Home Psychologie und ihr Umfeld

 

Notizen, ca. Sommer 1974

 

 

I. Psychologie: Grundwissenschaft oder Geheimwissenschaft?

 

In der von Werner Schuder herausgegebenen „Universitas Litterarum“ (Handbuch der Wissenschaftskunde, 1955) und in der darauf abgestützten zweibändigen „Wissenschaftskunde“ von Oskar Holl (1973) sowie in vielen Nachschlagewerken gilt die Psychologie als Grundwissenschaft, was keineswegs selbstverständlich ist, denn bis in die vierziger Jahre unseres Jahrhunderts kannten beispielsweise die offiziellen Nationalbibliographien der Schweiz und Deutschlands keine Psychologie. Was 1947 resp. 1942 in der Gruppe "Philosophie, Psychologie" zusammengefasst wurde, hiess in der Schweiz seit 1917 "Philosophie, Ethik, Geheimwissenschaft", in Deutschland seit 1931 "Philosophie, Weltanschauung".

 

Es tut dem Psychologen wie jedem Fachwissenschafter gut, wenn er sich stets vor Augen hält, dass die von ihm betriebene Wissenschaft nur eine unter sehr vielen ist. Diese banale Feststellung besagt, dass jede Wissenschaft in eine ausserordentlich vielfältige Gesamtheit der Wissenschaften eingebettet ist und sich infolgedessen je nur mit einem Aspekt der kulturellen Leistungen, des Wesens des Menschen, seines gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens, Lehrens und Leidens oder der Fülle der Naturerscheinungen und -gebilde befasst.

 

 

II: Die Psychologie und andere Wissenschaften

 

Auf den ersten Blick mag es erstaunlich sein, mit wievielen Wissensgebieten Psychologie verwoben ist. Dies in doppelter Hinsicht:

Die Psychologie schöpft nicht nur Ergebnisse und Kenntnisse aus andern Wissenschaften, sondern es ist auch umgekehrt: viele Forschungs- und Tätigkeitsbereiche können oder könnten sich auf Erträgnisse der Psychologie stützen.

 

Diese Wechselwirkung spielt selbstverständlich auch zwischen den meisten andern Disziplinen, sei das nun bei Mathematik - Physik - Musik und Ökonomie - Chemie - Medizin - Malerei oder Romanistik - Archäologie – Geographie, usw.

 

"Irgendwie hängt eben alles miteinander zusammen". Dieser Stossseufzer ist mehr als ein Gemeinplatz. Er enthüllt die ganze Problematik nicht nur des Wissenschaftsbetriebs, sondern auch der Anwendung von Erkenntnissen. Der Informationsaustausch und die interdisziplinäre Zusammenarbeit liegen dabei freilich über weite Strecken im argen. Zwei miteinander verschwisterte Gründe sind dafür wohl verantwortlich: die physische wie geistige Absorption und Isolierung des je einzelnen Forschers oder Praktikers sowie die Unübersehbarkeit und Komplexität der Probleme in jedem einzelnen Fach.

 

Nun hat die Psychologie respektable traditionelle Bande zu Philosophie, Theologie und Medizin über die Jahrhunderte gehegt und gepflegt. Im Zuge der Emanzipation der Einzelwissenschaften haben sich diese jedoch gelockert, teils zum Vorteil der einzelnen Partner, teils aber sicher auch zum Nachteil.

Dafür sind neue Beziehungen zu neuentstandenen wie älteren Wissenschaften geknüpft worden, etwa zur Soziologie und Arbeitswissenschaft, zur Physiologie, Genetik und Rechtswissenschaft, zur Pädagogik und Statistik, zur Ästhetik, Mythologie und Sprachwissenschaft, aber auch zur Gehirnforschung, Informationstheorie und Verhaltensbeobachtung. Neuerdings hat sich auch die Kybernetik, die sich gerne als "Brücke zwischen den Wissenschaften" sieht, in dieses Geflecht eingenistet.

 

Ob diese gegenseitigen Befruchtungen den einzelnen "Fächern" nun zum Schaden oder Nutzen gereichen, ist nicht so ohne weiteres erblickbar. Doch die Frage muss gestellt werden. Denn zumindest zwei Gefahren drohen: einerseits die Psychologisierung der andern Wissenschaften, anderseits die Aufsplitterung der Psychologie bis zu ihrem völligen Aufgehen in den andern Wissenschaften.

 

 

III: Wie eigenständig ist die Psychologie?

