HomeDie Psychologie und ihr Gegenstand

 

Zu Werner Traxel: Grundlagen und Methoden der Psychologie. Bern: Hans Huber 1974.

 

am 28. August 1974 an die Neue Zürcher Zeitung gesandt; nicht erschienen (aber im April 1976 bezahlt)

 

 

 

Seit 200 Jahren gibt es die "Erfahrungsseelenkunde", seit gut 100 Jahren die "Psychophysik".

 

Wohin gehört die Psychologie?

 

Bis zum Jahre 1947 jedoch kannte die offizielle Bibliographie "Das Schweizer Buch" keine Psychologie. Was damals in der Gruppe "Philosophie, Psychologie" zusammengefasst wurde, hiess seit 1916 "Philosophie, Ethik, Geheimwissenschaft". In den USA spielt diese Geheimwissenschaft immer noch - und neuerdings wieder - eine Rolle, finden sich doch im "Guide to Reference Books" (Chicago, 1967) unter "Pure and Applied Sciences" - die von den "Humanities" und "Social Sciences" getrennt werden - Psychologie, Psychiatrie und Okkultismus.

 

Die OECD-Studie "Development of Higher Education 1950-1967" (Paris,1970) hingegen zählt Psychologie wie auch etwa Archäologie zum Studiengebiet "Humanities", während die "Dissertation Abstracts International" (Ann Arbor, Michigan) seit Juli 1966 Psychologie aufteilen: Sozialpsychologie gehört hier zu "The Humanities and Social Sciences", Allgemeine, Klinische, Experimentelle und Industrielle Psychologie - sowie seit August 1970 Biopsychologie - zu "The Science and Engineering".

 

Am verbreitetsten ist allerdings immer noch die Zuordnung zur Philosophie. Obwohl es ein amerikanischer Bibliothekar, Melvil Dewey, war, der vor hundert Jahren die "Dezimalklassifikation" ausgearbeitet hat, stützen sich seit 1946 die belgische, seit 1950 die britische und seit 1963 die französische Nationalbibliographie darauf ab. Und in dieser Klassifikation zählt Psychologie weder zu den Sozialwissenschaften noch zu den angewandten Wissenschaften, sondern zur Philosophie.

 

Auch in den meisten Bibliographien der deutschsprachigen Länder sticht diese Zuordnung bis auf den heutigen Tag ins Auge. Wegweisend hiefür war die "Deutsche Nationalbibliographie", die seit 1931 in Leipzig erscheint. Darin wurde die Gruppe "Philosophie, Weltanschauung" 1942 bis 1944 und dann endgültig ab 1946 durch "Philosophie, Psychologie" ersetzt.

 

Besinnung

 

Der Standort der Psychologie ist mithin recht unbestimmt; die Zuschreibungen divergieren aus historischen und systematischen Gründen. Das hängt weiter nicht nur damit zusammen, dass die Unterteilung der Wissenschaften in Grossgruppen in verschiedenen Kulturbereichen unterschiedlich gehandhabt wird, sondern auch mit dem Problem der Wissenschaft überhaupt: mit der Einschätzung der Wissenschaften durch die Gesellschaft ebenso wie mit dem Selbstverständnis der einzelnen Disziplinen.

 

Unbestritten ist Psychologie eine Grundwissenschaft. Freilich, und das wird von Psychologen gerne übersehen, nur eine unter dreissig bis sechzig Grundwissenschaften insgesamt (je nach Art der Unterteilung).

Dass jede Einzelwissenschaft in einen überaus vielfältigen Kosmos von Wissenschaften eingebettet ist, diesen Anlass zur Selbstbescheidung schieben auch die meisten andern Fachwissenschaften gerne aus ihrem Bewusstsein. Dass darüber hinaus Wissenschaft im ganzen nur ein - wenn auch zunehmend an Einfluss gewinnender - Faktor oder Bestandteil des überaus reichhaltigen Kulturlebens der menschlichen Gemeinschaft ist, wird ebenso oft vergessen. Gerade heute täte eine Besinnung auf diese Tatsachen not.

 

Gegenstand

 

Solche und andere Überlegungen erwartet man, in einem 450seitigen Buch zu finden, das soeben unter dem stolzen Titel "Grundlagen und Methoden der Psychologie" (Verlag Hans Huber, Bern) herausgekommen ist.

Doch gefehlt. Bei näherem Hinsehen entpuppt sich dieses Werk von Werner Traxel als "zweite, völlig neubearbeitete und erweiterte Auflage" der vor zehn Jahren erschienenen "Einführung in die Methodik der Psychologie". Die Erweiterung beträfe somit die Grundlagen, was nicht heisst, die Grundlagenbesinnung.

