Home Gereon Wolters: Modell - Modelltheorie

 

 

Jürgen Mittelstrass (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschatstheorie. 1984

Mannheim: B. I.- Wissenschaftsverlag, Bd. II.

Artikel „Modell“, 911-913; „Modelltheorie“, 913-914

 

911-913

 

Modell

... In der formalen Logik, der Semantik und mathematischen Grundlagentheorie ist der M.begriff von zentraler Bedeutung: Eine Interpretation I eines Ausdrucks A einer formalen Sprache heisst ein ‚M. von A’ genau dann, wenn A bei dieser Interpretation ein wahrer Satz wird. Diese Definition lässt sich auf eine Menge von Ausdrücken erweitern, indem man definiert, dass I genau dann ein M. von ist, wenn I für jeden Ausdruck A aus ein M. liefert.

So ist etwa die übliche Interpretation der als formales System oder auch, im Unterschied zum englischen Sprachgebrauch, als Struktur aufgefassten Peano-Axiome, die auf die natürlichen Zahlen führt, ein M. dieses Axiomensystems. Man sagt kurz, wobei die Bezeichnung ‚M.’ von der Abbildung I auf ihr Resultat übergeht: die natürlichen Zahlen bilden ein M. der Peano-Axiome.

 

Ähnliches gilt für die Hilbertschen Axiome bezüglich der (inhaltlichen) Euklidischen Geometrie. Allgemein lässt sich sagen, dass M.e nicht-sprachliche Entitäten sind, im Unterschied zu den formalen Systemen oder Sprachen, deren M.e sie bilden.

Üblicherweise werden M.e im Rahmen einer mengentheoretischen Sprache untersucht. Eine abstrakte Struktur heisst ‚kategorisch’, wenn je zwei ihrer M.e isomorph sind. Nicht-kategorische Strukturen heissen ‚polymorph’.

 

- In der klassischen Logik wird mit Hilfe des M.begriffs der Begriff der logischen Folgerung definiert. Eine Aussage A folgt logisch aus einer Aussagenmenge , wenn jedes M. von auch ein M. von A ist. Diese Definition der Folgerungsrelation, zu der sich Ansätze bei B. Bolzano finden, geht auf A. Tarski zurück.

Die Untersuchung der logischen und mathematisch-grundlagentheoretischen Eigenschaften von M.n erfolgt in der Modelltheorie.

 

Der Sprachgebrauch von ‚M.’ in den Einzelwissenschaften ist uneinheitlich und weicht oft von dem mathematisch-logischen Sprachgebrauch ab. Historisch wurden bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts mechanische M.e oft als Widerspiegelung der Wirklichkeit verstanden: Alle Vorgänge sind Bewegungen von Korpuskeln, die sich - scheinbar in völliger Übereinstimmung mit den anschaulichen Gegebenheiten - durch die Grundbegriffe Raum, Zeit, Masse und Kraft beschreiben lassen.

Verbunden mit dieser Auffassung ist das mechanistische Programm, alle physikalischen und vielfach auch alle sonstigen Vorgänge der Natur auf mechanische M.e zu reduzieren. Die realistische mechanische M.auffassung scheiterte bereits an der quantitativen Erfassung der Feldkräfte, was zunächst noch durch die zahlreichen Ätherhypothesen des 18. und 19. Jahrhunderts verdeckt wurde.

 

In der Physik und ähnlich in anderen Wissenschaften spricht man unter anderem von M.en:

(1) Wenn man aus Gründen der Vereinfachung die Untersuchung auf bestimmte, jeweils als wesentlich betrachtete Phänomene in einem Bereich beschränkt; Beispiel: wenn bei der Untersuchung von Interferenz- und Beugungserscheinungen des Lichts die Transversalität ausser acht gelassen wird.

 

(2) Wenn man aus Gründen didaktischer Veranschaulichung ein auf ‚klassischen’ Vorstellungen beruhendes Bild für anschaulich nicht zugängliche Phänomene angibt (z. B. das Rutherfordsche Atommodell bezüglich quantenmechanischer Sachverhalte), obwohl man weiss, dass es die Verhältnisse nicht korrekt wiedergibt.

