Home Ein wunderliches Tier - der Mensch

 

Philip Wylie: Das Wundertier - Der Mensch neu gesehen. Econ Verlag, Düsseldorf und Wien, 1970;
engl. The Magic Animal. Garden City, N.Y.: Doubleday 1968.

Victor Ferkiss: Der technologische Mensch - Mythos und Wirklichkeit. Wegner Verlag, Hamburg, 1970;
engl.: Technological Man. The Myth and the Reality. London: Heinemann /New York: Braziller 1969; New York: New American Library 1970.

J. Glenn Gray: Homo furens oder Braucht der Mensch den Krieg? Wegner Verlag, Hamburg, 1970;
engl.: The Warriors. Reflections on Men in Battle. New York: Harcourt, Brace 1959; erneut, mit einer Einleitung von Hannah Arendt, New York: Harper & Row 1967; Nachdruck Lincoln, Neb.: University of Nebraska Press 1998.

 

 

Der Journalist und Schriftsteller Philip Wylie [1902-1971] schlägt, wie Konrad Lorenz im Vorwort zugibt, "die Moralpauke in unmissverständlichen Tönen". Wylie ist ein Fürchtenichts, Bilderstürmer und Prediger in der Wüste, der nichtsdestotrotz den ideologischen Augiasstall ausmistet, indem er mit dem Kopf durch die Wand rennt. "Der Mensch hat es verdammt nötig, sich neu zu beurteilen", denn er "ist das relativ unwissendste Exemplar seiner Spezies, das jemals existierte".

Die vom Affen abstammenden Menschen sind Tiere, "Tiere, die den Gebrauch des Gehirns besonders entwickelten und sodann ihren Verstand dazu benutzten, sich die Illusion zu erschaffen, dass sie keine Tiere seien oder dass sie Supertiere seien".

 

Das Zivilisationswalzwerk

 

Wylies neue Religion beruht auf Wahrheit, Liebe und Anständigkeit. Wylie stösst manchmal offene Türen ein, ist anthropomorph und empedokleisch (samt Yin und Yang) ausgerichtet, unvertraut mit der seelischen Lage heutiger Menschen sowie pauschal und ungenau (wie auch der Übersetzer). Seinen vielen autobiographischen Einsprengseln zufolge war er zeitlebens ein Streiter gegen Konvention und Dogmatismus, akademische Farcen und Fiktionen, Selbstverblendung und pervertierte Ethik, Mythen und Wertsysteme, auch gegen Glauben, Christentum und andere qualvolle Repressionsmaschinerien.

Er fordert ein Denken in neuen Kategorien, was beispielsweise lehrt, die Zeit als Territorium zu sehen. Humorvoll und hart, freimütig und verbittert stürmt er quer durch Biologie und Verhaltensforschung gegen die Ausbeutung der' Natur an. Er liebt die Kreatur und leidet am Menschen...

 

Seiner verwirrenden 350seitigen Tirade auf das absurde Zivilisationswalzwerk, das uns bald plattdrückt, mangeln Glanzlichter echten philosophischen Tiefsinns und philosophischer Prägnanz nicht. Es heisst da etwa: "Das Leben ist ganz einfach - und es ist ungefähr eine Million Mal schwieriger, ein wirkliches Leben zu führen, als du glaubst." Oder: "Obszönität ist wie die Schönheit: Sie entsteht und existiert allein im Auge des Betrachters" - worauf vier leere Seiten folgen, wohl unbeabsichtigt.

 

Ist Wylie ebenso anmassend wie die Irrtümer, die er anprangert? Öffnet er uns mit seinem Wettern, das kaum Ursachen auf den Grund geht, die Augen? Ob wir Europäer besser (dran) sind als die Amerikaner?

 

Die Menschheit als Totalversager

 

Mit der Beziehung Technologie und Gesellschaft  sowie Politik schlägt sich Victor Christopher Ferkiss, Professor für Politische Wissenschaften an der Georgetown University (USA), herum.

Er verstrickt sich nicht nur in Kulturgeschichte - von Mellaart bis Arthur C. Clarke - und Philosophie, sondern auch in Tautologie: "Alles, was wirklich ist, ist Realität." Damit meint er beispielsweise den Astronauten, der einem Computer ähnelt, selbstbeherrscht und ein konventionell-langweiliger Bürger ist, erschreckende Maschine und Mensch ineins: Mythos wie Realität.

 

Das westliche Christentum ist "eine der Wurzeln der neuen, auf Manipulierung und Beherrschung der Welt ausgerichteten Haltung, die für den Aufstieg des Industrialismus die grundlegende geistige Vorbedingung war". Die industrielle Gesellschaft basiert vorwiegend auf der Entdeckung und Verwendung .neuer Energiequellen.

 

In diesem hergebrachten Stil überschütter uns Ferkiss mit brauchbarer Kulturkritik und -Soziologie, umsummt von viel Zukunftsmusik.

 

Die Amerikaner sind heute vom beschleunigten Wandel berauscht (vgl. Tofflers "Zukunftsschock"). Man glaubt jedoch schon seit Jahrtausenden, dass die Zukunft "besser" sei; kommt sie tatsächlich, erkennt sie niemand. Vom Zukunftsmythos delirierend, übersieht man Tagesprobleme. Ein technologischer Wilder Westen könnte bevorstehen, mit Anarchie und Gewalttätigkeit statt Planung und infolge von Kommunikationsschwierigkeiten ohne zentralisierte Steuerung, Verantwortung und Rationalität.