 

Anzeichen dafür scheinen zu bestehen, betreffe das nun die Infiltration der Tiefenpsychologie in die Theologie oder Literaturwissenschaft, oder umgekehrt das Sich-Breitmachen etwa von Soziologie und Politikwissenschaft, von Biochemie und Pharmakotherapie. Auch Systemanalyse und - wie könnte es anders sein - die Computerwissenschaft sind daran, ihr den Rang abzulaufen, bald wohl auch Ökologie und. Futurologie.

 

Damit kommt dann auch die Streitfrage ins Spiel, ob sich die Psychologie naturwissenschaftlicher Experimentiertechniken und Theoriebildungen befleissigen oder vielmehr die hermeneutische, verstehende und introspektive Tradition verteidigen solle. Man muss da wohl wieder einmal differenzieren. Zwischen einem Teilchenbeschleuniger oder Mondlandeunternehmen und der Interpretation eines Gedichts oder einer Krankengeschichte bestehen gewiss beträchtliche Unterschiede. Man kann an den Menschen nicht einfach einen Gesteinsbohrer ansetzen, genauso wie gutes Zureden nicht als Katalysator für eine chemische Reaktion dienen kann.

 

Die Gefahr der "Verwischung von Grenzen" liegt also, wie diese Beispiele zeigen, nicht im praktischen, sondern vielmehr im theoretischen Bereich. Sie liegt, wenn man so will, im Gerede von Leuten, die sich der Eigenheiten ihres Fachgebiets oder des Wissenschaftsbetriebes überhaupt nicht bewusst sind. Vielleicht müssten Journalisten und Publizisten, Politiker und Direktoren da etwas mehr Vorsicht walten lassen. Nicht alle Probleme sind für die Öffentlichkeit geeignet, nicht alle auch für Experten einer andern Disziplin. Schliesslich kann man auch in der Chemie über Verbindungen nur Sinnvolles aussagen, wenn man ihre Komponenten, ihre Zusammensetzung und Eigenschaften präzise kennt.

 

Dennoch ist das für die Psychologie gar nicht so einfach. Die Schwierigkeit bleibt beispielsweise bestehen in so simplen Fragen wie: ob Psychologie eine Geistes-, Sozial- oder Naturwissenschaft sei, ob sie quantifizierend oder qualifizierend vorgehe, ob sie primär zum Verständnis des Menschen beitragen solle oder ob ihre praktische Anwendung im Vordergrund stehe, usw.

Freilich kämpfen manche andern, vor allem die neueren Wissenschaften, die Zwitterwissenschaften wie man sie auch nennen könnte, z. B. die Biophysik, physikalische Chemie, Radio-Astronomie und Psychosomatik, die Morphologie, Meteorologie, Völkerkunde, Mineralogie, Paläontologie, Agronomie ebenfalls mit Selbstdefinitionsproblemen.

 

... Schon Namengebung und Klassifikation in einem übergreifenden Rahmen werfen also Probleme auf, die sich nun im einzelnen, eben nur mehr oder weniger abgrenzbaren Fachbereich fortsetzen.

 

 

IV. Psychologie und der Mensch

 

Die Frage nach den Menschen kann von verschiedenen Seiten her angegangen werden. Eine davon ist die Psychologie. Andere sind, in der langen Reihe der Tradition, Mythologie, Theologie und Philosophie, Medizin, Völkerkunde, Geschichte, Rechts- und Staatswissenschaft, Pädagogik, Literatur- und Kunstwissenschaft und nicht zuletzt Wirtschaftswissenschaft und Zoologie. Letztere befasst sich, zusammen mit Medizin und Psychologie selbstverständlich auch mit dem Tier.

Mit diesen Wissenszweigen teilt die Psychologie das Objekt, aber nicht die Methoden. Das heisst jedoch nicht, dass jede Wissenschaft über je andere Methoden verfügen müsse.

 

Psychologie als Wissenschaft ernst nehmen bedeutet, sich nicht nur mit dem Wesen der Wissenschaft auseinanderzusetzen, sondern auch darauf zu schauen, was Psychologie als Einzelwissenschaft zum Verständnis des Menschen, seines Leidens und Wirkens in der Gesellschaft und in der Natur beizutragen vermag sowie nach Mitteln Ausschau zu halten, mit denen das Leben des je einzelnen Menschen würdig gestaltet werden kann.

 

 

V. Was tut die Psychologie für ihr Umfeld?

 

In was für Gebiete zerfällt z. B. die Psychologie?