 

Für Traxel ist die Lage sehr einfach: Psychologie ist eine Erfahrungswissenschaft. Und eine solche empirische Wissenschaft "ist charakterisiert durch die Art ihres Gegenstandes, der ein konkreter, realer ist, und kein abstrakter, ideeller, nur gedachter, sowie durch ihre Verfahrensweise : Sie geht von Daten der Beobachtung aus, vergleicht diese miteinander und zieht daraus Schlüsse."

 

Was aber ist der Gegenstand der Psychologie? Er ist "ein in sich geschlossenes, relativ einheitliches 'Gebiet'". Dieses Gebiet war bei den Alten Griechen die Seele als Lebensträger (Platon), Entelechie oder Lebensprinzip (Aristoteles). Descartes versuchte, die geistige und körperliche Welt voneinander zu trennen, womit "die Frage nach der Art des Zusammenhangs zwischen Leib und Seele" sehr aktuell wurde. Johann Friedrich Herbart, Nachfolger auf dem Lehrstuhl von Kant, war der erste, der mit seiner Lehre von der Vorstellungsmechanik den Versuch machte, "die Dynamik des psychischen Geschehens mit Hilfe mathematischer Formeln zu beschreiben".

 

Galt seit Christian Wolff (1732/34) und Johann Nicolaus Tetens (1777) die psychologische Forschung den "konkret feststellbaren seelischen Äusserungen, dem Denken, dem Fühlen und dem Wollen", so waren es etwa seit Mitte des 19. Jahrhunderts "die gesetzmässigen Beziehungen zwischen äusseren Einwirkungen und psychischen Reaktionen". Die experimentelle Psychologie hub an. Mit ihr sind die Namen Fechner, von Helmholtz, Wundt, Ebbinghaus und Georg Elias Müller untrennbar verbunden.

 

Aktuelle seelische Erscheinungen

 

Bereits zu dieser Zeit löste sich also die Psychologie von der Philosophie. "Nachdem die Psychologie ihre empirischen Möglichkeiten erkannt hatte, kümmerte sie sich nicht mehr viel um die metaphysische Seele ... Tauchte der Begriff 'Seele' weiterhin im psychologischen Sprachgebrauch auf, so bezeichnete er etwas anderes als früher: nicht mehr etwas Substantielles, Wesenhaftes, sondern vielmehr etwas Aktuelles, eine Gesamtheit von Ereignissen: die psychischen Vorgänge, die psychischen Erscheinungen", die damals weitgehend mit den Vorgängen im Bewusstsein gleichgesetzt wurden.

 

Psychologie verstand sich also als Bewusstseinswissenschaft. Mit der Begründung der Psychoanalyse durch Freud und des Behaviorismus durch Watson wurde der Gegenstand "Bewusstsein" freilich bald in Frage gestellt. Richtete die eine Strömung ihr Augenmerk nur auf das "Unbewusste", insbesondere die Triebdynamik, so die andre allein auf äussere, beobachtbare "Verhalten" von Individuen.

 

Genauso wie man sich über die Vieldeutigkeit und damit Unverbindlichkeit der Termini "Seele", "Bewusstsein" und "Unbewusstes", aufhalten kann, ist es auch möglich, die Begriffe "aktuelle seelische Erseheinungen", "Erfahrungen", "Erlebnisse ", "Eindrücke " und "Verhalten" - welche Traxel hauptsächlich verwendet - als durchaus unpräzis zu betrachten. Obwohl Traxel eine Liebe zu begrifflicher Präzision vorspiegelt und sich darüber aufhält, dass manche statt "abnorm" "abnormal ", statt "Prädikator" "Prediktor", statt "psychisch" "psychologisch ", statt "Lernen durch Verstärkung* 'Verstärkungslernen" oder statt "Lernhemmung" "Negativer Transfer" schreiben, lässt er selbst terminologische Sauberkeit vermissen.

Mit ein Grund hiefür ist die mangelnde Klarheit der Sache, um die es geht: eben der Gegenstand der Psychologie.

 

Beobachtung und Schluss

 

Empirische Wissenschaft beruht auf Beobachtung und Schluss. Gewiss. Doch was wird beobachtet? Konkrete Tatsachen. Das Verhalten als Geschehen. Als solches "gelten alle von aussen feststellbaren Aktivitäten eines Individuums, wie zum Beispiel Muskelbewegungen, nervenelektrische Erscheinungen, Veränderungen im Blutkreislauf, Drüsensekretionen und nicht zuletzt Laut- und Sprachäusserungen".

