Home Natur und Kultur als Systeme - statt Ganzheiten

                     Einige Antworten und offenen Fragen

 

 

Der "ganze Mensch" steht sechserlei gegenüber:

 

1. sich selber: seinen Bedürfnissen, Strebungen und Interessen, Ängsten und Sehnsüchten, Leiden und Freuden, Kenntnissen und Fähigkeiten, Handlungen und Erzeugnissen

2. andern Menschen: Verwandten, Geliebten, Fremden, Bekannten und Unbekannten mit analogen Bedürfnissen, usw., einzeln und in Gruppen, Ensembles, Mannschaften

3. künstlichen Objekten: von privaten und öffentlichen Gütern und Diensten über Organisationen, Unternehmen und Institutionen bis zu Kulturgütern wie Ideen, Konventionen, Gesetzen, Ideologien

4. natürlichen Objekten: von Tieren, Pflanzen und Böden über Biotope und Landschaften bis zum Sternenhimmel

5. aktuellen wie historischen Erscheinungen und Abläufen von unterschiedlichstem Abstraktionsgrad, verschiedenster Sicht- und Spürbarkeit

6. der Transzendenz, Gott oder Göttern, einer höheren, unerklärlichen Macht, Geheimnissen, dem Schicksal, dem Leben und Sterben.

 

Schon diese grobe Skizze stimmt nachdenklich: "Meine" eigene Fülle steht der verwirrenden Vielfalt der "Welt" gegenüber; beide Seiten sind unausschöpflich.

 

Es ist heute Mode, all dies als "Systeme" zu betrachten. Einer der berühmtesten Soziologen zwischen 1950 und 1980, Talcott Parsons, fächert folgendermassen auf:

 

1. das allgemeine Handlungssystem mit zwei Realitätssystemen als Umwelt:

a) physische Umwelt, mit physikalisch und chemisch einzuordnende Erscheinungen und der Welt lebender Organismen

b) die "letzte Realität", das "Sinnproblem" für menschliches Handeln,

 

2. Das Handlungssystem selber hat vier Bestandteile oder Subsysteme:

  • soziale Systeme, die eine Umwelt aus drei Bestandteilen haben, nämlich
  • kulturelle Systeme
  • Persönlichkeitssysteme
  • Verhaltensorganismen.

 

3. Ein besonderer Typus von sozialen Systemen, nämlich solche mit höchster Selbstgenügsamkeit, sind Gesellschaften. (Die römisch-katholische Kirche dagegen hat eine sehr geringe Selbstgenügsamkeit.)

Sie bilden heute alle zusammen "das System moderner Gesellschaften".

Eine Gesellschaft ist ihrerseits in vier Subsysteme teilbar:

  • gesellschaftliche Gemeinschaft (Normensystem); sie bildet den Kern für
  • Normenerhaltung (Wertsysteme)
  • politisches Gemeinwesen
  • Wirtschaft.

 

Das ist viel komplizierter als es uns heute z. B. Frederic Vester oder Fritjof Capra weismachen. Diese Subsysteme sind auch nicht bloss "vernetzt". Da sie nämlich durch Abstraktion definiert resp. bloss analytisch voneinander getrennt worden sind, durchdringen sie alle einander in Wirklichkeit. Manche Objekte und Erscheinungen oder weitere Systeme (z. B. Verwandtschaft- oder Rechtssysteme) gehören zwei oder drei der erwähnten Subsysteme an. Überdies besteht jedes Subsystem aus anderen Komponenten. Da ist mit Kybernetik und Regelkreisen wenig auszurichten; diese sind zu einfach gegenüber den realen Verhältnissen, Austauschprozessen, Mechanismen und dem Wandel der Komponenten.

