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A. F. Marfeld: Kybernetik des Gehirns. Ein Kompendium der Grundlagenforschung einschliesslich Psychologie, Psychiatrie, Verhaltensforschung und Futurologie. Safari-Verlag, Berlin, 1970; Rowohlt Verlag, Reinbek, 1973.

 

 

Alexander Friedrich Marfeld stellt seinen „Bericht“, der eine „grosse Überschau" sein will, unter das Motto: "Nur der informierte Mensch kann wirklich ‚Bürger’ sein. Nur der informierte Bürger kann als Mensch in seinem eigenen engeren Lebensbereich Boden unter den Füssen behalten und für sich selbst und die Gesellschaft geistig souverän bleiben, also auch verantwortlich handeln."

 

Da unser gesamtes Geistes- und Seelenleben auf chemisch-physikalischen Vorgängen beruht, aber "natürlich" viel mehr ist als eine neuro-physiologische oder bio-elektro-chemische Maschinerie, ist ein Wissen um solche Prozesse notwendig, Es steht heute fest, dass wir die Kapazität unseres Gehirns bei weitem nicht genügend ausnützen. Eine "cerebrale Leistungsentfaltung" steht uns bevor.

 

Zwischenstufe

 

Der deutsche Gehirnphysiologe Prof. Dr. Hugo Spatz meint:

"Der Mensch der Zukunft kann in der Tat sehr viel klüger und intelligenter sein, als wir uns das heute vorzustellen vermögen … Der Mensch und sein heutiges Gehirn stellen nicht das Ende der Entfaltung dar, sondern nur eine Zwischenstufe zwischen der Vergangenheit, die schwer belastet ist mit der Erinnerung an das Tier, und der Zukunft, die reich ist an hoher Verheissung."

Spatz predigt aber keine Überheblichkeit, auch nicht Gewissenlosigkeit und Gefühlskälte, sondern fordert: Der Mensch "möge bei aller Zunahme seines Wissens und seiner Fähigkeiten, besinnlich bleiben. Er möge die Kommunikation mit allen Mitmenschen erstreben. Er soll an seinem Inneren arbeiten."

 

Schädel

 

Marfeld beginnt, weil es heute anscheinend unumgänglich ist, mit Schädelabbildungen der Ur-, Früh- und Altmenschen - sinnigerweise im Text kontrastiert von Berichten über Elektrostimulation an präparierten Affenhirnen -, erwähnt die Schädeltrepanationen und Einbalsamierungen der alten Ägypter, und über Alkmaion, Hippokrates, die alexandrinische medizinische Schule und Galen geht’s halb anekdotisch, halb dokumentarisch zu Paracelsus, Vesalius und Paré. Dann werden die Namen zahlreicher. Beeindruckend ist diese hundertseitige Sammlung, wenn sie auch begrifflich und sachlich wenig Klarheit ergibt.

 

Seele

 

Ein fast so langer Abschnitt gilt der Psychologie. Marfeld behauptet: „An das Vorhandensein einer Seele kann man nur glauben.“ Verstand Kretschmer unter Seele noch das unmittelbare Erleben oder „die Welt als Erlebnis“, so fasst man sie heute als „einen substratlosen Strom inneren Geschehens“ auf - als ob das riesig neu wäre. Ob der Philosoph und Soziologe Ernst Topitsch als berufene Quelle für die „Frage nach der Seele" benützt werden kann, bleibt fraglich. Dass zwischen Seele und Geist nicht unterschieden wird, ist bedauerlich. Freud, der Schlaf und der „echte schweizerische Dickschädel“ C. G.J ung werden jedoch (letzterer zwar sehr kurz) sachgerecht abgehandelt.

 

Rationale Analyse

 

Der dritte Teil gehört „Gehirn und Nerven“:

„Das gesamte Nervensystem (also Nervenzellen mit Dendriten, Axonen und Synapsen) ist ein Gleichstromsystem, das durch Erregungen moduliert wird und Erregungen in Form von elektrischen Erregungswellen weiterträgt.“

Da nun nach Karl Steinbuch Im Gegensatz zum „Vitalismus“ die These der Kybernetik lautet, „dass das Lebensgeschehen und die psychischen (d. h. subjektiv-empfundenen) Vorgänge aus der Anordnung und physikalischen Wechselwirkung der Teile des Organismus vollständig erklärt werden können“, ist eine rationale Analyse geistiger Vorgänge mittels „Schaltbilder“ möglich.

