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                     Biologische und prähistorische Annäherungen an das ganzheitliche Denken

 

Inhalt

Ganzheitliches Leben in der Natur?

Haben Pflanzen eine Seele?

Ganzheitliches Handeln in der Natur?

Die Natur gibt uns Anleitung, nicht Rechtfertigung

Woher kommt der Mensch?

Mythen – Fernöstliches - Okkultes

Das Problem der Zeitvermischung

Vom „Proconsul“ über den Aasfresser zum arbeitsamen Bauern

Der Marxismus und das Matriarchat

„Gott eine Frau?“

Fazit

 

 

Ganzheitliches Leben in der Natur?

 

Schon in einer einfachen Zelle finden zahlreiche Vorgänge nach dem Prinzip der Arbeitsteilung und des Austausches statt. Sie dienen der Erhaltung des Ganzen, der Zelle als eines selbständigen lebenden Systems. Zellen selber können sich als Bestandteile von Zellkolonien oder Organismen "differenzieren", d. h. spezifische Funktionen im Rahmen des grösseren Ganzen übernehmen. Meist bilden sie mit ihresgleichen Gewebe, die sich zu Organen zusammenschliessen.

Erstaunlich ist bei der Vermehrung von Zellen und Fortpflanzung von Organismen, dass immer wieder ein neues Ganzes entsteht. Besonders eindrücklich ist, wie sich aus einer einzigen befruchteten Eizelle über die Keimentwicklung bis zur Morphogenese eine ganze Pflanze oder ein ganzes Tier bildet, die resp. das aus Abermilliarden von Zellen besteht: Aus der "prospektiven Potenz" wird ein organisiertes Wesen von ganz bestimmter Art - im doppelten Wortsinn.

 

Haben Pflanzen eine Seele?

 

Als Kennzeichen organischen Lebens gelten: Stoffwechsel, Wachstum, Vermehrung, Reizbarkeit, Regulationsfähigkeit und oft auch Bewegung. Seit der Jahrhundertwende <1900> hat man immer wieder versucht, mit empirischen Untersuchungen zu belegen, dass bereits Pflanzen eine Seele haben. Schon Erasmus Darwin verfasste 1789 ein Gedicht über die „Liebe der Pflanzen“. Nach 1850 erforschte Karl Freiherr von Reichenbach die Sensitivität von Pflanzen; Gustav Theodor Fechner schrieb über das „Seelenleben der Pflanzen“ (1848). Der Wiener Raoul H. Francé schrieb 1905 einen kleinen Bestseller über das "Liebesleben der Pflanzen", der indische Physiker Jagadis Chunder Bose veröffentlichte seine Untersuchungen unter dem Titel "Die Pflanzenschrift und ihre Offenbarungen" (1928; engl. 1914/27). Seit den 60er Jahren macht die Pflanzenpsychologie erneut Furore (vgl. Peter Tompkins und Christopher Bird: „Das geheime Leben der Pflanzen“, dt. und engl. 1973).

 

Über die Tierseele streiten sich die Gelehrten seit Descartes (1632).

 

Im Anschluss an die romantische Naturphilosophie, nach der alles belebt ist, kann man schliesslich auch die anorganische Natur beseelt denken. Das kann soweit führen, dass man von „Kristallseelen“ (Ernst Haeckel, 1917) spricht oder sogar „das Du im Kristall“ (H. Killlian, 1948) sucht.

 

Ganzheitliches Handeln in der Natur?

 

Vielleicht geht das ganzheitliche Handeln dem ganzheitlichen Denken voran. Eine wichtige Voraussetzung ist das Lernen. Schon bei winzigen einzelligen Lebewesen, beispielsweise Wimpertierchen (Ciliaten), ist es nachgewiesen worden (Sten R. Bergström 1969). Bekannter geworden sind die Lernversuche mit Würmern, z. B. Planarien, die bereits über ein Nervensystem verfügen.

