Home Kultur als Adaptationsprozess

 

Alexander Alland: Evolution und menschliches Verhalten. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 1970;
engl.: Evolution and human behavior. Garden City, NY: Natural History Press 1967; London: Tavistock Publications 1969.

Helmuth Plessner: Philosophische Anthropologie. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 1970.

Hans Gradmann: Menschsein ohne Illusionen - Die Aussöhnung mit den Naturgesetzen. Ernst Reinhardt Verlag, München/ Basel, 1970.

 

In der Reihe "Conditio humana“ gibt der S. Fischer Verlag seit, zwei Jahren „Ergebnisse aus den Wissenschaften vom Menschen“ heraus, und zwar vorwiegend Abdrucke von Klassikern - wie etwa J. v. Uexkülls/ G. Kriszats "Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen" (1934) oder L. S. Wygotskis "Denken und Sprechen" (1934) - oder Übersetzungen.

Bisher umfasst diese trotz Kartoneinband keineswegs wohlfeile Reihe ein Dutzend Schriften aus dem Bereich der Soziologie und Genetik, mit zahlreichen interdisziplinären Bezügen, Angegliedert .ist eine Studienausgabe der Werke Sigmund Freude in zehn Bänden, die erste kommentierte deutsche Edition.

 

Kultur als Codesystem

 

Aus dem Englischen übersetzt wurde Alexander Allands „Evolution and Human Behavior". Der Autor - Associate Professor für Anthropologie an der Columbia University, N. Y. - versucht eine Brücke von der klassischen Evolutionstheorie und Genetik zur Molekularbiologie sowie zur Kulturanthropologie und Verhaltensforschung zu schlagen. Ausgehend von Darwin und Mendel kommt er unter Beizug der Kybernetik dazu, Kultur und Verhalten als Teile desselben Evolutionsprozesses zu betrachten.

 

Einerseits ist das Werk als Lehrbuch gedacht, anderseits verficht Alland auch eigene Gedanken, wobei er vor allem auf die umweltspezifische Adaptation biologischer, sich selbst steuernder oder homöostatischer Systeme grosses Gewicht legt. Die wichtigste Adaptation des Menschen ist die Kultur; das Gehirn ist deren Grundlage.

 

Kultur ist "ein von genetischer Struktur losgelöstes Codesystem", im Zuge der gesellschaftlichen Evolution entstanden. Intellektuelle Aktivität gibt es bei höheren Tieren wie Primaten und beim Menschen; spezifisch menschlich Ist aber die Fähigkeit zur Abstraktion sowie das für ein hochgradig komplexes Verhalten entwickelte Symbolsystem (Sprache, Logik, Mathematik). Der damit erlernte ebenfalls spezifische menschliche Verhaltenscode höherer Ordnung mit Namen Kultur "lässt die Menschen als Glieder höchst differenzierter, kooperativer Gruppen leben und sich entwickeln."

 

Lachen und Weinen contra Lächeln

 

Lachen und Weinen sind menschliche Ausdrucksformen, die ihn wie Sprache und planmässiges Handeln vom Tier unterscheiden. Helmut Plessner, der bekannte Exponent der philosophischen Anthropologie, welcher 13 Jahre in Köln, 15 in Groningen (Holland), 11 in Göttingen lehrte und seit etwa 1966 in Zürich liest [er starb 1985 in Göttingen], schrieb die grundlegende , 160 Seiten umfassende Studie über "Lachen und Weinen" 1941.

 

 Diese beiden nicht symbolhaften Äusserungen einer Krise, einer Desorganisation von .Person und Körper beruhen auf dem besonderen, "exzentrischen" Verhältnis, das nur der Mensch zu seinem Körper hat. Das Lächeln (1950/53; 12 Seiten) ist demgegenüber eine symbolisch reich aufgeladene, der Sprache verwandte „repräsentative Geste", "die alles und nichts sagt".

 

Auf 65 Seiten stellt Plessner die "Anthropologie der Sinne" vor. Teile davon wurden schon 1936/37 und 1953 geschrieben und setzen die 1923 erschienene "Einheit der Sinne" fort.

Beeindruckend Ist die Berücksichtigung wenig bekannter Theorien etwa von Melchior Palágyi und Hermann Friedmann in ihrer Verbindung mit Kant, Erwin Straus und Th. W. Adorno sowie den Mobiles von Alexander Calder, der Musik John Cages, der Malerei von Hundertwasser oder LSD.

 

Das Eigenartige bei Plessner ist überhaupt immer der aktuelle Bezug .- deshalb sind von ihm auch zahlreiche soziologische Studien erschienen - und die Konsequenz seiner theoretischen Linienführung, konnte er beispielsweise doch das 1928 herausgekommene grundlegende Werk "Die Stufen des Organischen und der Mensch" 1965 in völlig unveränderter  2. Auflage erscheinen lassen.

 

Dass die Begegnung mit Edmund Husserl einen nachhaltigen Eindruck hinterliess, ist nicht verwunderlich und wird auch im 60seitigen Nachwort von Günter Dux betont.

Schade, dass im Gegensatz zu Plessners wenn auch anspruchsvoll, so doch verständlich formulierten Aufsätzen dieser Versuch einer Zusammenfassung von Plessners Anthropologie so prätentiös fachchinesisch einherstolziert. Dux konzentriert sich einerseits auf "Körper und Geist; das Problem ihres Kolludiums", anderseits auf erkenntnistheoretische, kultur- und wissenssoziologische Fragestellungen.

Ausführliche Bibliographie und Register schliessen sich an.

