Home Erziehung ist Partnerschaft

                     Über die Verantwortung der Eltern

 

Eine kleine Betrachtung, von einem Vater eines 10jährigen Sohnes,

14.12.1983

 

 

Bereits 1959 hat die UNO-Vollversammlung in einer "Erklärung der Rechte des Kindes" festgehalten:

"Das Kind bedarf zur vollen und harmonischen Entwicklung seiner Persönlichkeit der Liebe und des Verständnisses. Es muss möglichst in der Obhut und unter der Verantwortung seiner Eltern, immer aber in einer liebevollen, moralische und materielle Sicherheit bietenden Umgebung aufwachsen. Im zarten Alter darf das Kind nicht von seiner Mutter getrennt werden, ausser durch ungewöhnliche Umstände."

 

Damit solches möglich ist, muss die Mutter, ja müssen Mutter und Vater einiges wissen, was die Wissenschaften, insbesondere die Psychologie in den letzten hundert Jahren herausgefunden haben.

 

Der Säugling lernt  vom ersten Tag an

 

Bereits vom ersten Lebenstag an prägen sich die empfangenen Sinneseindrücke im Gehirn des Säuglings als Gefühls- und Lernerfahrungen ein. Während des ersten Lebensjahres nimmt das Gewicht des Gehirns um die Hälfte des gesamten Substanzwachstums nach der Geburt zu.

(Schon der grosse Pädagoge Friedrich Fröbel hat vor 150 Jahren gewusst, "dass es ein grösserer Schritt sei vom Säugling bis zu einem sprechenden Kind als von einem Schulknaben bis zu einem Newton".)

 

Im zweiten Lebensjahr kommen weitere 25 oder 30 % dazu, sodass das zweijährigen Kleinkind schon fast 80 % des Gehirngewichts des Erwachsenen hat.

 

Was das Kind von Anbeginn braucht, ist eine einfühlsame Betreuung durch Mutter und Vater. Das Kind reagiert auf Sinnesreize und die Eltern reagieren auf die kindlichen Signale.

So spielt sich eine Wechselbeziehung ein: Beide Seiten bieten einander Anregung und Belohnung. Dabei lernen sie, wie das eigene Verhalten den "Partner" im positiven Sinne aktiv beeinflussen kann. Das beginnt beim Blick- und Hautkontakt und beim Lächeln. Daraus ergibt sich in den ersten zwei Lebensjahren eine seelische Bindung, in der sich das Kind angstfrei und geborgen fühlt. Gelingt dies, kann auch kein noch so abschreckendes späteres Erlebnis diese Bindung wieder aufheben.

 

Freiräume und Grenzen: eine Frage des Masses

 

Auf diesem Hintergrund des Vertrauens wird dann das Erkunden und Spielen des Kindes möglich. Bei gleichbleibender Liebe und gesicherter Bindung gewinnt das Kind zunehmend Selbständigkeit und erweitert seine Weltorientierung. Die Eltern unterstützen es dabei, indem sie ihm sowohl Freiräume für seine Aktivitäten eröffnen als auch sinnvolle Beschränkungen auferlegen. Zuviele Verbote, Drohungen und Strafen erzeugen Aggressivität, die wiederum neue Verbote und Strafen nach sich zieht. Ein Übermass an Fürsorge, welche dem Kind eigene Schmerzen und Erfahrungen ersparen soll, bewirkt Unselbständigkeit, Gehemmtheit, Übergewissenhaftigkeit und Ängstlichkeit.

 

Verwöhnung ist eine Zumutung

 

Zu grosse Verwöhnung im Sinne des "laissez faire" und fehlender Kontrolle führen dagegen zu einer Anspruchshaltung des Kindes, die früher oder später in Enttäuschung endet. Die unmittelbare Erfüllung aller Wünsche verbaut dem Kind die Möglichkeit, etwas zu wagen, sich durchzusetzen und in der damit verbundenen Bewährung Vertrauen auf die eigenen Kräfte zu gewinnen. Man kann ein Kind kaum tiefer ängstigen als dadurch, dass man ihm alles erlaubt. "Es ist für das Kind eine nicht tragbare Zumutung, dass es mit dem geringen Erfahrungsschatz, über den es verfügt, bereits seine eigenen Grenzen ziehen soll.''

 

Das zweite Jahrzehnt ist genauso wichtig

 

Da der Titel des lesenswerten Büchleins von Gunda Wolff "Die ersten Lebensjahre" (Klett-Cotta, 1979, im Ullstein-Taschenbuch 1983) lautet, bricht die Schilderung der stets faszinierenden Entwicklung eines neuen Erdenlebens etwa mit dem 10. Altersjahr ab.

 

Das könnte manche Mutter zum Glauben verleiten, sie dürfe sich wieder nach einer Betätigung im Berufsleben umsehen, wenn ihr Kind (respektive das jüngste) in die 4. oder 5. Klasse kommt. Nichts könnte ein grösserer Irrtum sein. Denn im zweiten Jahrzehnt hat das Kind Mutter und Vater genauso nötig wie im ersten, muss es sich doch mit ungewohnten sexuellen Regungen auseinandersetzen, die es verwirren und unsicher lassen, wenn es nicht im Gespräch ebenso liebevoll wie bisher geführt wird.

 

Anerkennung finden und Ideale konkretisieren

 

Gleichzeitig muss der Jugendliche für seinen Betätigungsdrang neue Verhaltensmöglichkeiten und die Chancen finden, ausserhalb des Hauses, einerseits in der Schule und später in der Lehre, anderseits unter Kameraden und auch bei Erwachsenen Anerkennung zu erlangen. Damit einher geht aber auch eine Wendung nach Innen: Tagträume und Sehnsüchte konkretisieren sich in eigenen Idealen und Werten.

