Home Positive Funktionen und Kontrolle der Aggression

 

Anthony Storr: Lob der Aggression - Erkenntnisse der Verhaltensforschung. Econ-Verlag, Düseldorf, 1970;
engl. Human Aggression. London: Allen Lane/ New York: Atheneum 1968; Harmondsworth: Penguin 1971; erneut 1992.

Irenäus Eibl-Eibesfeldt: Liebe und Hass - Zur Naturgeschichte elementarer Verhaltensweisen.  Piper-Verlag, München, 1970; zahlreiche Aufl. bis 1998.

 

Warum ist gerade der Mensch in seinen Extremen das bestialischste Lebewesen? Ist Aggressivität angeboren - als "Todestrieb" - oder reaktiv, d. h. beispielsweise durch Frustration bedingt oder gar erlernt? Richtet sie sich zuerst gegen die eigene Person und erst in zweiter Linie gegen andere und die Welt überhaupt? Kann und soll man sie beseitigen (mit Gewalt unterdrücken) oder durch Liebe ausgleichen, modifizieren oder wenigstens die sie akzentuierende Angst verringern?

 

Solche Fragen beschäftigen uns, seit Sigmund Freud zwischen 1915 und 1920 eine Theorie der Aggressivität ausgearbeitet und seine Nachfolgerin Melanie Klein die These vertreten hat, bereits vor oder seit der Geburt herrsche im Säugling und seiner Phantasie "ein naturgegebener Widerstreit zwischen Liebe und Hass".

 

Die Ansicht des britischen medizinischen Psychotherapeuten Anthony Storr [1920-2001] ist, dass der Aggressionstrieb angeboren und biologisch wertvoll sei, also zahlreiche positive Funktionen habe. Der Mensch hat und braucht ihn - obwohl er beklagenswerte Auswirkungen haben kann - zum Überleben, für seine Entwicklung und Unabhängigkeit sowie die Gestaltung und Beherrschung der Umwelt. Er hat also ein Janusgesicht. "Es ist ein unseliges Paradoxon, dass gerade die Eigenschaften, die zu dem überragenden Erfolg des Menschen geführt haben, ihn am ehesten auslöschen können".

 

Fehlende Mutterliebe ist erstaunlich schädlich

 

Tiere töten äusserst selten und dann fast nur aus Fressgründen. In ihrem Reich besteht Aggression vorwiegend in der Form ritualisierten (sexuellen) Wettkampfs, welcher der Revierabgrenzung und der sozialen Rangordnung (d. h. dem Zusammenhalt und damit Schutz der Gruppe) dient. Ähnliches lässt sich beim Menschen in Not- und Krisensituationen beobachten.

Da er aber mehr als das Tier auf Individualität hin gerichtet ist, besteht seine Besonderheit in einem ständigen Wechsel zwischen Anklammerung und Zusammenschluss einerseits - mit den Folgen: Bestätigung und Sicherheit, aber Einengung und Abhängigkeit - und Absonderung, Widerspruch, Umwelterkundung und Bewahrung der Eigenpersönlichkeit - mit den möglichen Folgen: (schizoide) Isolation und Depression - anderseits.

 

Eingehend befasst sich Storr deshalb mit der Depression als Ausdruck oder Begleiterscheinung gehemmter oder verdrängter aggressiver Impulse. Fehlende Muttergüte in der Kindheit ergibt später Angst vor Liebesentzug. Kommt nachtragende Rachsucht hinzu, wird Hass daraus. Bei der paranoiden Projektion wird die Feindseligkeit im andern - im Sündenbock - gesehen. Verbunden mit der nur menschlichen Identifikationsfähigkeit - den Schmerz anderer nachzuempfinden (was auch Barmherzigkeit erlaubt) - wird das alles zur beispiellosen Grausamkeit.

 

Dies schlummert in mehr oder minder ausgeprägtem Grad in allen "normalen" Menschen. Kriminell jedoch sind die Psychopathen; bei ihnen paart sich Brutalität mit Missachtung der Wahrheit und dauernder Unfähigkeit, spontane Impulse zu kontrollieren: diese schlagen sofort in - nach aussen gerichtete - Tat um. Harte Strafen nützen da nichts.

Erziehung braucht eine abgewogene Mischung von Härte und Milde. Weltpolitisch gesehen scheinen totale Abrüstung und Weltregierung unmöglich. Gegenseitige Absprachen und sinnvolle Wettbewerbe mit Spielregeln - aus der Einsicht heraus, dass der "Gegner" uns ähnlich ist und mit denselben Schwierigkeiten zu "kämpfen" hat wie wir - sind Rettungsmöglichkeiten.

Als Hindernisse stehen dem - neben der Projektion - entgegen: die gigantische Bevölkerungsvermehrung und regionale Ballung, die Möglichkeit des Tötens aus immer grösserer Ferne, die Zunahme von vermassenden Grossbetrieben sowie Machtkonzentrationen und der steigende Unterschied zwischen Reich und Arm.

 

Dieses Buch ist knapp, einfach und verständlich geschrieben, mit einem Wort: ausgezeichnet (fragwürdig ist allein das 7. Kapitel über Mann und Frau). Es enthüllt ein aussergewöhnlich reales und klares Denken.

 

Ritualisiertes Gebaren in allen Kulturen

 

Von Vorträgen her bekannt ist der Wiener biologisch-vergleichende Verhaltensforscher Irenäus Eibl-Eibesfeldt [* 1928], der, unterstützt von Konrad Lorenz, oft zusammen mit Hans Hass, filmend die ganze Welt bereiste.

