Home Ohne Bindung keine Selbständigkeit

 

 

Je weniger ein Kind im ersten Lebensjahr seine Mutter in Besitz nehmen konnte, desto schwerer fällt es ihm später, selbständig zu werden. Oder anders ausgedrückt: Je mehr eine Mutter adäquat auf die Bedürfnisse ihres Säuglings eingeht, desto eher kann sich das Kleinkind im zweiten und dritten Lebensjahr von der Mutter lösen. Diese Paradoxie, dass die Lockerung einer Bindung durch ihre Festigkeit bestimmt wird, lässt sich leichter verstehen, wenn man sich vergegenwärtigt, dass zuerst einmal ein Fundament da sein muss, von dem aus dann die Welt erkundet werden kann.

 

Und zwar „ist die Bindung des Kindes an die Mutter nicht von der Ernährung, sondern davon abhängig, wie prompt sie in der ersten Lebenszeit auf sein Schreien eingeht bzw. wie intensiv sie sich mit ihrem Kind beschäftigt, und das heisst, wie häufig das Kind im Körperkontakt mit der Mutter sein darf'.

 

Da die Mutter ihr Kind aber nicht dauernd herumtragen kann - was allerdings bei manchen Naturvölkern in Südamerika, im Fernen Osten und in Afrika sowie bei den Eskimos noch heute geschieht -, muss sie andere Kontaktformen pflegen: lächeln und plaudern.

 

Die erste Angst des Säuglinge ist also die 'Körperkontaktverlust-Angst'. Daran schliessen sich die Fremden- und hernach die Trennungsangst an. Was dabei besonders zu beachten ist: „Alle drei Angstformen sind Todesängste.“ Dabei „sind nicht nur die Ängste in den unmittelbar ersten Tagen nach der Geburt am intensivsten, sondern auch die psychische 'Lerndisposition', des heisst die .Prägbarkeit, des Kindes“. Diese Zeitphase ist „die sensibelste Phase innerhalb eines Menschenlebens“, und ausgerechnet da sind in unserer Kultur Mutter und Kind getrennt: „Unsere Kinder werden zum Schreien 'erzogen', parallel dazu vereinsamen sie immer mehr.“

 

Das ist die Quintessenz der Studie des Portmann-Schülers und Psychoanalytikers Franz Renggli (*1942), die unter dem Titel "Angst und Geborgenheit" im Rowohlt-Verlag (1974) erschienen ist. Wie der Untertitel besagt, geht es darin also um die „soziokulturellen Folgen der Mutter-Kind-Beziehung im ersten Lebensjahr".

Bereits nach psychoanalytischer Auffassung hat jede Art der Mutter-Kind-Beziehung eine spezifische Persönlichkeitsstruktur zur Folge. Renggli vertritt darüberhinaus die These, „dass die verschiedenen Charakterstrukturen mit den entsprechenden Abwehrmechanismen, Bedürfnissen und Ängsten nicht nur bei den einzelnen erwachsenen Mitgliedern des betreffenden Volkes gefunden werden, sondern auch in ihrer Kultur als Ganzem, das heisst in ihrem religiösen Vorstellungen, Idealen, Zeremonien, Institutionen, Gesetzen usf."

 

Diese Ansicht erhärtet er durch eine ausführliche Untersuchung von zwei Inselvölkern in der Südsee und eines Bauerndorfs in den Bergen von Mexiko. Die detaillierten Schilderungen der Kinderbehandlung sowie des Alttagslebens und der sozialen Strukturen bei diesen Volksgruppen, die je 250 respektive 4000 Mitglieder zählen, füllen mehr als die Hälfte des Buches.

Als wichtiges Ergebnis hält Renggli eine Reziprozitätsbeziehung fest: Die Behandlung der Kleinkinder ermöglicht eine ökologische Anpassung des Volkes; umgekehrt rufen ökologische Veränderungen nach neuen Weisen der Kinderbehandlung, womit eine Neuanpassung versucht wird.

 

Trotz dem aufschlussreichen ethnologischen und stammesgeschichtlichen Material - vor allem über Affen -, das Renggli aus der Literatur zu Tage gefördert hat, ist es bedauerlich, dass er von den 240 Seiten Text nur gerade sechs Seiten und einzelne verstreute Sätze dem „Kind in unserer Kultur", den Arten und Folgen der Kinderbehandlung in den Hochkulturen. widmet. Gerade dies aber würde Eltern in hiesigen Breiten brennend interessieren.

Freilich musste dann auch auf die Rolle des Vaters eingegangen werden. Renggli läset ihn sosehr ausser acht, dass im Stichwortregister nur zu lesen ist: "Vater, 48, 50 (Schimpanse)".

 

Erschienen unter dem Titel  „Probleme von Angst und Geborgenheit – Charakteristische Spätfolgen der Mutter-Kind-Beziehung“ im Tages-Anzeiger, 17. Januar 1975

 


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