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Roderich Warkentin: Gehirne für die Zukunft - Explosion der Intelligenz. Nymphenburger Verlagshandlung, München, 1970.

 

Den Kybernetiker Roderich Warkentin beschäftigt die Mechanik des Denkens. Die kleinsten Einheiten des Gedankens sind Signale; als Computer-Codierungseinheiten heissen sie „bits“ (Spannungsimpulse, die zu Codes zusammengefügt werden, aus denen Sinnzusammenhänge entstehen).

 Die Grundlage des Denkens besteht in der Reflexbildung, also in Aufnahme, Speicherung oder Verarbeitung und Ausgabe von Information.

 

Was das Gehirn vom Computer unterscheidet ist, dass in ersterem die Funktionen viel weniger getrennt sind: Es ist unübersichtlicher und universaler (seine Kapazität entspricht Milliarden von Gittern).

"Computer und Gehirn sind durchaus verschiedene Apparate für durchaus verschiedene Aufgaben. Der Computer vermag das Gehirn zwar in ständig wachsendem Grade zu ersetzen, aber seine wichtigere Aufgabe liegt darin, es zu ergänzen" und mitzuhelfen, seine Leistungsfähigkeit zu vergrössern - denn seine Möglichkeiten sind unbegrenzt.

 

Mängel, die wir unserem Verstand zuschreiben, sind nicht Mängel der Konstruktion unseres Gehirns - die nämlich vollkommen ist -, sondern der Ausbildungsmethoden. "Wir müssen uns demnach um die Perfektionierung künstlicher Speicher bemühen und das Gehirn für ihren Gebrauch schulen.“

 

Unterbewusstsein als Speicher

 

Auch Ergebnisse psychologischer Forschung zeigen die Bedeutsamkeit der Erziehung. "Man fand, dass die Höhe der Intelligenz weit mehr durch die geistige Schulung des Kleinkindes bestimmt wird als durch die ererbte Anlage." Wichtig ist, dass die Lerninhalte im richtigen Zeitpunkt eingegeben werden. Das dritte Lebensjahr, in dem das Kind zu sprechen beginnt, ist besonders entscheidend: "Das Gehirn, das nicht rechtzeitig auf Interesse und Lernen programmiert worden ist, verliert allmählich die Fähigkeit dazu."

 

Da die Korrektur von Rechen- und Programmierungsfehlern wünschenswert ist, müssen "von frühester Jugend an fehlerfreie Modelle des Denkens und der Wirklichkeit in das Gehirn eingegeben werden. Zu viele nicht beseitigte Unklarheiten und Widersprüche machen den Aufbau von zutreffenden Normen unmöglich." Betrüblich ist, dass gerade die - sehr lernwilligen - tiefen Gehirnzentren durch die Forderungen unserer Gesellschaft und Zivilisation unterdrückt und nur äusserst unzureichend trainiert werden.

Hinzu kommt die Vermutung, „dass der Tiefenspeicher bereits Erinnerungen aus der frühesten Existenz festhält und alles, was der Säugling hört, alle guten und schlechten Witze, alle Segenswünsche und Flüche, aufzeichnet“ (dasselbe gilt auch beim Erwachsenen in Schlaf und Narkose).

Die „ersten Regungen des Säuglings sind die Grundlagen aller späteren Intelligenz. Wie freut er sich, wenn er strampeln und sich anklammern darf … Eine glückliche Jugend bedeutet Ermutigung vom ersten Tage an.“

 

Superintelligenz und Übermensch kommen kaum

 

„Intelligenz entsteht nicht durch Speicherung, sondern durch Auswertung von Daten. Nicht Wissen ist Macht, sondern die Fähigkeit, Wissen in Wirkung umzusetzen … Intelligenz bedeutet Schärfung des Blicks für die Landschaft des Fortschritts, durch die wir ziellos taumeln, obwohl wir wissen, dass wir uns am Rande eines Abgrunds bewegen."

 

Dies einige Fragmente aus der Materialfülle der beeindruckenden ersten Hälfte des Buches. Solange der Autor von Gehirnphysiologie und Computertechnik spricht, geschieht das hochinteressant, knapp aber profund. Nach dem Wechsel ins Pädagogisch-psychologische beginnt jedoch das Schwimmen. Gewiss muten unsere derzeitigen Unterrichtsmethoden "primitiv und ärmlich" an, täte Reformpädagogik, "Entrümpelung der Lehrpläne", programmierter Selbstunterricht, Teamwork, Wettbewerb, usw. not, doch die Krux ist der sinnvolle Aufbau von Lehrmitteln, -methoden und -programmen, Bibliotheken und Dokumentationen. Eine nicht zu unterschätzende Barriere bilden zudem Gesetzgebung, Ämter, Beamte, mangelnde Kompetenz und Koordination, ganz abgesehen vom Mangel an qualifizierten Mitarbeitern, Geld und Zeit.

 

Warkentin hat enorm viel gesammelt, aber nicht verarbeitet. Resultat: ein unhomogenes Buch mit lange aneinandergereihten Katalogen von Hypothesen, mehr oder weniger gesicherten Erkenntnissen, von Forderungen und Plänen gewaltigen Umfangs, aus denen sich Widersprüche zuhauf ergeben.

Der momentan blütentreibende Worte-statt-Taten-Trend zeigt sich auch hier in "sollte", "müsste", "könnte". Das Allerschwerste ist ja immer noch, selbst zu tun, was man als notwendig und richtig anerkennt und postuliert.

Schade um den vielversprechenden Ansatz. Zunehmende Skepsis drängt sich auf. Dennoch mag das Buch Erziehern, jungen Eltern und solchen, die es werden wollen, manche Anregungen geben.

 

(erschienen in den „Basler Nachrichten“, 22. Juli 1970)

 




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