 

(3) Wenn man die Verhältnisse in einem Bereich in Analogie zu bekannteren Verhältnissen in einem anderen Bereich studiert; Beispiel: die Betrachtung mechanischer Phänomene in einem elektrodynamischen M.

M.betrachtungen dieser Art haben entscheidenden Anteil an der Herausbildung umfassender (‚einheitlicher’) Theorien. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass M.e nicht mehr als Widerspiegelung der Realität verstanden werden, sondern dass die zunächst heuristische Hypothese einer Strukturähnlichkeit (Isomorphie) verschiedener Bereiche aufgestellt wird. Das anschaulich-didaktische Element entfällt oder tritt in den Hintergrund. M.e sind hier ausser theorieerweiternd vornehmlich logische Instrumentarien zur Prüfung der Konsistenz einer Theorie (z. B. hydrodynamische M.e für die nicht-lineare Quantenmechanik) und für Prognosen in ‚neuen’ Phänomenbereichen.

 

Im Zusammenhang mit der Strukturauffassung von M.n ist ferner (4) der an der logisch-mathematischen Definition von ‚M.’ orientierte Begriff mengentheoretischer M.e für formal-axiomatische Theorien zu sehen, der vor allem in der Physik Anwendung findet.

So liefert etwa P. Suppes mit dem geordneten Quintupel =<P,T,s,m,f>, das bestimmte Axiome erfüllt, wenn man P als die Menge der Partikel, T als eine Menge reeller Zahlen, mit denen Zeiten gemessen werden, und s, m, f als Längen-, Massen-, bzw. Kraftfunktionen interpretiert, ein M. der klassischen Partikelmechanik.

Auch die Planeten des Sonnensystems erfüllen das obige Quintupel.

Dieser strukturalistische Gesichtspunkt ist im non-statement-view physikalischer Theorien weiter ausgearbeitet worden.

 

- Man kann die mengentheoretischen M.e in der Physik (und anderen Wissenschaften) wie die logisch-mathematischen M.e als formal-semantische M.e bezeichnen; die Zuordnung der entsprechenden Terme und Funktionen zu Gegenständen und Beziehungen in der Realität als material-semantische M.e, M.e des unter (3) genannten Typs als Analogiemodelle.

 

Häufig spricht man in den Einzelwissenschaften von mathematischen M.n bestimmter Prozesse, wenn reale Entwicklungen nach Auswahl für relevant angesehener Parameter in mathematischer Form simuliert werden.

 

Literatur:

M. Black, Models and Metaphors. Studies in Language and Philosophy. Ithaca, N. Y. 1962;

H. Freudenthal (ed.), The Concept and the Role of the Model in Mathematics and Natural and Social Sciences. Proceedings of the Colloquium [...] at Utrecht, January 1960, Synthese 12 (1960), 123-219, separat Dordrecht 1961;

M. B. Hesse, Models and Analogies in Science, London 1963, erw. Notre Dame Ind. 1966;

dies., Models and Analogy in Sciences, Enc. Ph. V (1967), 354-359;

J. G. Kemeny/J. L. Snell, Mathematical Models in the Social Science, New York/ Waltham Mass. 1962, Cambridge Mass. 1978;

J. C. C. McKinsey/ A. C. Sugar/ P. Suppes, Axiomatic Foundations of Classical Particle Mechanics, J. Rat. Mech. and Anal. 2 (1953), 253-272;

V. A. Stoff, Modelirovanie i filosofija, Moskau/Leningrad 1966 (dt. M.ierung und Philosophie, Berlin [Ost] 1969);

P. Suppes, Studies in the Methodology and Foundations of Science. Selected Papers from 1951 to 1969, Dordrecht 1969, 1-80;

M. W. Wartofsky, Models. Representation and the Scientific Understanding, Dordrecht/Boston/London 1979.

- Stud. Gen. 18 (1965) - zahlreiche Aufsätze zum M.begriff in den Wissenschaften.

 

Gereon Wolters

 

 

913-914

Modelltheorie,

von A. Tarski (Contributions to the Theory of Models, I-II, Indag. Math. 16 [1954], 572-588) eingeführte Bezeichnung für denjenigen Teil der Metamathematik, der die Theorie logisch-mathematischer Modelle zum Gegenstand hat.