 

Die Systembetrachtung hat die "Ganzheit" aus den Augen verloren

 

Das Hauptproblem der Systembetrachtung liegt darin, dass wir für real halten, was bloss abstrakte Konstruktionen in unserem Kopf sind. Gewiss, Organismen sehen wir, ja wir "schauen", wie es Adolf Portmann so eindrücklich beschrieben hat, ihre Gestalten und ihre "Selbstdarstellung". Aber einen Staat oder ein Unternehmen als "produktives soziales System" (Hans Ulrich 1968) hat noch niemand "gesehen". Daher haben wir auch Mühe mit ihrer Ganzheit - auch wenn sich die vor 40 Jahren [1948] von Ludwig von Bertalanffy begründete "General System Theory" als "a new scientific doctrine of 'wholeness'“ bezeichnet und Hans Ulrich den Systemansatz als neue, verbesserte Form früherer "ganzheitlicher Betrachtungsweisen" sieht.

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Früher liess man jedoch eine Ganzheit sich selber präsentieren. So definierte Goethe (1807) seine Morphologie als Gestaltbetrachtung:

 

"Das Unorganische, das Vegetative, das Animale, das Menschliche deutet sich alles selbst an, es erscheint als das, was es ist, unserm äussern, unserm inneren Sinn. Die Gestalt ist ein Bewegliches, ein Werdendes, ein Vergehendes. Gestaltenlehre ist Verwandlungslehre."

 

Ein Hauch davon hat sich bei Talcott Parsons erhalten.

Bei Hans Ulrich heisst es dagegen: "Die Ganzheit, die man betrachten will, wird als System bezeichnet, das möglicherweise Bestandteil eines grösseren 'Supersystems' bildet; Teile des Systems können als 'Subsystem' aufgefasst werden." Element ist "die kleinste uns interessierende Einheit im System, die wir nicht weiter analysieren können oder wollen". Nun stellt sich die Frage, "wann wir bei gegebener Zielsetzung einer Betrachtung mit Recht von Element, Subsystem, System und Supersystem sprechen können, wo also die Grenzen eines Systems jeweils zu ziehen sind". Antwort: "Ein System bzw. Subsystem liegt dann vor, wenn innerhalb dieser Gesamtheit ein grösseres Mass von Interaktionen oder Beziehungen besteht als von der Gesamtheit aus nach aussen."

 

Die Goethesche Gestalt oder das Ganze, das nach Aristoteles "ursprünglicher als der Teil" oder "noch etwas anderes ausser den Elementen" ist, hat damit ausgespielt. Der Verdacht besteht, dass man in der Managementlehre einfach die alten Abteilungen oder "Funktionsbereiche" in "offene Subsysteme" umgetauft hat.

Zudem wurde der Systemansatz nicht durchgehalten. Das hatte zur Folge, dass man die einzelnen Subsysteme in althergebrachter Manier isoliert betrachtete und die vielbeschworenen vielfältigen Beziehungen zwischen ihnen und die Probleme der gegenseitigen Abstimmung ihrer In- und Outputs, ihrer Kapazitäten und Vorgaben wenig beachtete.

 

In den 70er Jahren schoben sich die Idee der Portfolioanalyse und des strategischen Managements quer hinein. Statt in Abteilungen sollten man nun in „strategischen Geschäftseinheiten“ denken. Damit zerfiele der Zusammenhalt des „ganzen“ Systems weiter.

Neue Verwirrung brachte der Einbezug von "Evolution" und "Selbstorganisation“ in die Managementtheorie der 80er Jahre. Läuft denn alles "von selbst"? Wenn nein, wie muss ich dann Systeme gestalten und lenken, dass sie sich selbst entwickeln und organisieren? Wie und worauf wirke Wettbewerbsdruck und staatliche Regulative, Ressourcenverzehr und Zerstörung der – auch für den wirtschaftenden Menschen notwendigen – Lebensgrundlagen?

 

Andere Lösungen: Organismen oder Maschinen

 

Dieselben Paradoxien von "Laisser faire" und Eingreifen, inneren und äusseren Erfordernissen zeigt sich auch bei politischen und ökologischen Systemen. Wir sind heute mehr denn je von einem Verständnis entfernt. Die New-Age-Vision einer Erde, die trotz Ökokatastrophen durch Selbstregulation überlebt, "weil ihre lebenswichtigen Organe im Zentrum der Erde liegen" (Gaia-Hypothese 1979) bleibt ein frommer Wunsch.

