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Alexander Mitscherlich: Die Idee des Friedens und die menschliche Aggressivität - Vier Versuche. Bibliothek Suhrkamp, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1969; 17. Aufl. 1993.

 

 

Der Basler Professor für Psychologie und philosophische Anthropologie Hans Kunz betrachtete schon vor über zwanzig Jahren [1946] die Aggressivität als ein grundlegendes Element des menschlichen Verhaltens: "Sie gehört als konstitutives Ingrediens zur 'affektiven Natur' des Menschen, wenngleich sie nur auf reaktive Weise zur Aktualisierung gelangt."

 

Der Sozio-Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich [1908-1982], der 1969 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt, kommt auf der Basis der Freudschen Trieblehre nicht darüber hinaus. Aggressivität ist ein vitales Grundvermögen, eine Triebausstattung - "Repräsentant der eingeborenen zerstörerischen Tendenzen" -, die zum Wesen des Menschen gehört.

Genauer: Was der Aggression als motorisch belebende Energie zugrundeliegt, ist die unbewusste Grundkraft, die wir Trieb nennen. Trieb ist ein theoretischer Begriff. Freud schrieb: "Die Trieblehre ist sozusagen unsere Mythologie. Die Triebe sind mythische Wesen, grossartig in ihrer Unbestimmtheit." Diese Triebmythologie wurde vielfach kritisiert, doch Mitscherlich erachtet sie vorderhand als legitime Arbeitshypothese mit grosser pragmatischer Brauchbarkeit.

 

Freud unterschied zwei fundamentale Arten der Triebenergie: Libido und Aggression oder "Eros" (Lebenstrieb, Liebe, Sexualität) und "Thanatos" (Todestrieb, Destrudo). Quelle der Triebe ist Immer der Organismus, der aggressive und sexuelle Spannungen von wachsender Intensität erzeugt. Trieb-Objekt ist alles, was zur Spannungsverminderung, das heisst Bedürfnisbefriedigung beitragen kann.

 

Aggressives Verhalten hat zwei Grundaspekte, deren erster Ausdruck einer primären Bedürfnisrichtung oder Triebspannung - "das Zufügen von Verletzung oder wenigstens Schmerz" - ist, und deren zweiter eine reaktive Antwort auf signalisierte Gefahr (Aussenreize) darstellt.

 

Reine Triebe erscheinen aber nur selten; sie sind meist fusioniert. "Die zwei Grundtriebe bilden vereinte Kräfte oder handeln gegeneinander, und gerade durch diese Kombination entstehen die Phänomene des Lebens" (Anna Freud). Deshalb ist es wichtig, die Triebmischungen, ihren Antagonismus und ihr Wechselspiel zu untersuchen, und zwar bei uns selbst zuerst.

 

Diese funktionelle Verschlungenheit bereitet aber der psychoanalytischen Forschung schon bei den Anfängen der Individualentwicklung Schwierigkeiten. Man kann heute nur feststellen, dass die Anpassung des Individuum schon in frühester Kindheit durch Frustrationen, Einschüchterungen und verhinderte Information fehlgeleitet wird, indem Abwehrmechanismen - beispielsweise paranoide Projektion, Regression, Realitätsverleugnung - gegen Triebregungen erlernt werden.

Das zeigt, dass die soziale Konstellation oder Aussenwelt viel prägender ist als die psychische Erbkonstitution (was in der Nähe von Uexkülls „Umweltbiologie" liegt). Die "seelische Konfektionierung" unter dem Zwang zum Konformismus ist unheilvoll.

 

Mitscherlich ist der Ansicht, dass der destruktiven Aggression auch in Zukunft nicht zu entkommen sei: "Ein gewisses Mass an frei flottierender aggressiver Aktionsbereitschaft besteht in jeder menschlichen Gesellschaft." Vietnam - das wie die Verhaltensforschung an Tieren zu erwähnen (möglichst schon auf der fünften Seite) nie vergessen werden darf - und Stalingrad zeigen überdies: "Der rücksichtslosen Verfolgung des Feindes entspricht die rücksichtslose Bereitschaft zu leiden."

 

Was ist zu tun? Die Aufgabe sieht Mitscherlich darin, dass ein hoher Grad reflektierter Selbstwahrnehmung und Bewusstseinsweite, das heisst Ich-Stärke und Ich-Kontrolle auszubilden ist, die "uns relativ angstfrei und destruktiven Triebansprüchen überlegen machen würde". Wir müssen die Aggressivität in gestaltende Aktivität sublimieren.

 

Freud betonte, dass der Zuschuss von Libido die aggressiven Impulse mildert. Damit könnte eine Umwandlung der destruktiven Aggressivität in eine "gekonnte, auf verfeinerte Triebobjekte sich richtende Aktivität" bewirkt werden, weshalb "Daseinspraktiken" zu entwickeln wären, die den Todestrieb zwingen, "in der Verschränkung mit libidinösen Objektbesetzungen ... dem Eros zu dienen". Das Objekt soll ja erhalten bleiben, nicht zerstört werden.

 

Des weiteren besteht die Bewältigung der Aggressivität in einer kritischen Realitätsprüfung und -kontrolle, die das Werkzeug des aktiven Anpassungsvollzuges ist. Hierbei bedeutet Anpassung nicht nur einseitige Akkommodation und Assimilation, sondern einen wechselseitigen Vorgang, durch den wir auch das soziale Umfeld verändern. Die denkende Anpassung muss die Triebmischung oder -legierung befördern. Voraussetzung dafür ist immer, dass wir unbeschönigte Kenntnis von uns selbst erwerben.

Was stand am Apollo-Tempel in Delphi? "Erkenne dich selbst!"

 

Für das Verstehen dieser Schrift muss man "seinen Freud gelesen haben", sonst erschrecken einen die vielen Fachwörter. Leider ist Mitscherlichs Gedankengang ungeordnet, was zu einer Klärung der doch brennend aktuellen Phänomene wenig beiträgt. Der Überwindung der Aggression wird viel weniger Platz eingeräumt als der Schilderung ihres unheilvollen Funktionierens und Wirkens.

Dass pauschal von "den" Gesellschaften, Machthabern oder Regierungen gesprochen wird, ist ungeschickt. Gerade das Verhältnis Individuum-kollektive Machtbefugnisse und Steuerung wäre doch zu untersuchen.

 

Merkwürdig berührt auch, dass von diesen vier Aufsätzen derjenige, welcher die Hälfte des kleinen Büchleins einnimmt, schon letztes Jahr in einem Sammelband der "edition Suhrkamp" erschienen ist. Nun hat man ihn mit der Frankfurter Antrittsvorlesung und zwei neuen Beiträgen garniert. Fruchtbarer wäre wohl eine durchgreifende Überarbeitung, Neugliederung und Zusammenfassung aller Aufsätze zu einem neuen gewesen.

 

(erschienen in den „Basler Nachrichten“, 12. November 1969)

 




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