In diesem Sinne der Untersuchung des Bezugs formaler Sprachen  zu ihren Interpretationen  lässt sich die M. als wissenschaftliche Semantik auffassen; sie bildet insofern einen Teil der Metalogik.

 

Der Sache nach beginnt die M. mit dem Löwenheimschen Satz (1915); zwischen etwa 1935 und 1950 hat sie das Stadium einer festumrissenen Theorie mit geklärten Problemstellungen erreicht. Die M. liefert unter anderem grundlegende semantisch-metamathematische Begriffe wie Vollständigkeit und Definierbarkeit für mathematische Theorien sowie entsprechende Sätze und Verfahren.

Wegen der Ähnlichkeit der Methoden (z. B. direkte Produkte, Ultraprodukte, Vervollständigungen) und Inhalte (z .B. Untersuchung von Homomorphismen) sind Resultate der M. auch für die Mathematik selbst, insbesondere für die Algebra von grosser Bedeutung.

Weitere Anwendungen z. B. in Topologie und Analysis. Besonders enge Beziehungen bestehen zwischen M. und Mengenlehre.

 

Ausgangspunkt der M. ist die Erfahrung, dass unterschiedliche mathematische Gebilde wie etwa die rationalen und reellen Zahlen, jeweils mit Addition und Miltiplikation als Verknüpfungen, die gleiche Struktur (hier: Körperstruktur) aufweisen, d. h. (konkrete) Modelle dieser Struktur sind. Viele metamathematische Untersuchungen im Sinne des Hilbertprogramms lassen sich auch modelltheoretisch auf Grund einer partiellen Äquivalenz von (syntaktischer) Ableitbarkeit und (semantischer) Allgemeingültigkeit formulieren. Da ‚Allgemeingültigkeit’ üblicherweise über eine die klassische Logik verwendende semantische Wahrheitsdefinition eingeführt wird, gehen die Voraussetzung der tWahrheitsdefinitheit von Aussagen und die in der Interpretationssemantik verwendeten mengentheoretischen Hilfsmittel in die M. ein.

 

- Eines der wichtigsten und für die weitere Entwicklung grundlegenden Resultate ist der auf L. Löwenheim und T. Skolem zurückgehende Löwenheimsche Satz, der besagt, dass jede in der Sprache der Quantorenlogik 1. Stufe formulierte Theorie, die ein Modell (eventuell über einen unendlichen Bereich) besitzt, bereits ein endliches oder zumindest ein abzählbar unendliches Modell besitzt.

Weitere bedeutende Entwicklungsstufen der M. sind der (Gödelsche) Vollständigkeitssatz, nach dem (in der Quantorenlogik 1. Stufe) aus der (semantischen) Folgerbarkeit eines Satzes seine (syntaktische) Ableitbarkeit (oder: Beweisbarkeit) folgt, und der zentrale, auf K. Gödel und A. I. Malcev zurückgehende, rein modelltheoretische Endlichkeitssatz (engl. compactness theorem): Eine Satzmenge S besitzt ein Modell, wenn jede endliche Teilmenge von S ein Modell besitzt.

 

Weitere wichtige Förderung erhielt die M. durch die Arbeiten von Tarski, der vor allem den metalogischen Begriffsapparat klärte und unter anderem eine Charakterisierung definierbarer Mengen reeller Zahlen lieferte. Am Anfang der M. als eigenständiger Disziplin um 1950 stehen vor allem Arbeiten von A. Robinson, L. Henkin und Tarski.

 

Die neuere Entwicklung der M. ist insbesondere durch die Anwendung modelltheoretischer Methoden in verschiedenen mathematischen Disziplinen sowie durch ihre Erweiterung (z. B. forcing) und neue Modellbildungen gekennzeichnet. Neben sogenannten Standard-Modellen werden in der M. auch ‚Nichtstandard-Modelle’ untersucht. Diese lassen sich, in Übereinstimmung mit dem intuitiven Sprachgebrauch, allgemein als bestimmte echte elementare Erweiterungen der jeweiligen Standardsysteme kennzeichnen, die sich z. B. im Falle der Arithmetik mit Hilfe von Ultrafiltern herstellen lassen.