Das Zusammenleben artverschiedener Organismen zu gegenseitigem Vorteil - eine Symbiose - findet sich schon bei Algen, Pilzen und Bakterien; ist der Vorteil einseitig, spricht man von Schmarotzertum (Parasitismus), z. B. Wurzelparasiten bei Pflanzen, Bakterien als Erreger von Infektionskrankheiten oder Bandwürmer und Flöhe. Staunenswert sind schliesslich die Bildung von Tierstöcken mit Arbeitsteilung - z. B. "Staatsqualle" - und von Insektenstaaten durch Kastenbildung und Kommunikation ("Sprache") bei Termiten, Ameisen und Bienen.

Das Zusammenleben unterschiedlichster Pflanzen- und Tierarten bezeichnet man als Biozönose (Lebensgemeinschaft); mit den anorganischen Faktoren ihres Lebensraums (Biotop), nämlich Boden und Klima, bildet sie ein Ökosystem, z. B. Wald, See, Hochmoor, Tundra.

 

Das soziale Verhalten von Tieren - von Fischen über Stachelraupen und Insekten bis zu Vögeln und Säugern - ist von ausserordentlicher Vielfalt. Es gibt da die ganze Spannweite von Einzelgängern und Wanderschwärmen über Schlafgesellschaften und Brutkolonien, lebenslang monogame Paare (90% der Vögel) und Harems bis zu Hierarchien in Wolfsrudeln, Hühnerhöfen und Affenhorden mit Rollenzuteilung oder Arbeitsteilung. Interessante Verhaltensweisen sind etwa Balz, Imponiergehabe und Übersprungshandlungen, Nestbau und Vorratshaltung, Brutpflege und Kampf, Kommunikation und Lernen (vgl. Biologie des Sozialverhaltens, Spektrum der Wissenschaft, 1988).

 

Wolfgang Köhler untersuchte im Ersten Weltkrieg auf Teneriffa "Lernen durch Einsicht" bei Schimpansen, Otto Koehler fand als Grundlage von Orientierungs- und Zählleistungen bei Vögeln und Säugern das "unbenannte Denken" (1935). Beide meinten, Tiere bildeten sich anschauliche Vorstellungen, Muster oder Gestalten. Konrad Lorenz untersuchte die "Gestaltwahrnehmung" und meinte, sie liege auch der menschlichen, ja sogar der wissenschaftlichen Erkenntnis zugrunde (1959).

 

Die Natur gibt uns Anleitung, nicht Rechtfertigung

 

Was haben diese paar Behauptungen - unter Vermeidung von Begriffen wie Instinkt und Anpassung - aus Biologie und Ethologie (Verhaltensforschung) mit ganzheitlichem Denken zu tun?

 

1. Das ganzheitliche Denken erfordert eine Horizonterweiterung sowohl über den Menschen als auch über die Gegenwart hinaus. Der Mensch mag sich seit Pico della Mirandola (1486) als Mittelpunkt betrachten, doch das enthebt ihn nicht der Aufgabe, eine umfassende und genetische Betrachtungsweise anzustreben.

Dabei ist der vorliegende Horizont noch gar nicht ausreichend weit gespannt.

 

Schon 1946 hat der Physiker Carl Friedrich von Weizsäcker in seiner ersten Vorlesungsreihe in Göttingen über die „Geschichte der Natur“ die zeitliche Dimension der Welt über 5 Milliarden Jahre und die räumliche über 3 Milliarden Lichtjahre ausgespannt. Dabei widmete er den kosmologischen Fragen gleichviel Platz wie der Entstehung von Erde, Leben, Seele und Mensch.

Etwas weniger systematisch hat sich bald darauf auch Norbert Wiener (z. B. „The Human Use of Human Beings“, 1950; dt.: „Mensch und Menschmaschine“ 1952) der physikalischen und biologischen Welt angenommen. Besonders am Herzen lagen ihm „Starrheit und Lernfähigkeit“ als zwei „Schemata“ (patterns) des kommunikativen Verhaltens in der Tier- und Menschenwelt. Der Ameisenstaat kann kein Vorbild für die menschliche Gemeinschaft sein, denn ersterer ist auf ein ererbtes Schema gegründet, während letztere auf Lernen aufgebaut ist. Lernen aber ist eine sehr komplizierte Form von Rückkoppelung.