 

Psycho-physischer Parallelismus redivivus

 

Acht Jahre nach seinem "Rätsel des Lebens im Lichte der Forschung" legt Hans Gradmann eine neue 500seitige biologisch-psychologischphilosophische Fundierung des menschlichen Selbstverständnisses vor. Sein Ziel ist die widerspruchsfreie Beschreibung der Wirklichkeit.

 

Das Lebensgeschehen unterliegt vollständig den physikalischen Gesetzen. Lebewesen sind wie Gletscher oder Kerzenflammen offene, sich selbstregulierende Systeme. Diese Selbsterhaltung und -steuerung ist einer Kausalerklärung zugänglich, welche automatisch ablaufende Instinkthandlungen, das heisst angeborene Verhaltensweisen bei Tier und Mensch feststellt, ferner. positive und negative Rückkoppelungen, eingeschlossen die auf Erfahrung beruhenden Lernvorgänge, also Reiz- oder Reaktionsauswahl, Abstraktion und Ergänzung.

 

Nach Gradmann beruht das sinnvolle Verhalten von Organismen einzig auf ihrem sinnvollen Aufbau, also nicht auf einem übergeordneten teleologischen Prinzip.

 

Seine weiteren Postulate sind: "Die allerwenigsten der Vorgänge, die unserem Wahrnehmen, Denken und Handeln zugrunde liegen, werden bewusst erlebt." So ist auch das menschliche Denken "ein unbewusster Vorgang, der nur, wie so vieles andere, auch mit Bewusst-Sein vor sich gehen kann", und er besteht in physischen Vorgängen. Bewusstseinsvorgänge sind wie unbewusste (oder submentale Erregungen) an Nervenvorgänge gebunden, nicht eigenständig.

 

Bewusstsein als Begleiterscheinung materieller Vorgänge

 

Gradmann verficht also eine Identitätstheorie. Das Seelische ist ihm in Anlehnung an K. E. Rotschuh "das innere Erleben somatisch-nervöser Vorgänge". Die Gesetze des Psychischen sind zugleich diejenigen des Physischen, das heisst das Psychische ist, nicht eigengesetzlich.

Ein Rätsel bleibt aber bislang, wie zu einem physischen oder physiologischen Vorgang ein psychischer, als dessen Erlebnis und mögliches Bewusstwerden, hinzutritt, also wie die Bewusstseinsvorgänge mit körperlichen Vorgängen zusammenhängen. Wir können nur sagen, "dass das Seelische mit der sich entwickelnden nervösen Organisation entsteht und sich mit ihm vervollkommnet", und zwar im Umgang mit der Welt. "Das Bewusst-Sein entsteht durch das Bewusst-Werden der bereits bestehenden Beziehungen zwischen Individuum und Umwelt und nicht durch Spaltung eines mystischen Urbewusstseins."

 

Wieder einmal wird nicht scharf zwischen Leib, Körper, Seele und Geist und vielem anderen unterschieden, und kein Bezug etwa auf Ludwig Klages sowie den mittleren und späteren Edmund Husserl genommen, mit denen sich auseinanderzusetzen Gradmann wohl angestanden hätte und gut bekommen wäre.

Dafür schliesst er sich in sehr vielem Moritz Schlick an - als ob dieser keine bedeutenden Nachfolger gehabt hätte - und behauptet, dass ein widersprüchliches Verhalten der Natur unmöglich sei. "Die Natur mag beschaffen sein, wie sie will, sie lässt sich logisch, das heisst widerspruchsfrei beschreiben … Das ist aber eine Folge der Ordnung in der Natur." Also eine deutliche Frontstellung gegen alle "metaphysische Spekulation", gegen Aporien und Paradoxien.

 

Breite und langfädige sprach- und erkenntnistheoretische Exkurse geben ein verwirrendes Bild.

 

Willensvorgänge sind nichts anderes "als Triebhandlungen, die vom Erlebnis des Wollens begleitet sind", welches das Bewusst-Werden des Strebens ist. Es gibt kein bewusstes Handeln ohne Triebe. Beim Menschen gibt es ein "leitendes Prinzip", das die Triebe lenkt: nicht Kants intelligibles Ich mit dem Kategorischen Imperativ, sondern die "Einsicht" nämlich "in die Notwendigkeiten eines sinnvollen Zusammenlebens", irgendwie eine "persönliche Zielsetzung", die "auf ein bestimmtes sachliches Ziel hinausläuft".

 

Erörterungen über das Spielen, Wert- und Willenstheorien, die Willensfreiheit, das Leiden und den Tod sowie den heutigen Wohlfahrtsstaat mit seinem institutionalisierten Misstrauen schliessen an und kulminieren im letzten Satz, den Worten des Psalmisten: "Herr, wie sind deine Werke so gross und viel! Du hast sie alle weidlich geordnet und die Erde ist voll deiner Güter.“

 

Dies Buch ist bewundernswert in der Vermischung unzähliger Theorien. Der Autor sticht mit weit ausholenden Gebärden ein ganzes Wespennest von Problemen an. Doch unterliegt er selbst wohl einigen Illusionen, bringt fragwürdige eigene Gemeinplätze, gerät gegen Ende in mancherlei Widersprüche und zitiert ungenau.

Zuwenig straff gegliedert, um als Handbuch zu dienen, und zu lang, um eine genussreiche Lektüre zu ermöglichen, hinterlässt diese fleissige Zusammenstellung einen wenig überzeugenden Eindruck.

 

(geschrieben Mitte März 1971;

erschienen in den “Basler Nachrichten“, 7. April 1971)

 




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