Ein erstes Nichtstandard-Modell der Arithmetik stammt von Skolem (Über die Nicht-Charakterisierbarkeit der Zahlenreihe mittels endlich oder abzählbar unendlich vieler Aussagen mit ausschliesslich Zahlenvariablen, Fund. Math. 23 [1934], 150-161). Auf Robinson geht die NonStandard-Analysis zurück.

 

Im mathematischen Konstruktivismus und Intuitionismus setzen Strukturuntersuchungen die Existenz konkreter Modelle der untersuchten Struktur voraus. Diese Forderung ist z. B. für Teile der auf der transfiniten Mengenlehre beruhenden transfiniten Arithmetik, soweit sie Fragen der Darstellbarkeit der vorkommenden Mengen nicht beachtet, (bislang) nicht erfüllt, wenn man ‚Existenz’ hier im konstruktiven Sinne versteht.

Diese methodologische Priorität der Konstruktion konkreter Modelle zeigt sich etwa bei der Begründung der klassischen Analysis, aufgefasst als axiomatische Theorie vollständiger, archimedisch geordneter Körper. Statt von einer vorgegebenen Struktur auszugehen, wird zunächst der konstruktive Aufbau der konkreten Theorie der Analysis in Angriff genommen, für den dann passende Axiomatisierungen angegeben werden können.

 

Literatur:

J. W. Addison/ L. Henkin/ A. Tarski (eds.), The Theory of Models. Proceedings of the 1963 International Symposium at Berkeley, Amsterdam 1965 (mit Bibliographie);

J. Barwise u. a., Model Theory, in: ders. (ed.), Handbook of Mathematical Logic, Amsterdam/ New York/ Oxford 1977, 1-313;

C. C. Chang, Model Theory 1945-1971, in: L. Henkin u. a. (eds.), Proceedings of the Tarski Symposium. An International Symposium Held to Honor Alfred Tarski an the Occasion of His Seventieth Birthday, Providence R. I. 1974, 173-186 (mit Bibliographie);

ders./ H. J. Keisler, Continuous Model Theory, Princeton N. J. 1966;

dies., Model Theory, Amsterdam/London, New York 1973, 11977 (mit Bibliographie);

L. Henkin, Systems, Formal, and Models of Formal Systems, Enc. Ph. VIII (1967), 61-74;

G. Kreisel, Modell, M., Hb. wiss. theoret. Begr. II (1980), 437-443;

ders./ J. L. Krivine, Elements de logique mathematique. Theorie des modeles, Paris 1967 ([erw.] dt. M.. Eine Einführung in die mathematische Logik und Grundlagentheorie, Berlin/ Heidelberg/ New York 1972);

A. Macintyre, Model Theory, in: E. Agazzi (ed.), Modern Logic - A Survey. Historical, Philosophical, and Mathematical Aspects of Modern Logic and Its Applications, Dordrecht/ Boston/ London 1981, 45-65;

D. Maki/ M. Thompson, Mathematical Models and Applications. With Emphasis on the Social, Life, and Management Sciences, Englewood Cliffs N. J. 1973;

J. Malitz, Introduction to Mathematical Logic. Set Theory - Computable Functions - Model Theory, Berlin/ Heidelberg/ New York 1979;

K. Potthoff, Einführung in die M. und ihre Anwendungen, Darmstadt 1981;

A. Robinson, Introduction to Model Theory and the Metamathematics of Algebra, Amsterdam 1963, Amsterdam/ London, New York 1974;

ders., Model Theory, in: H. J. Keisler u.a. (eds), Selected Papers of Abraham Robinson 11 (Nonstandard Analysis and Philosophy), New Haven Conn./ London 1979, 24-36;

W. Schwabhäuser, M., I-II, Mannheim/Wien/Zürich 1971/1972;

H. Stachowiak, Allgemeine M., Wien/ New York 1973;

R. L. Vaught, Model Theory before 1945, in: L. Henkin u.a. (eds), Proceedings of the Tarski Symposium [s.o.], 153-172 (mit Bibliographie).

 

Gereon Wolters

 


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