 

Diese Äusserungen werden von der Psychologie einerseits interpretiert als Reaktionen auf Umweltreize, anderseits als Resultate psychischer Verarbeitung. Während die Reize mit den Verhaltensäusserungen verglichen werden können, ist zur Ermittlung der "inneren" Vorgänge ein Schluss vonnöten: Das Psychische ist etwas Erschlossenes, und zwar aus Verhaltensdaten, welche von einem aussenstehenden Beobachter registriert werden, wobei diese Beobachtung selbst ein psychisches Geschehen ist.

 

Das wäre also ein Bestandteil der Grundlagen der Psychologie. Er wird gerne in der simplen Formel zusammengefasst: R = f (S, P). In Worten: Die Reaktion (R) ist eine Funktion sowohl von Reizvariablen (S) als auch von Personvariablen (P).

Erforscht werden somit heute noch wie zu Fechners Zeiten "die Beziehungen zwischen Reizen (oder Situationen) und daraufhin folgenden Reaktionen sowie zwischen Merkmalen des Individuums und davon beeinflussten Reaktionen, um so auf die Gesetzmässigkeiten der inneren Verarbeitung zu schliessen".

 

Ungenauigkeiten und Fehler

 

Im Prinzip ist das sehr einfach, und im Prinzip stützt sich auch Traxel darauf. Doch bei der praktischen Arbeit, sei es beim Durchführen eines psychologischen Versuchs, sei es beim Beschreiben der Vorgänge von Reizdarbietung und Beobachtung, Messung und Registrierung, Darstellung und Beurteilung von Daten, Deutung und Theoriebildung, ergeben sich mannigfaltige Schwierigkeiten.

Die hauptsächlichsten sind Ungenauigkeiten und Fehler. Traxel beschreibt eingehend deren Gründe und die Möglichkeiten der Vermeidung. Doch beim Schreiben unterlaufen ihm nicht nur selbst Ungenauigkeiten, sondern auch Fehler. So hält er beispielsweise nicht mit wünschenswerter Deutlichkeit auseinander, wer was oder wen beobachtet, wer was verarbeitet und wer was deutet. Manchmal ist die Rede von "wir", "man" oder "ich", manchmal von Vl (Versuchsleiter) und Vp (Versuchsperson), dann wieder von Beobachter, Beurteiler oder Person.

Mit einigem Scharfsinn lässt sich da noch auseinanderdividieren, ob nun der Vl oder die Vp beobachtet. Doch schon die Unterscheidung vors Beobachtung, Betrachtung, Wahrnehmung, Empfindung, Erfassung und Eindruck fällt schwerer.

 

Selbstbeobachtung?

 

Besonders delikat ist die Problematik der Selbstbeobachtung, die über Jahrhunderte einen Grundpfeiler der Psychologie in theoretischer wie praktischer Hinsicht darstellte. Traxel verneint die Möglichkeit der Introspektion. Es gibt nur eine Art der Beobachtung, und was fälschlicherweise Selbst-Beobachtung heisst, ist das Nachdenken über - und jetzt kommt der springende Punkt: über was?

Weil diese Frage nicht geklärt ist, kommt es bei Traxel, und selbstverständlich nicht nur bei ihm, zu verwirrenden Formulierungen:

"Was uns in unserem Erleben, in unserem Sehen, Hören, Erinnern, Denken oder Fühlen gegeben ist, das sind zunächst nur Erscheinungen und Vorgänge in der Aussenwelt, beziehungsweise an unserem eigenen Körper, und keine psychischen Vorgänge. Wir sehen zum Beispiel einen Gegenstand im Raum. Dessen sind wir sicher. Können wir aber daneben auch noch - sozusagen mit einem inneren Auge - den psychischen Prozess sehen, durch den wir das gesehene Objekt erkennen? Sicherlich nicht!

Was für das Sehen gilt, das gilt entsprechend auch für andere Fälle. Was wir wahrnehmen können, sind immer nur die Produkte psychischer Tätigkeit, nicht diese Tätigkeit selbst. Sie ist also gerade nicht Gegenstand der 'unmittelbaren Erfahrung' (35f)".

 

Angesichts solcher und vieler ähnlicher Argumentationen verwundert es nicht, wenn es dann in den Erläuterungen zum psychologischen Experiment heisst, in einem solchen würde das zu beobachtende Geschehen absichtlich hervorgerufen, und das bedeute "bestimmte Wahrnehmungen, Erinnerungsvorgänge, Denkprozesse, Emotionen, Entschlüsse und dergleichen" (224).

Ebenso wenig erstaunt es, zu vernehmen, dass zwar der Vergleich zweier Gewichte eine Beobachtung erfordert, das Nachsprechen von Zahlenreihen und das Betrachten einer Reihe von Bildern jedoch nicht (156).

 

Was wird gemessen?