 

Spätestens F. L. Boschkes Bestseller „Die Schöpfung ist noch nicht zu Ende – Naturwissenschaftler auf den Spuren der Genesis“ (1962) machte die umfassende Betrachtung der Entstehung von physikalischen und biologischen Gebilden populär. Unter dem neuen Paradigma der Evolution „vom Urknall bis zum menschlichen Geist“ (1979) leitete Erich Jantsch eine erneute Welle von übergreifenden Betrachtungen ein. Ervin Laszlo hat 1987 davon unter dem Titel „Evolution – die neue Synthese“ eine leichtverständliche Zusammenfassung gegeben.

 

2. Zentrale Fragen des ganzheitlichen Denkens lauten:

  • Gibt es "in der Natur" ganzheitliche Gebilde, Strukturen und Vorgänge, also z. B. ganzheitliche Organismen, "Gesellschaften", Entwicklungen und "handeln" diese möglicherweise ganzheitlich?
  • Steckt hinter der natürlichen Vielfalt und Entwicklungsdynamik möglicherweise eine ganzheitliche Kraft oder Macht, eine planende Intelligenz, ein ganzheitlicher "Geist"?
  • Lassen sich aus den bewundernswürdigen Leistungen der Natur Hinweise auf ganzheitliche Gestaltung gewinnen?

Bereits der in Zürich wirkende Mathematiker Carl Cullmann (nach 1870) sowie Ernst Kapp (1877) haben sich an der Natur ausgerichtet. Raoul H. Francé hat schon 1921 unter dem Titel "Bios" die „Gesetze der Welt" zusammengestellt und das biotechnische Denken gefordert. Die "Bionik" griff das Thema seit 1960 wieder auf (vgl. Lucien Gérardin: „Natur als Vorbild“, 1968; Werner Nachtigall: „Phantasie der Schöpfung“, 1974; Felix R. Paturi: „Geniale Ingenieure der Natur“, 1974). Sie verband sich mit der Kybernetik (ab 1940) zur "Biokybernetik" (vgl. Felix von Cube: „Technik des Lebendigen“, 1970; Frederic Vester: „Das kybernetische Zeitalter“, 1974; vgl. auch Hermann Haken: „Erfolgsgeheimnisse der Natur“, 1984).

 

3. Man könnte also viel von der Natur lernen, einerseits von ausgeklügelten Konstruktionen, anderseits von sinnreichen Kreisläufen. Doch für die Gestaltung des menschlichen Zusammenlebens fällt wenig ab: Die Vielfalt der natürlichen Lebensweisen ist zu gross. Der grosse Basler Zoologe Adolf Portmann meinte 1965, das Gesamtbild sei so verwirrend, dass wir "im tierischen Bereich keine Argumente für die Rechtfertigung einer bestimmten menschlichen Sozialregel finden können".

 

4. Freilich hat der Mensch von seinen tierischen Vorfahren einiges auf seinen Weg mitbekommen. Wie alle Organismen schleppen auch wir unsere Geschichte als "historische Belastung" (Irenäus Eibl-Eibesfeldt) mit uns. Nach Adolf Portmann ist das vor allem dreierlei:

  • das polare Bedürfnis nach Zusammenschluss mit anderen einerseits, nach Beanspruchung und Verteidigung eines gewissen Eigenrechts anderseits,
  • die Notwendigkeit der geschlechtlichen Begegnung, aus der neues Leben hervorgehen muss, und
  • die Bindung von Mutter und Kind.

 

5. Kulturanthropologen und Ethnologen (Völkerkundler) haben immer wieder versucht, aus ihren Beobachtungen universelle Grundlagen der menschlichen Kulturen abzuleiten, also Bedürfnisse und Regeln, die über alle Nationen und Völker hinweg gelten.

