Home Der Verhaltenspsychologe tut sein Bestes

 

Zum Buch

Hans Jürgen Eysenck: Die Experimentiergesellschaft. Soziale Innovationen durch angewandte Psychologie. Reinbek: Rowohlt 1973;
engl.: Psychology is about people. London: Allen Lane/ New York: Library Press 1972.

 

Siehe auch:     Literatur: Behaviorismus (1878-2005)

 

 

Was der deutsche Titel und Untertitel mit dem englischen Titel, vor allem aber mit dem Inhalt gemeinsam haben, bleibt schleierhaft. Entweder ist sich der gebürtige Berliner Hans Jürgen Eysenck [1916-1997], bekannt geworden durch seine "Wege und Abwege der Psychologie" (1956) und seit einem Vierteljahrhundert Dozent für Psychologie an der Universität London, nicht im klaren, was der deutsche Titel bedeutet oder dann hat der für den Titel Verantwortliche im Rowohlt-Verlag das Buch nicht gelesen.

 

Auf den gut 300 Seiten ist jedenfalls weder von einer "Experimentiergesellschaft" - das Wort kommt ein einziges Mal vor - noch von "sozialen Innovationen durch angewandte Psychologie" die Rede: Von der Forderung, dass mehr wissenschaftlich experimentiert werden sollte, um bitter notwendige stichhaltige Entscheidungsgrundlagen zu erhalten, bis zur Experimentiergesellschaft ist ein ebenso weiter Weg wie von da zu sozialen Innovationen.

 

Dass Eysenck fulminante Attacken gegen die Psychoanalyse reitet, deren Therapieerfolge er als völlig unbewiesen ansieht, ist bekannt. Auch Politiker und Parlamentarier, Marxisten und Sozialisten kommen nicht viel besser weg. Sogar die psychologischen Experimentatoren mit den legendären "Messfehlern" ihrer Statistiken werden ins Visier genommen. Gerade die Messfehler rühren nämlich davon her, dass die Versuchsobjekte, seien es Ratten, Tauben oder Menschen, Individualität haben. Der Psychologe muss also, und daraus ergibt sich die Berechtigung seiner spezifischen Wissenschaft, die Persönlichkeit als intervenierende Variable einführen.

 

Eysenck unterscheidet vier wichtige Persönlichkeitsdimensionen, die man auf Skalen abtragen kann. Er macht allerdings daraus kein System, berücksichtigt er doch die Dimensionen nach Gutdünken. Er gibt deshalb zu, dass die sieben Kapitel seines Buches keinen Zusammenhang aufweisen. So kann er im ersten Extraversion-Introversion und Neurotizismus (Emotionalität-Stabilität) durchaus einleuchtend und empirisch untermauert erläutern, dies aber im zweiten Kapitel bereits fallen lassen und den Psychotizismus einführen, dann alle drei fallen lassen und erst im sechsten Kapitel die Dimension innengerichtet-aussengerichtet, verbunden mit Radikalismus-Konservativismus ins Spiel bringen.

 

Thematische Schwerpunkte - je zwei Kapitel - sind Verhaltenstherapie, vorwiegend nach Skinners operanter Konditionierung, und Sexualität und Pornographie. Auf letztere verwendet Eysenck besondere Akribie: ausgedehnte Fragebogen, Prozentzahlen, Korrelationen und Punktskalen.

Viele Beispiele aus der Literatur werden angeführt, so der "geheimnisumwitterte Walter", der vor hundert Jahren in einem elfbändigen Werk über seine intimen Beziehungen zu mehr als zweitausend Frauen berichtete, oder die Potenz-Probe des Prinzen Vincenzo Gonzaga.

 

Anhand eines ausgeklügelten "Pornographie-Indexes" rückt Eysenck einer Prosastelle aus "Naughty Ladies" [Franklyn Roudybush, 1974?] zu Leibe, um Objektivität in die Bewertung zu bringen. Das sieht folgendermassen aus:

" ‚Er streichelte ihre kühlen, festen Brüste, und dann beugte er sich herunter, um mit heissen Lippen ihre Brustwarzen zu küssen', würde also 4 [Punkte] für 'Brüste' ergeben, multipliziert mit 2 für 'streicheln', zusammen 8. Hinzu kämen 2 Punkte für ‚kühl' und 'fest', insgesamt also 10 für diesen Satzteil. Entsprechend werden 5 Punkte für 'Brustwarzen' mit 4 für 'küssen' multipliziert, macht 20. Hinzu käme 1 Punkt für die adverbiale Beifügung 'mit heissen Lippen'. Der ganze Satz wird also mit 31 Punkten bewertet."

 

Das ist Wissenschaft. Und nach Eysencks Meinung kann uns nur Wissenschaft retten. Seine wichtigste These ist nämlich:

"Wir könnten unsere Angelegenheiten wesentlich besser regeln, wenn wir alle Emotionen beiseite liessen und die Vernunft zu unserem alleinigen Ratgeber machten ... Die Wissenschaft ist der Ausdruck der Vernunft in ihrer höchsten Form, und darum ist die Wissenschaft unsere einzige Hoffnung zu überleben."

 

Mag sich dabei denken, wer was will. Eysencks sieben Aufsätze tun der guten Sache, die er vertritt, einen Bärendienst. Sie sind zwar flüssig geschrieben, jedoch ebenso geschwätzig wie widerspruchsvoll und voller Wiederholungen. Eysenck stellt listig eine ganze reihe Fallen, und im Handumdrehen tappt er selbst hinein.

 

Gerade wer krampfhaft bemüht ist, "Tatsachenmaterial" vorzulegen, läuft Gefahr, entweder durch seitenlange Aufzählungen von verallgemeinerten Untersuchungsergebnissen - und seien sie noch so interessant und aufschlussreich - zu langweilen oder bei der eben doch sich aufdrängenden Interpretation ins Schwadronieren zu geraten.

 

Die Überschrift des letzten Kapitels ist ein Indiz dafür, dass sich Eysenck dessen bewusst gewesen sein könnte, lautet sie doch: "Schiessen Sie nicht auf den Verhaltenspsychologen: Er tut sein Bestes!"

Die Vermutung ist aber nicht von der Hand zu weisen, dass bei einer Meinungsumfrage alle die von Eysenck Angeschossenen ebenfalls die Überzeugung kundtäten, ihr Bestes zu tun. Das genügt offensichtlich nicht.

 

(geschrieben im April 1974;

erschienen im Tages-Anzeiger, Zürich, 26. Juli 1974)

 



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