 

In das selbe Kapitel fällt die Behauptung, beispielsweise "Interesse" und "Werthaltung" seien Fiktionen, da sie nicht auf Beobachtungsdaten beruhten. "Ein 'Interesse' lässt sich mit keinen Mitteln aufzeigen und auch nicht auf irgendeinem indirekten Weg als existent erweisen" (135). Dennoch kam der Autor von einem Vl verlangen, er müsse dafür sorgen, "dass möglichst günstige Voraussetzungen für den Verlauf des Versuchs (Interesse, Konzentration, Aufrichtigkeit des Urteils) geschaffen werden" (201). Später heisst es, die Vp bringe stets "ihre persönlichen Eigenschaften, Einstellungen und Werthaltungen" mit (225) und das unterschiedliche persönliche Engagement könne ausschlaggebend sein (230).

 

Noch peinlicher ist es, wenn auf zwei gegenüberliegenden Buchseiten einmal physische Erscheinungen als Indikatoren für psychische, das andere Mal "die Anwendung physiologischer Messverfahren als Indikatoren für psychische Veränderungen" betrachtet werden (172 u. 173). Später werden in der psychologischen Diagnostik Resultate einmaliger Beobachtungen "als Indikatoren für bestimmte Eigenschaften der untersuchten Person aufgefasst" (346).

 

Schwer zu schaffen macht dem Autor die Messung des Psychischen. Einmal räumt er ein, dass sich nur "Äusserungen von Psychischem zahlenmässig erfassen lassen" (288), ja, dass sich "das Psychische als solches" nicht messen lasse (401), anderseits meint er indirekt, man könne "aber auch etwas Psychisches selbst, zum Beispiel die Intensität einer visuellen oder auditiven Empfindung" messen (366).

Ob tatsächlich "das Psychische" gemessen wird, betrachtet er schliesslich als "ein metaphysisches Problem, und eine Psychologie, die sich als Erfahrungswissenschaft versteht, wird sich damit nicht befassen. Sie hat dies auch nicht nötig" (400).

Dennoch lässt sich gerade bei den wenigen Paradebeispielen, auf die der Autor immer wieder Bezug nimmt, nämlich der Schluss vom negativen Nachbild auf die "Natur des Farbensehens" (325), die Bestimmung von "Reizschwellen" und dergleichen (Kapitel X, Psychometrie, 359-403) oder der "Gedächtnisspanne" für beliebige Zahlen (189ff), durchaus fragen, ob hier nicht physische Phänomene vorliegen. Dies zumal auch deshalb, weil diese Versuche alle schon im letzten Jahrhundert durchgeführt wurden und damals ins Gebiet "Sinnesphysiologie" oder "physiologische Psychologie" fielen (vgl. 422ff).

 

Vielfalt der Methoden

 

Was also das spezifisch Psychische sei, das doch die Psychologie erforschen sollte, wird in diesem stattlichen Band nicht deutlich. Emotionale Reaktionen und die von ihnen ausgehenden Motivierungserlebnisse, Lernen und intellektuelle Leistungen, Einstellungen und Stimmungen finden zwar Erwähnung, doch erfährt man nicht, wie sie erforscht werden könnten.

So sind also nicht nur die "Grundlagen der Psychologie" wackelig, sondern ist auch der Blickwinkel auf die heute interessierenden Probleme ausserordentlich eng.

Hinzu kommt, dass der Autor weder die Testpsychologie näher betrachtet noch "die Verfahren der psychologischen Beratung, der psychologisch fundierten Erziehung und der psychotherapeutischen Behandlung" berücksichtigt. Von pränataler, klinischer und Alternspsychologie ist ebenso wenig die Rede wie von Sozialpsychologie, Prophylaxe und Fürsorge, von Leistungsqualifikation, Arbeitsplatzbewertung und Arbeitstechnik ebenso wenig wie von den zahlreichen tiefenpsychologischen Methoden, von Autogenem Training, Kreativitäts-, Aggressions- und Konfliktforschung, von Gespräch, Exploration und Fragebogen ebenso wenig wie von Sensitivity-Training oder Psychodrama, Schlaf- und Entwicklungsforschung oder Polaritätsprofil, Graphologie, Physiognomik und Charakterkunde, geschweige denn von der "phänomenologischen Methode".

 

Vieles davon kommt jedoch in "Knaurs moderner Psychologie" von Heiner Legewie und Wolfram Ehlers (Droemer/ Knaur, München, 1972) vor. Dieses nur 300seitige, reich bebilderte Buch bedient sich als Grundlage der "Systemtheorie". Zahlreiche Anzeichen deuten darauf hin, dass sie in zunehmendem Masse die Forschungstätigkeit in den verschiedensten Bereichen der Psychologie - wie übrigens auch in vielen anderen Wissenschaften - tragen und bestimmen wird.

 




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