W. E. Mühlmann fasste 1968 in seiner "Geschichte der Anthropologie" die universalen Kategorien von Clyde Kluckhohn (1953) wie folgt zusammen:

1. das Bedürfnis nach Nahrung, Obdach und Haushalten,

2. das Bedürfnis nach geschlechtlicher Ergänzung und irgendeiner Institutionalisierung des männlichen und weiblichen Rollenverhaltens; universal ist dabei das Inzestverbot, Ehe- und Familienformen sind äusserst variabel (vgl. dazu Norbert Bischof: „Das Rätsel Ödipus“, 1985),

3. Bedürfnis nach Gegenseitigkeit (Reziprozität), Ausgleich auf allen Gebieten des Lebens,

4. Symboldenken, Drang nach "Ausdruck" in Tanz, Bildnerei, Sagen und Dichten,

5. ästhetische Schätzung im allgemeinen ("schön - hässlich"),

6. Ordnungs-Vorstellungen, verbindliche Normen und Begriffe ("richtig - falsch", "schicklich - unschicklich", "gut - böse" usw.), z. B. Deutung von Naturereignissen und Lebensvorgängen oder Erwartung von Loyalität zur Gruppe und Missbilligung, Gruppenmitglieder zu belügen, zu bestehlen oder zu töten.

Aber all dies ist bloss formal. Mühlmann meint, wir gelangten auf keinen wirklich verbindlichen und inhaltlich erfüllten Begriff der "menschlichen Natur" (218).

 

Woher kommt der Mensch?

 

Durch die Entdeckung Amerikas geriet die biblische Schöpfungsgeschichte ins Wanken, weil nun die Frage auftauchte, ob denn die Indianer auch von Adam abstammten, wieso sie der Sintflut entgingen, usw.?

 

Schon der Anatom Andreas Vesalius (1542) hatte den Menschen mit dem Affen verglichen. 1655 stellte der Calvinist Isaac de la Peyrère die Theorie der Präadamiten auf, wonach es schon viele tausend Jahre vor Adam Menschen gegeben hätte, von denen die Indianer abstammten. Sein Buch wurde verbrannt, er selber von der Inquisition verfolgt.

Erst die Aufklärung schuf für geschichtsphilosophische Erörterungen einen günstigeren Boden. (Allerdings durfte noch Teilhard de Chardin, gestorben 1955, zu Lebzeiten keine einzige Zeile veröffentlichen.)

 

1699 sah der Anatom Edward Tyson den Pygmäen als ein Bindeglied zwischen Mensch und Affe.

Giambattista Vico leitete in seiner 1725 erschienenen „Scienza nuova“ (endgültige Fassung 1744) den Reigen der Stufentheorien ein. Bei ihm durchlaufen alle Völker das sakrale, das heroische und das humane Stadium, um dann wieder in die Barbarei zurückzusinken.

Gegenüber diesem zyklischen Ablauf der Völker und Kulturen versuchte Voltaire in seinem voluminösen Hauptwerk „Essai sur les moeurs et l’esprit des nations“ (1756) die Entfaltung der Weltgeschichte als Kampf des Menschen um Fortschritt und Bildung zu erweisen.

David Hume (1757) und andere versuchten eine psychologische Deutung der "Naturgeschichte der Religion". Karl von Linné (ab 1735) stellte den Menschen erstmals ins Tierreich. J. G. Herder setzte seine Erörterungen über die Anfänge der Menschheit (in den „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, 1784-91) ungeniert mit dem Vergleich des Menschen mit dem anthropomorphen Affen (Orang-Utan) ein.

Auguste Comte (1822) meinte, die Menschheit durchlaufe nacheinander den theologischen, den metaphysischen und den positiven Zustand.

 

Lewis H. Morgan (1851), Johann Jakob Bachofen (1861) und John Ferguson MacLennan (1865) beschrieben das Mutterrecht in den Anfängen der menschlichen Gemeinschaft. Friedrich Engels popularisierte "L. H. Morgans Forschungen" in seiner Schrift "Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates" (1884). In seiner grossangelegten Kulturgeschichte - "Ursprung und Gegenwart" (1949/53) -unterschied Jean Gebser fünf Bewusstseinsstrukturen: archaisch, magisch, mythisch, mental und integral.

 

Demgegenüber greift Morris Berman ("Wiederverzauberung der Welt" 1983, engt. 1981) kürzer, wenn er das "partizipierende Bewusstsein" dem Rationalismus gegenüberstellt. Die erste Periode der Partizipation ist die mythologische (seit dem Auftreten des Cro-Magnon-Menschen vor 40'000 Jahren). In der "Odyssee" kündet sich der erste Bruch damit an. Der griechische Rationalismus gelangte in Platon rasch zur Blüte, verebbte aber wieder und machte im Mittelalter einer zweiten Art der Partizipation, dem Animismus, Platz. Sein Ausdruck war die Alchemie, die bis Newton die Forschung bestimmte. Ab 1500 brach der Rationalismus erneut auf und wurde in seiner mechanistischen Ausprägung zunehmend beherrschend.

