Home Der Wunsch, ganz zu sein

 

 

"Wonach sehnen sich die Menschen? Es ist der Wunsch, ganz zu sein, das Bedürfnis nach einem unzerstückten Leben. Das alte Wort der religiösen Sprache 'Heil' drückt genau dieses Ganz-Sein, Unzerstückt-Sein, Nicht-kaputt-Sein aus. Dass die kaputten Typen - und wer rechnet sich nicht zuzeiten dazu? - den Wunsch haben, ganz zu sein, ist nur verständlich. Es ist zugleich der Wunsch nach einem Leben ohne Berechnung und ohne Angst, ohne äussere oder bereits verinnerlichte Erfolgskontrolle, ohne Absicherung.

Vertrauen können, hoffen können, glauben können - alle diese Erfahrungen sind mit einem intensiven Glücksgefühl verbunden, und eben um dieses Glück des Ganzseins geht es in der Religion."

 

"Der Wunsch, ganz zu sein, ist nicht der Wunsch des schwachen, frustrierten, verachteten und sich selbst verachtenden Individuums, sondern gerade der wachsende Wunsch, der aus einem ganz erfüllten Leben kommt. Die grösste Vollkommenheit des Menschen ist sein tiefster Mangel: Gottes zu bedürfen - das heisst: seine Bedürfnisse wachsen ständig nach, keine Erfüllung kann sie stillen. Dass wir 'Gottes' bedürfen, drückt diese unstillbare Sehnsucht aus.

Der Schmerz um das noch ausstehende Reich Gottes ist zugleich der grösste Reichtum des Menschen. Dieser Schmerz kann sich aber als ein das Ganze betreffender nicht anders als theologisch-politisch artikulieren ...

 

Der Sinn des Ganzen, die Aufhebung des Nihilismus, die Motivation für das Leben werden nicht im Eingehen des Individuums in das Ur-Eine gefunden, der Sinn ist nicht erfüllt im Eingehen der Seele in Gott, sondern der Sinn wird in die Interaktion gelegt.

'Gott ist Liebe' ist die christliche Antwort auf die Frage nach dem Sinn, und dieser allgemeine Satz findet seine Konkretion in den geschichtlichen Erfahrungen der Befreiung. Glaube als Anteilhaben an dieser Sinndeutung ist ein unendliches Ja, das alle Formen des Lebendigen einschliesst und Einheit unter ihnen stiftet. Je umfassender das Ja, desto grösser die Nähe zu den Menschen; die Solidarität ist der menschlichste Ausdruck der Gottesliebe."

 

Dorothee Sölle in: Religionsgespräche 1975.

 



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