Home Das Standardwerk über Gram

 

 

Der Psychiater Colin Murray Parkes meint in seiner mit "Vereinsamung" (Rowohlt Verlag, 1974) betitelten Monographie, es gebe „in der Psychiatrie nur eine einzige Funktionsstörung, deren Ursache bekannt ist, deren Merkmale deutlich sind und deren Verlauf gewöhnlich prognostizierbar ist, und das ist der Gram, die Reaktion auf Verlust. Dennoch ist dieser Zustand in der Psychiatrie derartig vernachlässigt worden, dass er im Register der grossen psychologischen Nachschlagewerke nicht einmal erwähnt wird".

 

Genaugenommen ist Gram kein Zustand, sondern ein Prozess, der drei verschiedene, sich ablösende klinische Bilder aufweist:

Betäubung,

Sichabhärmen (Verlangen),

Depression (Verzweiflung);

darauf setzt erst die Genesung ein.

 

Auffälliger als die reaktive Depression ist hierbei die Trennungsangst, die vor allem Harm- und Sehnsuchtsgefühle auslöst. Diese Gefühle sind Bestandteile einer Alarmreaktion und äussern sich in Ruhelosigkeit und der Suche nach dem Verlorenem sowie in Zorn und Schuldgefühlen. Der Verlust einer geliebten Person bedeutet einen Stress grossen Ausmasses. Er kann die zurückgebliebene Person mit einem Stigma versehen (d. h. die Gesellschaft ändert ihr Verhalten dem trauernden Menschen gegenüber) und Deprivation zur Folge haben (d. h. weitere Verluste wie Interaktion, Behaglichkeit, finanzielle Sicherheit und Status bei Witwen usw.).

 

Dies und eine beinahe verwirrende Fülle von minutiös empirisch gewonnenem Material trägt Parkes in verständlicher Sprache vor. Ausserordentlich subtil interpretiert er die Resultate. Er verzichtet auf jegliche Dogmatik und wägt Untersuchungsergebnisse, Folgerungen und theoretische Erörterungen sorgfältig ab. Voreilige Schlüsse meidet er.

 

Mit seiner enorm detaillierten Studie, an der einzig die zuwenig straffe Gliederung zu bemängeln wäre, liefert Parkes ein Musterbeispiel für die Erfassung einer psychosozialen Erscheinung: Beschreibung des Vorgehens bei einem spezifischen Forschungsprojekt, Fragebogen, Daten, Statistik, Auswertung, gruppierte Aussagen, Fallstudien, Deutung, Literaturanalyse, Hinweise. auf offene Fragen und Lücken, alles ist modellhaft vorhanden. Erkenntnisse der Gehirnphysiologie werden ebenso beigezogen wie solche der Verhaltensforschung an Tieren, Beobachtungen an Kleinkindern ebenso wie psychoanalytische Theorien.

 

Ein trotz seines leidvollen Themas erfreuliches Buch, vollgepackt mit Informationen, nüchtern und dennoch mitfühlend, umfassend und differenziert.

Besonders wertvoll ist das längste Kapitel, 35 Seiten, das Hilfemöglichkeiten für Trauernde vorstellt. Überhaupt wird, was wohl selten ist bei einem Sachbuch, die Lektüre manchem Gramgebeugten echter Trost sein.

 

Ärgerlich bleiben einmal mehr der deutsche Titel und die Untertitel. "Vereinsamung" oder "Einsamkeit" kommen im - freilich unvollständigen - Register gerade je einmal vor. Der englische lautet: "Bereavement. Studies of Grief in Adult Life" (1972). Übersetzt: Verlust, Gram. Die zwei deutschen Untertitel blasen das modisch auf zu "Die Lebenskrise bei Partnerverlust / Psychologisch-soziologische Untersuchung des Trauerverhaltens". Muss denn heute allem, also auch der Trauer, das Mäntelchen "Verhalten" umgehängt werden?

 

Ohne den letzten Absatz erschienen im Tages-Anzeiger, 6. September 1974

 

 


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