Schon jetzt erliegen wir erschreckender Hilflosigkeit; kein Lebens-Leitbild mehrweit und breit,

 

Ferklss' Tatsachensuppe mit Wissenschaftseinlauf bietet ein Sightseeing von Aristoteles über das automatisch sterilisierte Motelzimmer zu den Kyborgs, von der Tiefsee zum Schwarzen Markt, von den Janitscharen zu CIA, LSD, DNS, KZ und NASA, von Che Guevara zu Elektronik, Umweltvergiftung, schmutzigen Witzen und Biogenetik.

 

Der technologische Mensch, wie Ferkiss ihn sehen möchte, existiert noch nicht, der bürgerliche wütet weiter und droht, "die Identität der Spezies Mensch zu zerstören“. Wenn der Mensch die bereits einsetzende existentielle Revolution überleben soll, brauchen wir eine neue Philosophie, die aus dynamischen Naturalismus, Ganzheitstheorie (prozessualem Holismus oder Universalismus) und Immanentismus (symbiotischem Panpsychismus) zusammengemengt ist.

 

Diese beiden Werke dezidierter Vernunft sind einander sehr ähnlich. Derselbe Verdacht trifft auf sie zu: Vielleicht bringt, wer vieles bringt, niemandem etwas. Wer schaut schon gern, auf einem Informationskarussell reitend, in ein Kaleidoskop kakophonischer Gegebenheiten?

 

Ares und Aphrodite: Krieg und Sinnlichkeit

 

"Homo furens" blieb bei seinem Erscheinen in den USA 1959 unbeachtet und fand nur wenige Leser, denen es aber eine persönliche Entdeckung bedeutete. So berichtet Hannah Arendt im knappen, zusammenfassenden Vorwort.

 

Ein Dutzend Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg hat der Philosophieprofessor Jesse Glenn Gray [1913-1977] , der am 8. Mai 1941 mit derselben Post Einberufungsbefehl und Doktorurkunde erhielt, seine Kriegsaufzeichnungen und Briefe - vorwiegend aus Frankreich, Italien und Deutschland, als sprachenkundiges Mitglied. der Spionageabwehr - wieder gelesen und einen einjährigen Aufenthalt in der Bundesrepublik für Gespräche und das Studium von Kriegsliteratur benützt.

 

Viel mehr als ein Erlebnisbericht ist entstanden, Intelligent und belesen bringt Gray Empedokles, Tolstoi und Nietzsche zu Wort ebenso wie zahllose Namenlose, Fassungslose, Illusionslose an der Front und im Hinterland.

 

Seine leidenschaftslose Analyse ist streng sachlich, ein mit viel psychologischem Feingefühl durchgekämpfter 200seitiger Versuch einer Bewältigung dieses Rätselhaftesten auf der Welt, des Kriegs. Darin häufen sich Paradoxien wie Leichen: Brutalität gepaart mit Feigheit - auf beiden Seiten -. Jubel und Hohn, Granaten und Vergewaltigungen, Heimweh und Faszination des Kriegsschauspiels, kurze, aber intensive Liebesbeziehungen, Ekstase der Kameradschaft, Tötungslust und Zerstörungswut, Hoffnung auf ein Leben im Jenseits und Glaube an Auftrag und Gerechtigkeit, Maschinen und Fusstritte.

"Der schnelle Wechsel von äusserstem Stumpfsinn und äusserster Erregung unterscheidet den Krieg von Frieden erheblich und fördert die Zusammenhangslosigkeit unseres Erinnerungsvermögens. Krieg komprimiert die grössten Gegensätze auf den geringsten Raum und die kürzeste Zeit."

 

Ein ähnlicher Zwiespalt tut sich heute auf:

"Viele fürchten sich heute vor sterilem, ereignislosem Frieden genauso wie vor einem grossen Krieg. Es ist erstaunlich, dass wir in unseren Bemühungen um eine friedliche Welt unfähig sind, die Opferbereitschaft und Entschlossenheit und das Durchhaltevermögen hervorzubringen, die sich in Kriegszeiten automatisch einstellen."

 

Wir dürfen nicht vergessen und peinvoll verdrängen, was nur noch Memoiren, Filmen und der Historik dient: Gesang und Kadaver, Exekutionen und Familienphotos, "Waffenbrüder" und "der" Feind als Bestie. Prinzipien und Irrsinn, Partisanen, Prostituierte, Sanitäter und Berufsoffiziere vereint im Bombenhagel, Verhungernde in Höhlen und Trümmern; Schuld, Reue, Gewissensbisse, Moral, Besserung …

 

Zum Frieden brauchte es Stärke und Mut. Leiden scheint statt läuternder Kraft charakterzersetzende zu haben. Dennoch liegt es am Menschen selbst und allein, das Schwert zu zerbrechen oder zur Pflugschar umzuschmieden. Nur radikales Umdenken – wie überall! - kann helfen, nicht die Summierung kleiner Schritte. Hass, Furcht und Ressentiments sind abzubauen und die Verbindung zur Natur ist wiederherzustellen, denn das Vertrauteste, Naheliegendste und Offensichtlichste ist uns am fernsten. Als Besitzergreifer und Ausbeuter haben wir uns der Natur, dem Ursprung und uns selbst entfremdet.

Wir müssten glücklich werden, das hiesse nämlich friedlich.

 

(erschienen in den „Basler Nachrichten“, 30. Dezember 1970)

 




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