Home Um die Zwiespältigkeit der Person

 

Zu Hans Binders Buch über medizinische Anthropologie

 

Es gehört seit Jahrzehnten zum "guten Ton", die philosophische Lehre von Ludwig Klages ab und zu kurz zu erwähnen, jedoch sofort darauf hinzuweisen, dass seine Auffassungen „kaum einen Zugang zum wirklichen Verständnis" eines Phänomens oder Problemkreises eröffneten. Dennoch habe er „wegen seiner andern grossen Leistungen in der Charakter- und Ausdruckskunde" Beachtung oder gar Anhänger in der Fachwelt gefunden.

 

Diese Mode macht stellvertretend für viele auch Hans Binder, früher Direktor der psychiatrischen Klinik Rheinau, in seiner „Einführung in die medizinische Anthropologie" unter dem an einen Pleonasmus gemahnenden Titel "Die menschliche Person" (Verlag Hans Huber, Bern, 1974) mit.

 

Umso peinlicher ist es, wenn der Autor auch diese „andern grossen Leistungen" nicht berücksichtigt, jedoch mit seinen Formulierungen oft in gefährliche Nähe des Klageaschen Gedankengutes gerät. Eine der fundamentalen Thesen von Klages lautet beispielsweise: Geist und Leben „sind weder aufeinander noch auf ein Drittes zurückführbar; sie sind „nicht aus einem Punkte zu begreifen". Und was schreibt Binder? Es gehöre offenbar gerade zum Wesen der Person des Menschen, das Geistige und das Triebhafte „als nicht auseinander ableitbare Grundmomente in sich zu tragen ... Gerade in dieser irreduziblen Zwiespältigkeit zwischen Trieb und Geist (bei Binder kursiv gesetzt) und der damit zusammenhängenden Konfliktbereitschaft, in dieser 'Gebrochenheit' des menschlichen Wesens, die aber doch in der höheren Einheit der Seele aufgehoben ist, liegt ein Grundzug jenes umfassenden Personbegriffs, den wir mit der Erörterung der verschiedensten Aspekte des Menschen schliesslich aufbauen möchten" (87f).

 

Trotz des mehrfach plakativ vorgetragenen „Urgegensatzes" von Leben und Geist anerkennt Klagen selbstverständlich die „nicht wegzuleugnende Tatsache des Zusammenwirkens von Geist und Leben im Menschen". Der Mensch weist als „willensfähige Wesenheit" eine „zwiespältige Doppelnatur" auf; das Verhältnis von Geist und Leben oder Trieb ist sowohl ein Gegen- wie Miteinander, und zwar im Menschen, in der Person. Das „persönliche Ich" ist ein „verzwistetes Doppelwesen". Klages spricht auch von der „Zwiespältigkeit der Person", der „schismatischen Dualität der Persönlichkeit" oder dem „Zwitterbereich des Personseins".

Genauso spricht Binder vom „Erleben der inneren Zwistigkeit und des inhaltlichen Antagonismus" und den Konflikten zwischen „inhaltlich entgegengesetzten Strebungen". "Jeder Mensch spürt ja, dass die sich in ihm bekämpfenden Strebungen alle seinem Gesamt-Selbst und damit einer inneren Einheit angehören, die sich bloss in sich selber im Zwiespalt befindet" (83). Die Frage bleibt: Was ist die innere oder höhere Einheit, die „eine Seele" oder das Gesamt-Selbst, die Person oder Persönlichkeit?

 

Obwohl Binders Buch die „zweite, veränderte und ergänzte Auflage" des unter dem gleichen Titel schon vor zehn Jahren erschienenen Werks ist, sind in dem 290 Titel umfassenden Literaturverzeichnis nur zwei Titel aus der Zeit nach 1964 zu finden, nämlich die 11. Auflage von  Eugen Bleulers "Lehrbuch der Psychiatrie" (ursprünglich 1916) und von Manfred Bleuler „Die schizophrenen Geistesstörungen" (1972).

Es wäre im Zuge der Ergänzung schön gewesen, wenn Binder beispielsweise das vor drei Jahren - zufälligerweise auch in Bern (bei Herbert Lang) - erschienene Buch "Das verzwistete Ich" zur Kenntnis genommen hätte, handelt es doch gerade die oben angeschnittene zentrale Problematik bei Klages ebenso detailliert wie kritisch ab.

 

Wenn dann noch als Zeugen für Ergebnisse der Tierpsychologie (31) Philosophen und Psychologen wie Plessner, Willwoll, Hessen, Remplein und Vetter (mit Werken aus der Zeit von 1928 bis 1954) angeführt, anderseits aber etwa G. Ewald, F. Alexander, H. Hartmann, P. Federn, D. Rapaport, E. H. Erikson, J. P. Guilford, R. B. Cattell, F. Schottlaender oder H. Hetzer, A. Gesell und Jean Piaget nicht berücksichtigt werden, dann kann man sich des Eindrucks nicht ganz erwehren, dass Binder sich zu sehr auf philosophische und theologische Werke statt auf empirische stützt und die neuere Literatur wenig zu Rate zieht.

 

Gegen eine solche gut 250seitige fleissige Kompilation von Ansichten über die Person aus der ersten Hälfte unseres Jahrhunderte wäre allerdings wenig einzuwenden, wenn sie auf der Basis einer einheitlichen Terminologie und in einer strengen Gruppierung nach Problemkreisen erfolgte. Da Binder jedoch vorwiegend - mehr oder weniger wörtlich - referiert, ergibt sich ein dichter Begriffssalat, der zwar flüssig und leicht lesbar geschrieben ist, jedoch den gewiss ungemein komplexen Sachverhalt im Vagen lässt.

 

Weniger, dafür Präziseres und Geordneteres wäre hier mehr gewesen.

 

Am 6.10.1974 an den Tages-Anzeiger gesandt; nicht erschienen; aber am 26.9.1975 bezahlt

 


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