 

Mythen – Fernöstliches - Okkultes

 

Die vergleichende Mythologie - mit "haarsträubenden Etymologien" (Jan de Vries 1961) - und die direkte Kenntnis der fernöstlichen Kulturen gehen ebenfalls ins 17. Jahrhundert zurück. In der Aufklärung schätzte man die "Chinoiserien" und entdeckte die griechischen Mysterienkulte (Warburton), die Gleichartigkeit der indianischen mythologischen Erzählungen mit den griechischen (De Fontenelle) und Spuren des Fetischismus im griechischen Glauben (De Brosses). In der Romantik kam erstmals das Indische zum Zuge, und man gelangte zur Auffassung, die Mythen seien schon in vorhistorischer Zeit entstanden. 1872 entzifferte George Smith das Gilgamesch-Epos und schon bald, um 1900, führte man alle Mythen der Welt auf die babylonischen (resp. sumerischen) zurück (Panbabylonismus).

 

Schon in der Aufklärung hatte aber auch die Neigung zum Okkulten die Alchemie abgelöst. Seit dem Grafen von Saint-Germain (um 1750) und Cagliostro ist Esoterik stets schwer von Scharlatanerie abzugrenzen. So auch bei Helena Petrowna Blavatsky und der von ihr 1875 gegründeten Theosophischen Gesellschaft, die wohl am meisten zur Verbreitung östlicher Weisheit im Westen beigetragen hat.

 

C. G. Jung war von Kind auf an religiösen und spiritistischen Fragen interessiert. Seine Dissertation widmete er "occulten Phänomenen" (1902). "Schon 1909 sah ich ein, dass ich latente Psychosen nicht behandeln kann, wenn ich deren Symbolik nicht verstehe. Damals fing ich an, Mythologie zu studieren", schreibt er in seiner Autobiographie ("Erinnerungen, Träume, Gedanken“, 1962). Das erste Ergebnis der praktischen Anwendung seiner neuen Erkenntnisse legte er in der Schrift "Wandlungen und Symbole der Libido" (1912) nieder, was ihm die Bezeichnung "Mystiker" und den Bruch mit Sigmund Freud eintrug.

Seither lebte er (fast) in einer anderen Welt, in der Welt der Bilder des Unbewussten, wobei er sich mit den Gnostikern so sehr wie mit dem I Ging, mit Alchemie so gut wie mit Christus beschäftigte. An den von ihm inspirierten Eranos-Tagungen in Ascona trafen sich seit 1933 Gelehrte aus Asien, Amerika und Europa.

 

Nach dem Zweiten Weltkrieg erwachte das Interesse an Urgeschichte und Mythologie, Alchemie und Okkultismus, Gurus und östlicher Weisheit aufs Neue. Disziplinen wie Wirtschafts- und Ethnoarchäologie entstanden; die Beatniks der 50er Jahre begannen zu meditieren; in den 60er Jahren diskutierten Ethologen, Anthropologen und Historiker die menschliche Aggression; in den 70er Jahren begann die Soziobiologie nach der Entwicklung des sozialen Verhaltens zu fragen, und die Frauenbewegung entdeckte erneut das Matriarchat. Schliesslich stürzten sich auch die Psychologen auf die Frühgeschichte. Der an der Zürcher Universität lehrende Norbert Bischof hat 1978 der "Phylogenese der menschlichen Moral" nachgespürt, seine Frau Doris Bischof-Köhler bald darauf der "Phylogenese der menschlichen Motivation" (dt. 1985).

 

Das Problem der Zeitvermischung

 

Wenn man fragt, was bei alledem herausgekommen ist, muss man mindestens dreierlei in Rechnung stellen:

 

1. Die Aufschlüsse und Deutungen der Archäologie sind stets fragwürdig und spekulativ. Viele Funde sind zufällig und fragmentarisch. Die Interpretation erfolgt meist im Rahmen der ideologischen Position und des kulturellen Hintergrundes des Forschers. Deshalb behauptet der Wortführer der Neuen Archäologie, Lewis R. Binford: "Die Vorzeit war ganz anders" (1984, engl. 1983).

