Home Angst vor der Daseinsanalyse?

 

 

Die Daseinsanalyse ist eine Forschungsmethode oder Betrachtungsweise, „die beim schlichten auslegenden Hinnehmen vernommener Phänomene verweilt, bei den zu untersuchenden Sachen selbst bleibt, ihre Bedeutsamkeiten immer differenzierter zu erfassen sucht und damit in ausgezeichneter Weise 'objektiv', sachlich genannt zu werden verdient".

 

Mit diesem verfänglichen Satz charakterisiert Gion Condrau eine Richtung in der Psychotherapie, die sich vorwiegend am bald fünfzigjährigen „Sein und Zeit" des Philosophen Martin Heidegger orientiert und deren Hauptvertreter Medard Boss ist. Der Satz findet sich in der Festschrift "Medard Boss zum siebzigsten Geburtstag" (Verlag Hans Huber, Bern, 1973). Nicht findet sich darin das genaue Geburtsdatum des Jubilars, noch ein Lebenslauf. Im letzten der zwölf Beiträge gibt Condrau einzig einen referierenden Überblick über das wissenschaftliche Werk des Geehrten; ein Anhang verzeichnet sämtliche Schriften. Auffallend auch, dass in den kurzen Angaben über die elf Autoren dieses Sammelbandes die Geburtstage ebenfalls fehlen.

 

Vielleicht ist das mehr als Zufall, denn auch das theoretische Fundament der Daseinsanalyse bleibt seltsam vage. Von der Medizin führt ein Weg zur Philosophie, das hat Jaspers vorgelebt; ob ein Weg von einer spekulativ-hermeneutischen oder deskriptiv-phänomenologischen Philosophie zu einer erfolgreichen Psychotherapie führt, bleibt auch nach der Lektüre dieses Bandes fraglich. Nur weil Philosophie und Therapie es mit dem Dasein, als das sich der Mensch versteht, zu tun haben, ist die Wissenschaftlichkeit beider noch nicht erwiesen.

Bedenkenswerk und aufschlussreich ist noch nicht wissenschaftlich, auch nicht „geisteswissenschaftlich".

 

„Insofern menschliches Dasein sich dem Gewissen als Anruf und der Endlichkeit des In-der-Welt-Seins verschliesst, mit anders Worten, den faktischen Vollzug seiner je einmaligen Existenz abwehrt, wird es krank." In seiner Absolutheit genommen ein ungeheuerlicher Satz. Gilt er gleichermassen für Grippe und Leukämie, Scharlach, Hypertonie und Magengeschwüre, Flechten, Schlaflosigkeit und Parkinson? Meint Krankheit immer den Tod? Geht es dem einzelnen Menschen in der Krankheit immer um sein Sein? Ist und bleibt der Mensch wesensmässig schuldig, von der Geburt bis zum Tod?

 

Und wenn schliesslich der gebildete Laie vernimmt, dass das Kontrollieren von Haustür und Gasherd vor dem Zubettgehen eine schwere Zwangserscheinung darstellt, dann könnte er es fast mit der Angst zu tun bekommen. Gerade auch deswegen, weil in dieser ganzen Festschrift kein einziger Fall einer gelungenen Therapie vorgetragen wird; beim „heilsamen Wendepunkt" brechen die Berichte stets ab. Auch im „Fall 'Mercedes'", den Rollo May schildert, ist von keiner Nachkontrolle die Rede. Der einzige aktuelle „Fall" im Aufsatz Ramon Sarros wird mit Psychopharmaka geheilt. Medikamentöse Behandlung bezeichnet aber Paul J. Stern als "Vergewaltigung von Geisteskranken".

 

Diese Festschrift enthält viel Interessantes, aber auch viel Ungereimtes. Als Diskussionsbeitrag für die Fachwelt mag das angehen. Schade, dass es über "Sinn und Gehalt" des beachtlichen Werks von Medard Boss nicht verwertbarere Auskunft gibt.

 

Erschienen im Tages-Anzeiger, 14. Juni 1974

 


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