Home Aggressivität als Folge der Übervölkerung

 

Claire Russell & William M. S. Russell: Unsere Vettern, die Affen. Ursprung und Erbe der Gewalt. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg, 1971;
engl.: Violence, Monkeys and Man. London: Macmillan 1968.

 

Warum werden die armen Affen eigentlich immer mit der Aggressivität in Zusammenhang gebracht?

Seit Edgar Rice Burroughs "Tarzan" wissen wir doch, wie gentlemanlike sich diese bis zu 200 kg schweren behaarten Ungeheuer benehmen können. In letzter Zeit haben mehrere Frauen z. T. jahrelang mit Affen zusammengelebt und wussten nur Gutes zu berichten. Damit ist die Theorie Konrad Lorenz', wonach Aggressivität Mensch wie Tier angeboren sei, ins Wanken geraten.

 

Die Autoren Russell - ein britisches Ehepaar - rütteln nun weiter an dieser Theorie. Sie befinden, dass Aggressivität nicht ein Trieb, sondern eine Reaktion auf Stress-Situationen, also umweltabhängig sei, "Teil eines Reaktionskomplexes ..., dessen einzige Aufgabe darin besteht, die Bevölkerung zu reduzieren, wenn die Voraussetzungen für ein gedeihliches Weiterlebet nicht mehr gegeben sind".

 

Gewalttätigkeit wie Krieg in der menschlichen Gesellschaft liegt dasselbe zugrunde: die Reaktion auf unerträgliche Frustration, vorab wirtschaftliche Notlagen. Seit Jahrtausenden gilt die Devise "Brot oder Blut". Weshalb aber die beängstigende Zunahme der Gewalttaten vor allem Jugendlicher in unserer heutigen Überflussgesellschaft, in Ost und West? Zwar gibt es immer noch eine grosse Zahl Entrechteter und Armer ("Geld ist - wie Mist - nur nützlich, wenn es gleichmässig verteilt ist", sagte schon Francis Bacon um 1600), doch das reicht nicht zur Erklärung aus. Hiezu müssen die Affen herhalten.

 

In freier Wildbahn verhält sich jede Affenart friedlich und harmonisch, erst im Gehege oder Zoo wecken besondere Belastungen Aggressionen. Das hat intensive Verhaltensbeobachtung über Tausende von Stunden eindeutig gezeigt. Worin unterscheiden sich die Umweltbedingungen im Zoo von denen in der freien Natur? In erster Linie durch den knappen Raum. Die Affen können keine Wanderungen mehr unternehmen; die Bedingungen entsprechen denen des Schlaf-, Rast- und Futterplatzes in der Wildnis.

 

Der Stress der Übervölkerung, wozu häufig noch gegenseitige Fremdheit und Weibchenmangel kommt, pervertiert das Sozialverhalten: Buhlerei und Machtkämpfe, Autokratie und auf Abhängigkeit beruhender Status sind die neuen Kennzeichen - ähnlich beim Menschen an Königshöfen (Henry VIII.). Die Aggressions-Ketten reissen nicht mehr ab: Strafe, Drohung oder Ärger werden weitergereicht, man nennt das den "Abreaktionsaffekt". Er kann sich über Generationen hinziehen.

Beim Menschen wiederum bieten sich als Ergebnis langanhaltender Stress-Situationen nur zwei Alternativen an: Bürgerkrieg (Klassenkampf oder Kampf gegen Minderheiten, Aussenseiter) oder Krieg (gegen "Fremde"). In den USA versuchte man, Aggressivität zu exportieren, indem man die "Farbigen" nach Vietnam schickte. Doch Krieg verschärft nur den Stress: Bürgerkrieg und Krieg lösen einander im Turnus ab.

 

Sichern in der freien Wildnis Hierarchie und Statusabfolge nicht nur das Wohl der Gruppe, sondern auch Wohlbefinden und Entfaltung des einzelnen, so haben in den überbevölkerten Zookolonien die krassen "sozialen Unterschiede" auch auf den physischen Zustand der Affen Einfluss: Je niedriger der Rang umso schwächlicher und weniger genährt und gepflegt sind die Tiere. Hast und unruhiger Schlaf bewirken elendes Aussehen und nervliche Störungen. Die Furcht der Unterprivilegierten führt zu einem "Rückzugsverhalten" - man nimmt nichts Unangenehmes zur Kenntnis - oder zu "Übersprungshandlungen", wie z. B. pseudosexuelles Verhalten bei Tier und Mensch: unterwürfiges Präsentieren, lustloses Aufreiten, oft kombiniert mit Aggression. Kurz: Raumnot, Übervölkerung, soziale und wirtschaftliche Ungleichheit, Perversion, Gewalttätigkeit und Tyrannei sind tief ineinander verwoben.

 

Folgen der Zunahme von Menschen sind ein Überhang an ungelernten und schlecht ausgebildeten Arbeitskräften und Mangel an qualifiziertem Personal (Ärzte, Schwestern, Lehrer, Wissenschafter) sowie die Verkehrsmisere, ferner die Steigerung der Lebenshaltungskosten und Geldentwertung und schliesslich die Einschränkung der individuellen Freiheit im Verein mit wachsender sozialer Ungleichheit - auch im Ostblock.

 

Inquisition und Hexenprozesse bildeten früher das Abreaktionsverhalten der Massen; heute herrschen das organisierte Verbrechen (Mafia), die Rauschgiftsucht, Kriege und Ernährungskrisen in den Entwicklungsländern.

 

Wohnungsnot und fehlender Komfort, mangelnde Ernährung und fehlendes körperliches Wohlbefinden (z. B. Spielecken und -plätze für Kinder) sind Hauptfaktoren für das Ansteigen der Kriminalität. Wenn der "private Bereich", die ungestörte und lärmfreie Intimsphäre zu Hause oder am Arbeitsplatz nicht mehr gewährleistet ist - die erst eine frei gewählte Geselligkeit erlaubt -, dann entsteht Aggressivität.

 

Fazit: Geburtenkontrolle tut not. Wichtige Etappen auf diesem Weg sind die Auflösung der Grossfamilien und Spätheirat. Wenn das so einfach wäre...

 

An diesem Punkt bricht das Buch der Verhaltensforscher Russell ab. 300 Seiten interessanten und neuen Materials, ein Durcheinander - man kann es auch "Parallelen" nennen - von Tierbeobachtungen und Menschheitsgeschichte, ohne strengen Aufbau und klare Linien, endet abrupt mit der "Wahl zwischen Paradies und Hölle".

 

Wie wenig das, es sei betont, ausserordentlich lesenswerte Werk - bei dem Titel und Umschlag das Blödeste sind, dafür der Zürcher Mantelpavianforscher Hans Kummer ausgiebig Beachtung erfährt - durchgedacht und gearbeitet ist, zeigt der 40seitige "Anhang" von fünf weiteren Kapiteln, unter anderem über Ameisen, Ratten, Massenmörder, das Naziregime und Elisabeth I.

 

Das ist ja stets das Kreuz mit den Forschern: Die aus Untersuchungen an Tieren oder Mikroorganismen oder Makromolekülen erarbeiteten zahlreichen "Facts" lassen sich nicht leicht und vor allem selten überzeugend zu Richtlinien für die hochkomplexe und flexible menschliche Gesellschaft umgestalten. Einsicht und Moral sind so einfache Angelegenheiten nicht.

 

Ach wären wir doch Affen mit genügend freier Wildbahn!

Unterscheidet sich denn der Mensch überhaupt vom Tier?

 

(erschienen in den „Basler Nachrichten“, 11. November 1971)

 




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