HomeWas haben Herbart (1806) und Poincaré (1902-08) wirklich gesagt?

 

 

Johann Friedrich Herbart

 

Nach seinen Studien in Jena wurde Johann Friedrich Herbart im Jahre 1797 Erzieher der drei Söhne des ehemaligen Landvogts von Interlaken, H. von Steiger, in Bern.

Doch die Kriegswirren führten dazu, dass er schon Anfang 1800 nach Deutschland zurückkehrte, kurz nachdem er Pestalozzi kennen- und schätzen gelernt hatte. Er publizierte viel über Pestalozzi und wurde mit 29 Jahren (1805) ausserordentlicher Professor in Göttingen.

Ein Jahr später erschien seine "Allgemeine Pädagogik", deren Grundgedanken in Bern entstanden waren. 1809 übernahm er den Lehrstuhl Kants in Königsberg. 1816 gab er hier sein "Lehrbuch zur Psychologie" heraus, 1824-25 die zwei Teile seiner "Psychologie als Wissenschaft, neu gegründet auf Erfahrung, Metaphysik und Mathematik", 1828-29 die zwei Bände seiner "Allgemeinen Metaphysik".

Von 1833 bis zu seinem Tod 1841 wirkte er erneut in Göttingen.

 

Das Wechselspiel von Vertiefung und Besinnung

 

Seine "Allgemeine Pädagogik aus dem Zweck der Erziehung abgeleitet" (1806) ist ein Handbuch für Erzieher.

"Erziehung durch Unterricht" zielt auf "Vielseitigkeit des Interesse" ab. Diese Vielseitigkeit ist weder Vielgeschäftigkeit noch Flattersinn, vielmehr erwächst sie aus einem Wechselspiel von Vertiefung und Besinnung.

Vertiefung besteht in der Hingabe an die Sachen. Jede schliesst im zeitlichen Verlauf die andere aus. Also muss die Besinnung eine Fülle von Vertiefungen zusammenfassen. "Wie viele zahllose Übergänge dieser Art wird das Gemüt machen müssen, ehe die Person, im Besitz einer reichen Besinnung und der höchsten Leichtigkeit der Rückkehr in jede Vertiefung, sich vielseitig nennen darf!"

 

Für die Bewegung des Gemüts hat Herbart vier Stufen aufgestellt und folgendermassen angesetzt: "Die Vertiefungen sollen wechseln; sie sollen ineinander und in die Besinnung übergehen; die Besinnung wiederum in neue Vertiefung. Aber jede für sich, ist ruhend.

 

(1) Die ruhende Vertiefung, wenn sie nur reinlich ist und lauter, sieht das Einzelne klar ...

 

(2) Der Fortschritt einer Vertiefung zur andern associiert die Vorstellungen. Mitten unter der Menge der Associationen schwebt die Phantasie; sie kostet jede Mischung ...

 

(3) Ruhende Besinnung sieht das Verhältnis der Mehrern; sie sieht jedes Einzelne, als Glied des Verhältnisses, an seinem rechten Ort. Die reiche Ordnung einer reichen Besinnung heisst System. Aber kein System, keine Ordnung, kein Verhältnis ohne Klarheit des Einzelnen. Denn Verhältnis ist nicht in der Mischung; es besteht nur unter getrennten und wieder verbundenen Gliedern.

 

(4) Der Fortschritt der Besinnung ist Methode. Sie durchläuft das System, produziert neue Glieder desselben und wacht über die Konsequenz in seiner Anwendung ... Methode ist für die meisten ein gelehrter Name; ihr Denken schwankt unsicher zwischen Abstraktion und Determination, es folgt dem Reize anstatt den  Beziehungen; sie associieren Ähnlichkeiten und reimen Dinge auf Begriffe, wie in Knittelversen."

 

"Um also das Gemüt stets beisammen zu halten, schreiben wir vor allen Dingen dem Unterricht die Regel vor: in jeder kleinsten Gruppe seiner Gegenstände der Vertiefung und Besinnung gleiches Recht zu geben; also

  • Klarheit jedes Einzelnen
  • Association des Vielen
  • Zusammenordnung des Associierten
  • und eine gewisse Übung im Fortschreiten durch diese Ordnung  nacheinander gleichmässig zu besorgen."