 

2. Die Vermischung unterschiedlichster Zeit-Bereiche ist gefährlich. So vereinigte etwa Charles Darwin in seiner Deszendenztheorie (1859) mindestens viererlei:

  • anatomische Vergleiche unterschiedlichster gegenwärtig lebender (d. h. rezenter) Pflanzen und Tierarten, die zur sog. "Systematik" führten,
  • Beobachtungen über Ergebnisse von menschlichen Manipulationen an oder mit Organismen, was "domestizierte" Tiere und Kulturpflanzen ergab,
  • die Deutung von jahrmillionenalten Versteinerungen (Fossilien), vielfach von heute nicht mehr lebenden Arten, und
  • die Deutung von geologischen Formationen und Ablagerungen.

 

Dies alles baute er in einen in der Aufklärungszeit entstandenen Evolutionsgedanken und in eine aus der Ökonomie herrührende (Malthus) Spekulation über den "Kampf ums Dasein" ein.

 

Ähnliche Zeitvermischungen stecken in den Versuchen, auf Grund von Beobachtungen heute (resp. bis vor kurzem) noch lebender "primitiver" Völker und Kulturen - z. B. Irokesen und Hawaiier bei L. H. Morgan - die Anfänge der menschlichen Gesellschaft vor Jahrtausenden zu rekonstruieren. Noch grösser ist der Sprung vom Sozialverhalten heutiger Affenhorden (vornehmer: Primaten) auf das Gruppenleben der Menschen vor ein, zwei Millionen Jahren.

 

3. Analoges gilt für die Mythenforschung und Religionsgeschichte. Gerade aus der Früzeit - die mitunter, z. B. für Indien oder die Alchemie, bis ins Mittelalter geht - wissen wir sehr wenig. So liegt etwa die Bhagavad Gita erst um 800 n. Chr. in der heutigen Gestalt vor (wie übrigens auch die Edda), und C. G. Jungs Deutung der Alchemie stützt sich auf Texte, die nach 1300 entstanden sind. Oft sind Überlieferungen fragwürdig; hinzu kommt das Übersetzungsproblem. Vom "Tao-Tê-King" gibt es über 300 Textversionen. Auch von den Smaragdinischen Tafeln gibt es seit 1200 unterschiedlichste Fassungen.

 

Vom „Proconsul“ über den Aasfresser zum arbeitsamen Bauern

 

Über die 10 oder mehr Millionen Jahre lange Zeit des Übergangs vom Tier zum Menschen - also etwa über den in den 50er Jahren legendären "Proconsul", dem der Ramapithecus und der Sivapithecus folgten - schweigen sich die Forscher lieber aus. Dafür ist durch neuere Ausgrabungen die Zeit vor 4-1 Mio. Jahren ins Blickfeld geraten. Fast jedes Jahr ändern sich die Verwandtschafts- resp. Stammbaum-Hypothesen. Dem Rummel seit "Lucy" (1974) folgten 1984 Auseinandersetzungen an der Ausstellung im New Yorker Naturhistorischen Museum und 1986 ein neuer Fund "KNM-WT 17'000".

 

Vor allem vom Archäologen Glynn Isaac (1976/78) wurde das Bild verbreitet, der Mensch habe schon vor zwei Millionen Jahren kooperatives Verhalten gezeigt, nämlich in der Jagd auf Grosswild und im Teilen der Beute. Das wäre ein schönes Beispiel für ganzheitliches Handeln gewesen. Doch Lewis R. Binford zerstörte diese Idylle: "Weit davon entfernt, ein gewaltiger Jäger zu sein, war der Frühmensch allem Anschein nach der letzte, am meisten benachteiligte aller damaligen Aasfresser." Nicht einmal "Heimfluren" (Wohnstätten) hatte er damals. Und wie stand es mit dem Kannibalismus?

