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Doris Bischof-Köhler: Zur Phylogenese menschlicher Motivation.

In: Lutz H. Eckensberger, Ernst-D. Lantermann (Hrsg.): Emotion und Reflexivität. München: Urban & Schwarzenberg 1985, 3-47.

 

1. Seit der Mensch vor 2 Mio. Jahren Jagd auf grössere Tiere machte, musste er kooperieren und die Beute teilen (als Art der Hilfeleistung).

Dazu waren drei Voraussetzungen notwendig:

a) simultane Identifikation, z. B. sich selber im Spiegel erkennen oder Symbole bilden, d. h. eine Sache durch eine andere vertreten lassen: Repräsentation von Vorstellungsinhalten und Aufbau einer Vorstellungs- und Begriffswelt.

b) Verdinglichung, d. h. Identifikation von Dingen mit Eigenschaften, Prozessen, Relationen. Sie erlaubt auch Abstraktion.

c) Dezentrierung, d. h. die Verdinglichung relevanter Erfahrungen mit und über sich selbst. In der Spiegelung der Artgenossen wird ein Selbstkonzept aufgebaut; umgekehrt: sich in den andern versetzen können. Ist letzteres von Gefühl begleitet, spricht man von Empathie. Grundlage dafür ist der schon bei Tieren vorkommende Synchronisationsmechanismus der Gefühlsansteckung oder Stimmungsübertragung.

 

2. Mit der Zeit entwickelten sich aus Kooperation und Nahrungsteilung "prosoziale Leistungen" wie Fürsorge und Rücksichtnahme. Daher wird das nachempfundene Unbehagen des anderen motivierend, aber nur bei Freunden (Wir-Gruppe).

Eine andere Form ist die soziale Manipulation, bei der man den andern in eine Situation bringt, in der er bestimmte Handlungen ausführen soll.

 

3. Aus der Selbstobjektivierung (1a, b, c) gehen Bedürfnisse hervor:

  • Steigerung und Intensivierung des Selbstgefühls, v. a. durch Selbstdurchsetzung und Dominanz (agonistisch)
  • Geltung und Anerkennung (hedonistisch)
  • Eigenwert.

 

Damit die soziale Organisation nicht auseinanderfällt, werden Rangordnungen herausgebildet (durch Kommentkämpfe), wobei alte und daher schwache Personen (oder Tiere) wegen ihrer Erfahrung doch weiterhin geschätzt werden.

 

4. Nur der Mensch hat die Fähigkeit, Ereignisse als gestern oder morgen, früher oder später zu klassieren. Das ermöglicht

  • Antizipation von Bedürfnissen
  • Todesbewusstsein
  • Reziprozität; emotional: wechselseitige Verpflichtung (Erwartung künftiger Gegenleistungen, Krankenpflege, Vergeltungswünsche)
  • Internalisation des Bildes von andern Personen, sodass zeitweise Trennung möglich ist.

 

5. Durch die Domestikation von Pflanzen und Tieren um 10 000 vor Chr. änderte sich die Umwelt des Menschen ziemlich schlagartig. Er wurde vom nomadischen Sammler und Jäger zum Ackerbauern und Viehzüchter. Er wurde sesshaft; das führte zu Bevölkerungsballungen. Gewöhnt war er aber an das Leben in kleinen Gruppen. Das Zusammenleben mit vielen unvertrauten Menschen erzeugt Stress.

 

Ferner hatte die "neolithische Revolution" zur Folge:

Tausch und Handel

Spezialisierung, Rollendifferenzierung und Abhängigkeit

Überproduktion und Besitzanhäufung

Angst vor Verarmung

Bedürfniseskalation

Über-Ausbeutung von Ressourcen.

 

Besonders gegen die beiden letzten Punkte hat die vorherige Entwicklung des Menschen (über 2 Mio. Jahre) kein "inneres Korrektiv" entwickelt. "Verzicht" „aus Einsicht gegen das emotional eigentlich Erstrebenswerte" ist dem Menschen nicht angeboren. D. h. "dass die moderne industrielle Massengesellschaft eine Überforderung an das menschliche Motivationsinventar darstellt“.

 


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