 

Ziel: eine positive Selbsteinschätzung

 

In der Auseinandersetzung mit der Körperlichkeit und ihrer Wirkung auf andere, mit der Entwicklung des formalen, weltanschaulichen und kritischen Denkens und mit dem Bewusstwerden sozialer Rollen und Positionen bildet sich das Selbstwertgefühl heraus. Erlebt dabei der Jugendliche nicht auf der Basis einer emotionalen Sicherheit im Elternhaus ein verständnisvolles und geduldiges Wechselspiel von Förderung und Forderung, so kann sich daraus eine negative Selbsteinschätzung ergeben, die sich nach der Pubertät in der Adoleszenz - im Übergang zum Erwachsenenalter - verheerend auswirken kann.

 

Der Vater: gefühlshafte Unterweisung

 

Die beiden Hauptaufgaben des Vaters hat schon Alexander Mitscherlich vor 20 Jahren in seiner Studie über die "vaterlose Gesellschaft" (München: Piper 1963) herausgearbeitet. Liegt die Schaffung des "Urvertrauens" (Erik H. Erikson) weitgehend bei der Mutter, so bereitet der Vater das Hineinwachsen des Kindes und Jugendlichen in die Gesellschaft vor und unterstützt es - zusammen mit der Mutter - bei seiner Ichentwicklung. Das geschieht durch Unterweisung und Frustration.

"Sobald Autonomiestreben und Initiative (zwischen dem dritten und fünften Lebensjahr) erwachen also ein Ich sich zu bilden beginnt, spielt die Unterweisung und wie affektiv sie geleitet wird für die Entwicklung des Charakterkernes, das heisst des Grundmusters von Verhaltensweisen, die bestimmende Rolle“ (219).

 

Wichtig ist dabei nicht despotische Belehrung, sondern eine sowohl gefühlsbetonte wie sachliche Einführung in den Umgang mit Menschen, Dingen und Ideen. Versteht es der Vater, dies dem Kind zum Erlebnis werden zu lassen, so kann als Ergebnis folgende festgestellt werden:

"Ein Entfaltungsschema geordneten Verhaltens das wir Gewissen (Über-Ich) nennen, wäre angelegt, und zweitens: ein Stück Bewältigungspraxis des Lebens wäre vom Vater auf den Sohn übermittelt worden" (224).

 

Die Gefühlshaftigkeit in dieser "Sozialbildung" des jungen Menschen ist notwendig für die Wertorientierung. Nur sie erlaubt eine Fixierung im Gewissen. Und nur sie bildet die Basis für die "emotionale Einstellung zur Berufswelt und das Engagement in der Gesellschaft" (426).

 

Auseinandersetzungen und schmerzliche Erfahrungen bleiben freilich beiden Seiten nicht erspart: Beide erleben in Konkurrenz, Misstrauen und Bewunderung, in Furcht, Neid und Zuneigung eine "Ambivalenz der Gefühle".

 

Versöhnliche Frustration

 

Diese Austragung von Konflikten darf weder auf die Schule noch Freundschafts- oder Nachbarschaftsgruppen abgeschoben werden:

"Es gibt keinen Ersatz für die Vaterbeziehung. Versteht der Vater seine Rolle und weist er dem Kind die seine an, dann kann es ihm die Ansätze zu seiner eigenen planenden Weitsicht absehen und auch, wie man Fehlschläge erträgt. Der Vater muss frustrieren, aber er kann es auf eine nicht ersetzbare Weise, in der Forderungen versöhnlich bleiben. Es sind die wechselseitigen glückenden Gefühlsbindungen zwischen Mutter, Kind und Vater, für welche Vater wie Mutter die Erlebnisvoraussetzungen schaffen, die es ihnen erlauben, erziehend zu fordern und mit den Forderungen zu versöhnen“ (427).

 

Forderungen werden wie die Gefühle stets ambivalent bleiben: Sie pendeln je nach Zeitpunkt und Situation zwischen Wachsamkeit und Pflichterfüllung, zwischen Eigenleistung und Gehorsam, aber auch zwischen Kritik und Selbstkritik, mehr Denken und mehr Fühlen, hin und her.

Der Forderung nach Initiative, schöpferische Ideen und Übernahme von Verantwortung stehen diejenigen nach Einordnung in das Gegebene, Anerkennung der Tradition und Berücksichtigung von Vorurteilen entgegen. Toleranz - als Achtung jeder ehrlichen Überzeugung, Bedürfnisse und Strebungen des andern - ist daher die Grundforderung.

 

Die Herausforderung: partnerschaftlich zum Partner erziehen

 

Daraus ergibt sich für Vater und Mutter der Auftrag, über 20 lange und doch so kurze Jahre mit ihren Schützlingen eine nach Entwicklungsstufen stets ändernde Partnerschaft durchzuhalten.

(Gibt es im menschlichen Leben eine schönere Aufgabe?)

Es kann keine grössere Herausforderung sein, ein junges Leben so weit zu begleiten, bis es aus eigener Kraft und Überzeugung selber vollwertiger Partner eines gegengeschlechtlichen Menschen, einfühlsamer Partner dann eines neu sich entwickelnden Lebewesens und kompetenter Partner im Beruf zu sein vermag.

 


Return to Top

Home

E-Mail



Logo Dr. phil. Roland Müller, Switzerland / Copyright © by Mueller Science 2001-2016 / All rights reserved

Webmaster by best4web.ch