 

Nun ist das Interesse nicht dasselbe wie die Begehrung, welche zur Tat treibt. Das Interesse hängt am Gegenstand, das Begehren disponiert darüber. Quer zu den vier Stufen des Zuschauens stehen daher die vier Stufen des Strebens:

  • Merken
  • Erwarten
  • Fordern
  • Handeln.

 

Der Unterricht teilt sich einerseits auf in "Gruppen von Gegenständen" (Lehrfächern) und Teile von solchen (Unterrichtsgegenstände), anderseits artikuliert er sich: "Die grössern Glieder setzen sich aus kleinern zusammen, wie die kleinern aus den kleinsten. In jedem kleinsten Gliede sind vier Stufen des Unterrichts zu unterscheiden, denn er hat für Klarheit, Association, Anordnung und Durchlaufen dieser Ordnung zu sorgen."

 

Ausbildung der Sittlichkeit

 

Dies alles betrifft nur die eine Seite des Unterrichts, nämlich Erkenntnis und Teilhabe. Die andere Seite ist die "Charakterstärke der Sittlichkeit", die ebenfalls ausgebildet werden muss, und zwar hat hiefür Herbart ein analoges Viererschema entworfen:

  • Gedächtnis des Willens
  • Wahl
  • Grundsatz
  • Kampf

 

und:

  • sittliche Beurteilung
  • Wärme
  • Entschliessung
  • Selbstnötigung.

 

Ziel ist die "pragmatische Konstruktion der sittlichen Lebensordnung". Dabei muss der Erzieher dazu gelangen, für die Jugend eine Lebensart einzurichten, "wobei sie nach eignem, und zwar nach eignem richtigen Sinn, eine in ihren Augen ernste Wirksamkeit betreiben kann." Und dazu gehört "die Kraft, sich selbst darzustellen und festzuhalten, worauf der Charakter beruht.'

 

Herbarts Pädagogik hatte im ganzen 19. Jh. eine grosse Bedeutung, seine Psychologie wirkte auf Fechners Psychophysik und die Sprachwissenschaft von Lazarus und Steinthal, ja sogar auf Sigmund Freud (vermutlich via Theodor Meynert).

 

 

 

Henri Poincaré

 

Henri Poincaré (1853-1912) ist vor allem bekannt geworden durch seine drei Bücher:

 

La science et l'hypothèse. Paris 1902;
dt.: Wissenschaft und Hypothese.
Leipzig: Teubner 1904;
engl.: Science and hypothesis.
London, New York: Scott 1905.

La valeur de la science1905, zahlr. Aufl. bis Paris: Flammarion 1994;
dt.: Der Wert der Wissenschaft.
Leipzig: Teubner 1906, 3. ed. 1921;
engl.: The value of science.
New York: Science Press 1905; Reprint New York: Dover 1958.

Science et méthode. Paris: Flammarion 1908;
dt.: Wissenschaft und Methode. Leipzig 1914; Reprint Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1973;
engl.: Science and method 1914; Reprint London: Routledge/ Bristol: Thoemmes Press 1996

 

Es waren weniger die Philosophen, als vielmehr die Naturwissenschafter, welche seine Ansichten aufgenommen haben. Er definiert im ersten Buch:

 

"Die Methode der physikalischen Wissenschaften beruht auf der Induktion, welche uns die Wiederholung einer Erscheinung erwarten lässt, wenn die Umstände sich wiederholen, unter welchen sie sich das erste Mal darbot."

Aber: die Umstände werden sich nicht alle auf einmal wiederholen.

 

Konventionalismus

 

Poincaré ist Begründer des Konventionalismus:

"Die geometrische. Axiome ... sind auf Übereinkommen beruhende Festsetzungen; ... sind nur verkleidete Definitionen" (51).

"Unsere Geometrie ist nicht wahr, sondern sie ist vorteilhaft" (90, ähnl. 138).

Ebenso ist das physikalische "Prinzip der Gleichheit der Wirkung und der Gegenwirkung" nicht ein experimentelles Gesetz, sondern eine Definition (102).

 

Diese Übereinkommen sind aber nicht willkürlich, sondern sie beruhen auf Annahmen, die von Experimenten herkommen (112). Denn: "Das Experiment ist die einzige Quelle der Wahrheit" (142).