Diesmal untersucht er, wie Aggression - obwohl angeboren und notwendige Funktionen erfüllend, leicht zu pathologischer Entartung neigend - kontrolliert wird. Hilfreich sind hiefür die "bindenden Mechanismen" aus ihren "natürlichen Gegenspielern", den "libidinösen Kräften" (Freud), also die "ebenso tief verwurzelten Neigungen zur Geselligkeit und zum gegenseitigen Beistand" (die schon im Tierreich zu Gruppenbildung führen).

 

Mit einer reichen Fülle von Beispielen - Lachen, Grüssen, Imponieren, körperlicher Kontakt, usw. - weist er nach, dass es nicht nur bei Tieren, sondern auch beim Menschen angeborene Verhaltensmuster gib: Erbkoordinationen, Auslösemechanismen, Antriebe zu Aktivität und Suchen sowie Lerndispositionen. Sind bei den Tieren die Ablaufskontrollen "angeborenermassen zugeordnet", so werden sie beim Menschen durch kulturelle - d. h. erlernte und je verschiedene aber doch ähnliche - ersetzt.

 

Stammesgeschichtliche und ontogenetische Ritualisierung wird von traditioneller überlagert und erhält Symbolfunktion. "Wie die tierischen Ausdrucksbewegungen, so sind auch die menschlichen Riten im Grunde Signale. Sie signalisieren Macht, Unterwerfung, Freundschaft und dergleichen mehr."

Nach genauen Regeln ablaufende Turnierkämpfe dienen zur Abreagierung des spontan aktivierten Aggressionstriebes oder zur Entladung bei Stau. Bedingungen zur Aufstellung einer Rangordnung sind bei höheren Wirbeltieren zusätzlich soziale Eigenschaften und individuelle Erfahrungen.

 

Bindende Mechanismen bei Tier und Mensch

 

In seinen lebhaften, anschaulichen und ausserordentlich informativen Ausführungen geht Eibl-Eibesfeldt weiter auf die vielen - vorwiegend angeborenen - Möglichkeiten der Aggressions-, respektive Angriffs- und Tötungshemmung ein, wozu Beschwichtigung, Demut, Kontaktbereitschaft und Mitleid gehören.

Dem stehen leider Verteufelung des "Feindes", Autoritätsgehorsam, Loyalität und Fernwaffen gegenüber.

 

Breit werden die geselligen Mechanismen dargestellt. Die Liebe ist kein "Kind der Aggression" (Lorenz), sondern entstand mit der Brutpflege und mit dem über den Fluchttrieb motivierten, mit Angst verbundenen Kontaktstreben: der Suche nach schätzender Geborgenheit. Wichtig ist: "Die Liebe wurzelt nicht in der Sexualität, bedient sich ihrer jedoch zur sekundären Stärkung des Bandes", d. h. das Geschlechtliche hat - vor allem bei Primaten - nicht nur Fortpflanzungs-, sondern auch partnerbindende Funktion. Das hat sich noch nicht überall herumgesprochen.

Gemeinsame Verteidigung oder Aggression stiften dann den Zusammenhalt von Gruppen (Kampfgemeinschaften). Bündnisbestärkend sind Essen, Feste und gemeinsame Trauer.

 

Beobachtungen an Kleinkindern zeigen Kontaktinitiative, Fremdenfurcht und Bevorzugung einer einzelnen Person (hierzu gehören auch die Objektprägungen). Werden solche und andere Eigenheiten zum Beispiel in Heimen oder Kommunen gestört, entstehen statt des Urvertrauens Selbstbezogenheit, Angst und Misstrauen.

 

Beim Heranwachsenden steigt das Verbundenheitsgefühl mit der Zunahme der Kommunikationsmöglichkeiten: "Nachrichtentechnik und Reisefreudigkeit fördern die weltweite Verbrüderung". Das führt gleichzeitig "zu einer gewissen Relativierung der Werte (Traditionen, Autoritäten, sexuelle Normen, Familie) und im positiven Sinne anderen Wertsystemen gegenüber zur Offenheit".

 

Unser heutiges Problem ist das Leben und die Entfaltung in der anonymen Grossgesellschaft. Für die Bewältigung des Generationenkonflikts wie für die Erziehung stehen uns "dialogische Auseinandersetzung", Beachtung und Pflege der Mutter-Kind-Beziehung - als "Kristallisationskern der menschlichen Gemeinschaft" - und Förderung persönlicher Bekanntschaft zur Verfügung.

 

Dieses fast handbuchartige, hochinteressante, dabei leicht lesbare und erst noch illustrierte Werk stellt eine intelligente, glückliche und umfassende Synthese von neuesten Erkenntnissen der Ethologie und des biologischen und kulturellen Vergleichs dar; auch Anthropologie, Psychologie, Ethnologie und Soziologie finden Berücksichtigung.

 

Zwei vortreffliche, aktuelle und klärende Bücher, die einander fruchtbar ergänzen - nichts beschönigend, aber Hoffnung weckend und unterstützend.

 

(erschienen in den „Basler Nachrichten“, 15./16. August 1970;

unter dem Titel: „Verhaltensforschung und Aggression“

in der Neue Berner Zeitung, 19./20. Dezember 1970)

 




Return to Top

Home

E-Mail



Logo Dr. phil. Roland Müller, Switzerland / Copyright © by Mueller Science 2001-2016 / All rights reserved

Webmaster by best4web.ch