 

Gehirn

 

Das Gehirn besteht aus 10 bis 15 Milliarden Nervenzellen (davon 90% In der nur wenige Millimeter starken Hirnrinde) und etwa 100 Milliarden Stoffwechsel- und Stützzellen (Gliazellen). Dass die Untersuchung nur schon der Architektonik des Gehirn einen grossen technischen und zeitlichen Aufwand erfordert, zeigt sich darin, dass man bei einer üblichen Schnittdicke von einem fünfzigstel Millimeter rund 15 000 mikroskopische Präparate erhält.

 

Dass eine Lokalisationslehre, welche in anatomisch unterschiedenen Hirnfeldern einzelne geistige Leistungen zu orten versucht, eine Plastizitätslehre auf den Plan rief, die behauptet, für jede einzelne Funktion müsse das Gesamthirn zusammenarbeiten, ist verständlich.

 

Weitere Wissenschaften

 

Der ausführlichen Darstellung und Beschreibung von Gehirn, Nervenzellen und Neurosekretion schliessen sich noch detailliertere Abschnitte über Psychopathologie, Psychopharmaka (40 Seiten) und Neurochirurgie an, und zwar in Form von Gesprächen mit Klinik- und Institutsdirektoren.

Schliesslich kommt die Bionik zum Zuge, die Verbindung also von Biologie und Elektronik zum Studium lebender Systeme und ihrer komplexen Funktionen. Hier spielt auch die Kybernetik herein, welche die Grundrelation des Menschen als eine im Arbeitskreis und in dem mit ihm eng verknüpften Sprach-Denk-Kreis vollzieht. Kybernetiker basteln gern Spielzeuge, die sinnvolle Verhaltensweisen und Vorstufen von Erkennen und Lernen nachahmen sollen, wie etwa die "Maus" von C. E. Shannon oder die "Schildkröte" Machina speculatrix von Draik/ Walter.

 

An die Vorstellung der Elektronischen Datenverarbeitung (EDV) knüpft das Kapitel "Der Mensch als datenverarbeitendes System - Das ewige Wunder" an. Karl Steinbuch mit seiner Lernmatrix, Helmar Frank, Norbert Wiener und Herbert Stachowiak werden beigezogen. Systemwissenschaft, Planungstheorie und Operations Research beschliessen den Band mit der Diskussion der bangen Frage, ob Orwells Zeitalter des "Big Brother is watching you" bald herankomme.

 

Spärliches Wissen

 

Sind wir "Zauberlehrlinge"? Noch ist es nicht soweit, denn unser Wissen ist nach wie vor spärlich. Am Schluss eines als Nachbericht angehängten Protokolls einer diesen Oktober [1970] abgehaltenen Neurophysiologen-Tagung (an der auch der Zürcher Konrad Akert teilnahm) heisst es nämlich:

„Höhere neurale Funktionen und ihre Störungen sind in vivo durch das Zusammenwirken unendlich vieler Elemente charakterisiert. Sie sind heute eigentlich weniger denn je übersehbar. Von einer akzeptablen Interpolation der neurophysiologischen Einzelmechanismen auf gesunde und kranke Menschen kann überhaupt noch keine Rede sein."

 

Marfeld hat "einen wahren Himalaja von Literatur ... gesichtet, gelesen und ausgewertet". Er hätte aber das Material viel mehr zusammenfassen und sinnvoll ordnen müssen. So stehen verschiedene Aussageblöcke wie Zitate, Zeitschriftenartikel, Gespräche, Tabellen, Zeichnungen, Legenden und lange Fussnoten unintegriert neben.- und hintereinander. Wurde manches zu sehr vereinfacht, wird anderes allzu kompliziert vorgebracht. Auf der einen Seite also zuviel, auf der andern zuwenig Information, mit den üblichen Ungenauigkeiten.

 

(geschrieben im Dezember 1970;

erschienen in den „Basler Nachrichten“, 9./10. Januar 1971)

 




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