Da kann man in verschiedener Hinsicht unterteilen:

  • nach menschlichen Vermögen oder Fähigkeiten, also etwa Wahrnehmung, Geschicklichkeit, Motivation, Emotionalität, Vorstellung, Bewusstsein, Erkennen, Denken und Intelligenz, Kreativität, Phantasie, Lernen, die Sinne überhaupt; Schlaf, Ermüdung und Traum, Hypnose und Suggestion; Aufmerksamkeit, Erwartung und Einstellung, Gedächtnis, Problemlösen, Entscheiden und Wählen;
  • nach Lebensabschnitten, beispielsweise Säugling, Kleinkind, Kind, Jugendlicher und Adoleszenz, Erwachsene, Lebensmitte, Alter;
  • nach Anwendungsbereichen wie Schule, Ehe und Familie, Arbeit und Betrieb, Klinik und Heim, Gericht, Militär, Kaderschulung, Verkehr, Werbung, Sport, Massenmedien, Verhaltensforschung, Ethnologie, Linguistik;
  • nach verschiedenen Abgrenzungen wie Tiefenpsychologie und philosophische, phänomenologische Psychologie; theoretische und praktische, angewandte Psychologie; Verhaltens- (objektive) und Erlebens-(introspektive) Psychologie; diagnostische und therapeutische, vergleichende, abnormale, biophysische, medizinische, physiologische Psychologie; pädagogische, mathematische, experimentelle Psychologie;
    Völker- und Kultur, Entwicklungs-, Sozial- und Individual-(differentielle) Psychologie; Persönlichkeits- und Ausdruckspsychologie, Testpsychologie; aber auch etwa Elementen-, Ganzheits-, Gestalt-, Aktpsychologie, Charakterkunde, Schichten- und Typenlehre, Gruppendynamik, Psycho- und Soziometrie, Psychodrama und Faktorenanalyse oder Psychologie der Sprache, der Kunst, der Religion, der Geschichte, der Politik, des Sports, usw.

 

Psychologie ist, das wird aus dieser, beliebig ergänzbaren, Liste ersichtlich, weit mehr als etwa das Verhältnis Freud-Jung, Ehe- und Berufsberatung oder Schulpsychologie, Personalselektion und -instruktion, Graphologie, Motivforschung und Verkehrserziehung.

 

Aber was ist sie denn? Eine Wissenschaft gewiss, ein Studiengebiet, das aufgrund von Lehrplänen an Hochschulen oder Instituten absolviert werden kann. Einige wenige ausgebildete Psychologen werden sich hernach der Forschung und Lehre widmen, die andern gehen in die Praxis, und was tun sie da:

  • diagnostizieren und beraten,
  • heilen und helfen, pflegen und betreuen,
  • instruieren und schulen.

 

Nicht zu vergessen sind solche, die psychologische Erkenntnisse einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machen oder ihre Kenntnisse in einem psychologiefernen Gebiet oder Fach einzusetzen wissen.

 

Wäre Psychologie also überhaupt eine Wissenschaft, die wie alle Wissenschaften auf Verstehen und Erklären zielt, darüberhinaus aber nach Anwendung drängt, drängen muss. Beraten, helfen und. schulen sind aber so etwas wie "dienende" Funktionen. Wäre sie damit eine "Hilfswissenschaft"? Ein gefährliches Wort, das jedenfalls manchen zünftigen Psychologen unschön im Ohr klingt.

Doch es gibt verschiedene Weisen des Dienen, wir sprechen doch auch vom Dienst an der Sache, Dienst an der Menschheit oder am Mitmenschen, usw. Und schliesslich ist manches Studien- und Forschungsgebiet gar nicht ohne Anwendung zu denken, beispielsweise Jurisprudenz, Medizin, Theologie und Betriebswissenschaft sind zur Praxis geradezu prädestiniert.

 

Theorie ist ja schön, Erkenntnisinteresse auch, aber was hilft sie dem Menschen? Auch die Chemie will ja Medikamente und künstliche Stoffe herstellen, zum Dienst am Menschen, Geologie und Meteorologie kann man sich auch als Hilfswissenschaften vorstellen; Elektrotechnik und Maschinenbau, Hoch- und Tiefbau sind selbstverständlich Studiengebiete, die zum Wohle der Menschheit, zur Verbesserung der Lebensverhältnisse beitragen wollen, genauso wie Agronomie und Forstwirtschaft.

 


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