kultur ansprechen kann», er geht in die Tiefen der «Archetypen» und archetypischen Bilder (C. G. Jung), der universellen und urtümlichsten Erlebnisweisen der ganzen Menschheit, die auch im heutigen Menschen noch vorhanden und wirksam sind, weit mehr als wir gemeinhin glauben; Renner nennt sie «obsolete [d. h. veraltete] Denkformen».

 

Differenzierte und bilderreiche Sprache

 

Es ist schade, dass so viele unvollendete oder abrupt abgebrochene Abschnitte von Renners Manuskripten weggelassen werden mussten, so über Eskimo- und Feuerländer-Kulturen. Judentum (Chassidim) und Islam (Hamitik), Formen und Gebärden primitiver Stämme, über die Vorsokratiker und die Entwicklung der abendländischen Philosophie. Doch fasziniert schon das vorliegende, fragmentarische und unzusammenhängende Torso und verblüfft den ernsthaften Leser mit seiner ungeheuer differenzierten, gepflegten, schönen und bilderreichen Sprache und vielschichtig-gegenläufigen Gedankengängen -entsprechend dem jeweils beschriebenen komplizierten Inhalt.

 

Die Ornamente des Animismus

 

Besonderes Gewicht legt Renner in diesen gedruckten Schriften auf die Wende der magischen Bannformen in die Offenbarung des Animismus im Kreis (Ring) als Ornament, zur Zeit des Neolithikums (Nach-Eiszeit).

Mit liebevoller Sorgfalt erläutert er die Fülle der geometrischen Figuren, die sich auf Keramik, Schmuck und Friesen zumal des keltisch-mykenischen Kulturkreises (Süd-Griechenland) finden. Jedes Symbol (Zeichen, Bild) birgt Spannung, Zweideutigkeit (Ambivalenz und Unruhe) und stösst vom magischen Ringe her ins Ungeborgen-Animistische und bereitet wiederum die Flucht in den bergenden Ring vor.

 

Im Animismus erhält die alte Form «endlich jenes kultische Gewicht, jene Heiligkeit, die wir immer fern von allem Magischen wissen wollten ... Symbole beherrschen ihrem ganzen Inhalte nach den animistischen Bereich». Renner betrachtet hierbei das Werden der Symbole als reines, frei erfundenes Spiel der Linie, das am Ende auch die Seele des Schöpfers und Betrachters in bestimmter Weise mitschwingen lässt.

 

Das Berechnen von Kreisen und Spiralen

 

Viel Aufmerksamkeit widmet er der Spirale als Sinnbild der Gottheit, mit der zugleich religiöser Kult und die späte Magie (als Zauberwesen) entstehen (vgl. hierzu auch etwa die «Labyrinth-Studien» von Karl Kerényi, 1950). In grossangelegten, doch bestechend einfachen Versuchen bemüht er sich in verwirrender Genauigkeit und ausgehend von den Messgebräuchen der Bergler (!), dem «Tesseln», auf rechnerischem und zeichnendem Wege den Ringen, Spiralen, Schleifen, Drei- und Vierpässen, Hufeisen, Rauten und vielen andern Formen beizukommen, die sich in «Spannung und Lösung», in Sternen, Blättern, Blattrosetten und Pflanzengeranke ausfalten.

 

Mit der These, dass am Eingang zur kretischen Geometrie die gekrümmte Linie, die Kurve stand (also nicht-euklidische, das heisst nicht-geradlinige Geometrie) und dem einzigen Lehrsatz, dass Kreise und Kreisgruppen mit gleichem Durchmesser die gleichen Umfänge haben, sucht er im Nachrechnen des Schöpfens der Zierformen beispielsweise für Spirale und Wirbel ein genaues Verhältnis zu deren umschriebenem Kreis zu finden, ohne aber dessen Umfang zu berechnen, also ohne die Zahl π zu bemühen, etwa über den Weg von einfachem Abtragen und Mittelwerten. Dabei stellt er fest, dass die Minoer (Kreter) die zwei innersten, nur unschön zu zeichnenden Bögen der Spirale wegliessen und an deren Stelle einen «zentralen Schild» setzten, womit äusserste Vollendung und Klarheit in der Darstellung erreicht wurde.

 

 

 

Die Decke eines Palastes von Knossos, auf deren messende, berechnende und geometrische Erschliessung die Bemühungen Eduard Renners hinauslaufen: Die Erprobung seiner Ansichten gelingt, denn das ganze Figurengebilde von Wirbeln und Scheiben lässt sich aus einer genau vorgegebenen Anzahl von konzentrischen Kreisen mit bestimmten Durchmessern durch Umgruppieren streng gesetzmässig konstruieren.

 

 

Als Kernstück krönt Renners Bemühungen die «Decke von Knossos» (siehe unser Bild), die in unübertrefflicher Weise zweimotivig ein Spiel von Wellen und Inseln vorführt. In ihr erfüllen sich die drei letzten - deutlich von den sieben ausführlich im Schlusskapitel dargelegten unterschiedenen - Denkgesetze von der «Heiligkeit und Unverlierbarkeit der Substanz, der Form und der Zahl»: «Die quicklebendige Linie der Spirale ist im geruhsameren Netz der Rundscheibe eingefangen.»

 

(geschrieben im März 1968;

erschienen in den „Basler Nachrichten“, 10. April 1968, und

in der „Neuen Berner Zeitung“, Oktober 1969)

 




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