 

Immerhin deutet dies auf eine andere Auffassung hin: die Betrachtung des Kosmos oder des Staates, von Gesellschaft, Wirtschaft oder Kultur als "Organismus". Solches geht erneut auf die alten Griechen - insbesondere Platon und die Stoa zurück - und erlebte im letzten [19.] Jahrhundert einen richtigen Boom.

Ausläufer davon finden sich im "Universalismus" des Wieners Othmar Spann (seit 1911) und in der Forderung nach "organischer Wirtschaft" des in St. Gallen lehrenden Ökonomen Arthur Lisowsky (1932).

 

Die Frage ist nur, fasst man den Organismus als "beseeltes Lebewesen" mit Gliedern – wie Kopf, Arme, Beine, Rumpf - und Organen - wie Gehirn und Nervensystem, Herz und Kreislauf, Sinnesorgane und Eingeweide – auf oder wie es seit dem 17. Jahrhundert (Descartes) zunehmend Brauch wurde, als Mechanismus oder Maschine?

 

Bei der ersteren Version, wo angeblich "das Ganze über die Teile dominiert", besteht die Gefahr des Totalitarismus.

Die zweite Version führte zum Systemdenken resp. zur ",kybernetischen Maschine", bei der niemand so recht weiss, wer wo und woran herumhebelt. Kommt dazu, dass man allmählich gemerkt hat, dass der Beobachter oder Manipulator – wie beim Organismus - selber Teil des Systems ist, das er untersuchen oder regeln möchte. Ausser technischen Systemen (Maschinen, Computer) sind alle Systeme "selbstreferentiell", heisst es neuerdings (unter Bezug auf H. R. Maturana, seit 1974: Peter M. Hejl, 1982).

 

Ob "der" Staat oder "die" Gesellschaft ein "Wesen" mit eigener Würde sei oder eine "höhere" Existenzform als das Individuum habe, ist immer wieder diskutiert worden. Die Systembetrachtung jedenfalls zeigt, dass sich der einzelne nicht vom System ausnehmen kann.

Konkret: Die Geschäftsleitung ist Teil des Systems, das sie steuern möchte, der Politiker ist selber Teil dessen, was er regulieren möchte. Das gilt aber auch für die Arbeitnehmer und Bürger. Wer das "System" - egal ob Staat oder Gesellschaft, Wirtschaft oder Unternehmen - kritisiert, gehört selbst dazu, trägt es durch mannigfache Aktivitäten mit und profitiert davon, auch wenn er "ausgestiegen" ist.

Dessen war sie "die Bevölkerung" früher bewusster. Das Systemdenken hat das Vergessen nicht aufhalten können - vielleicht weil es eben gar nicht richtig praktiziert wurde.

 

Biosphäre und Menschheit als Ganzheiten

 

Ein wichtiges Erfordernis wäre jedenfalls, unter Berücksichtigung des eben Erwähnten, die "grossen" Systeme, insbesondere Biosphäre (Leben/ Erde) und Menschheit (Gesellschaft/ Kultur) ernsthaft als Ganzheiten zu betrachten.

Das "globale Dorf" (M. McLuhan, 1962)  und das "Raumschiff Erde" (E. P. Odum, 1963) sind heute nun einmal Tatsachen, nicht blosse Platitüden. Nur von da aus kann man Kulturbereiche "ausgliedern" und stufenweise über Nationen resp. Volkswirtschaften zu Gemeinden resp. Unternehmen herabsteigen.

 

Jeder Mensch ist eine Persönlichkeit

 

Nicht zu vergessen ist dabei: Jeder der über fünf Milliarden Menschen ist eine Persönlichkeit. Was er denkt und produziert, sind "Hilfsmittel" zur Weltdeutung und Fristung seines Lebens.

"Herr" über die Welt, über seinesgleichen und über sich selber ist er nur bedingt, teil-weise, d. h. als Teil von grösseren Ganzen.

 

Damit beginnt sich der Kreis unserer Betrachtung zu schliessen. Die "Schau" ist die unvermittelte Beziehung zur Umwelt. Der Mensch ist aber auch fähig, darüber zu reflektieren, wie seine Beziehungen zur "Welt" grundsätzlich aussehen.

 

(Zusammengestellt im Herbst 1988)

 



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