Und ein gutes Experiment "ist ein solches, welches uns voraussehen lässt, d. h. ein solches, welches uns erlaubt zu verallgemeinern" (144). "Dank der Verallgemeinerung lässt uns so jede beobachtete Tatsache eine grosse Anzahl anderer voraussehen; nur dürfen wir nicht vergessen, dass die erste allein gewiss ist, die anderen alle nur wahrscheinlich sind" (145).

 

Jede Verallgemeinerung setzt "bis zu einem gewissen Grade den Glauben an die Einheit und die Einfachheit der Natur" voraus (147). Aber: "Es ist nicht sicher, dass die Natur einfach ist" (147). Daher "wird meist jedes Gesetz für einfach gehalten, bis das Gegenteil bewiesen ist" (148).

 

"Jede Verallgemeinerung ist eine Hypothese", und sie "muss immer sobald als möglich und so oft als möglich der Verifikation unterworfen werden; es ist selbstverständlich, dass man sie ohne Hintergedanken aufgeben muss, sobald sie diese Prüfung nicht besteht" (152). Letzteres ist "eine unverhoffte Gelegenheit zu einer Entdeckung" (152). Eine umgestossene Hypothese gibt Anlass zu neuen Experimenten. Hätte man diese nur zufällig gemacht, hätte man keine Schlüsse daraus gezogen (153).

 

Wenn zwischen zwei Theorien ein Widerspruch liegt, dann liegt er "in den Bildern ..., deren wir uns an Stelle der wirklichen Objekte bedient haben" (164).

 

"Maxwell gibt keine mechanische Erklärung für die Elektrizität und den Magnetismus; er beschränkt sich darauf zu beweisen, dass diese Erklärung möglich ist" (215).

 

Die mathematische Erfindung

 

"Wissenschaft und Methode" (1908) vereinigt eine Anzahl von Aufsätzen zur wissenschaftlichen Methode, darunter auch über den "psychologischen Mechanismus" der mathematischen Erfindung. "Die Beobachtung der Arbeitsweise des Mathematikers ist für den Psychologen ganz besonders lehrreich" (1).

 

"Die Wichtigkeit einer Erfindung richtet sich also nach ihrem Nutzeffekt, d. h. nach der Quantität am Denken, die sie uns erspart" (19).

 

Im Kapitel "Die mathematische Erfindung" (35-52) schildert Poincaré folgendes:

Ein mathematischer Beweis beruht auf Syllogismen, "die in eine gewisse Ordnung gebracht sind." Das "Gefühl für diese Ordnung" ist Intuition; es lässt "uns verborgene Relationen und Harmonien erraten" (38f).

 

"Erfinden heisst, klar ausgedrückt: Keine unnützen Kombinationen konstruieren, sondern nur diejenigen konstruieren, welche von Nutzen sind ... Erfinden heisst ausscheiden, kurz gesagt: auswählen ... Wie man bei diesem Auswählen vorgeht, habe ich schon oben erklärt; diejenigen mathematischen Tatsachen, welche das Studium lohnen, sind solche, welche durch ihre Analogie mit anderen Tatsachen imstande sind, uns zur Kenntnis eines mathematischen Gesetzes zu führen; das geschieht also in derselben Weise, wie uns die experimentellen Tatsachen zur Kenntnis eines physikalischen Gesetzes führen" (40).

 

Den Ablauf einer neuen Entdeckung beschreibt Poincaré wie folgt:

 

  • bewusste Arbeit (z. B. etwas zu beweisen suchen)
  • unbewusste Arbeit (die Gedanken überstürzen sich)
  • bewusste Arbeit
  • plötzliche Inspiration, Erleuchtung
  • weitere bewusste Arbeit (Ausarbeitung der Resultate)

 

Die unbewusste Arbeit wird dabei vom "sublimen Ich" getan. "Es arbeitet nicht rein automatisch, es hat die Fähigkeit zu unterscheiden, es hat Feingefühl; es kann auswählen, es kann ahnen." (46).

 

Graham Wallas ("The art of thought", 1926) hat daraus ein Verlaufsschema des kreativen Denkens abgeleitet:

  • preparation
  • incubation
  • illumination
  • verification.

 

[zusammengestellt im Oktober 1984]



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