 

Ähnliches gilt für den Neandertaler (125'000-30'000 v. Chr.). Einst hielt man ihn für ein grobschlächtiges, behaartes Wesen. Dann entdeckte man, dass er Farbstoffe verwendete, seine Toten bestattete - mit Beigaben von Blumen - und vielleicht auch kultische Rituale praktizierte. Die Anordnung der Knochen von Höhlenbären, beispielsweise im Wildkirchli und im Drachenloch, liess an einen Bärenkult denken (vgl. noch Sigmund Widmer: „Illustrierte Geschichte der Schweiz“, 1973). Heute ist man der Ansicht, die Anordnung sei von Bären selbst erfolgt.

Das Sozialverhalten der Neandertaler soll sich bereits zwischen Zweikämpfen, die tödlich verlaufen konnten, und Fürsorge für Behinderte bewegt haben (Ralph Solecki, Erik Trinkaus).

 

Auch mit dem Cro-Magnon-Menschen, der vor 40'000 Jahren auftaucht, steht es nicht viel besser. Weil er von derselben Sorte ist, wie wir heutigen Menschen, nennt man ihn neuerdings lieber "Homo sapiens sapiens", also den doppeltweisen Menschen. Unbestritten ist, dass mit ihm eine "kreative Explosion" in die Geschichte eingezogen ist. John E. Pfeiffer hat ihr ein ganzes Buch (1982) gewidmet. Doch wie deuten wir die Frauenstatuetten, Gravierungen und Höhlenmalereien? Als Kunst, Religion oder Magie? Die "Cambridge Encyclopedia of Archaeology" (engl. und dt. 1980) spart just diese Frage aus. Die ebenso beeindruckende "Illustrierte Weltgeschichte der Archäologie" (Leone Fasani 1978) ist da viel mutiger und anschaulicher: Der Mensch drückte aus, was ihn bewegte.

 

Mit den vielen Thesen über das "sich häuslich Niederlassen" des Menschen und die Entstehung der Landwirtschaft setzte sich wiederum Binford kritisch auseinander. Erstaunlicherweise ist seine Argumentation z. T. psychologisch. Ein starkes Bevölkerungswachstum führte zu Streitereien von zunehmend mehr nomadisierenden Gruppen um Jagd- und Sammelgebiete. Was bleibt, ist die Entfaltung innerhalb eines engeren Raums. Das erfordert den Übergang zu einem System "intensiverer Produktion", also Landwirtschaft. Doch dies bringt Arbeit: Man muss Herden halten, Tiere "domestizieren", Pflanzen kultivieren.

Wie sich dann später "komplexe Gesellschaften" bildeten, die ab 3000 v. Chr. in die ersten Hochkulturen mündeten, ist ebenfalls umstritten. Binford meint, die Archäologie habe bislang keine Antwort, die einleuchte.

 

Der Marxismus und das Matriarchat

 

Weitgehend unbelastet von derartigen aktuellen Auseinandersetzungen und Forschungsergebnissen der westlichen Welt, plagen sich die marxistischen Theoretiker heute noch ausgiebig mit Lewis H. Morgan und den Thesen von Marx und Engels herum. Das zeigt sich eindrücklich im Sammelband, den das Institut für Marxistische Studien und Forschungen in Frankfurt am Main 1986 zum Thema "Matriarchat und Patriarchat - Zur Entstehung der Familie" herausgegeben hat. Da ist etwa die Rede von der "Umwandlung der Dualgentilorganisation in eine Dualphratrieorganisation und der Dualsippenehe dementsprechend in die Dualphratrieehe" (Juri I. Semjonow). Neben sowjetischen und ostdeutschen Gelehrten kommt die amerikanische Ethnographin Eleanor Leacock zu Wort. Sie geht mit den Marxisten hart ins Gericht, betrachtet aber nur die Ureinwohner auf den verschiedenen Kontinenten, nicht die Urgesellschaft. Umgekehrt ist erstaunlich, dass die marxistischen Theoretiker die vom sowjetischen Archäologen P. P. Efimenko in den 50er Jahren propagierte These unterschlagen, dass die Frauenstatuetten des Cro-Magnon-Menschen die Herausbildung einer "mutterrechtlichen Gens" belegten. Einzig aus Ruth Struwes Beitrag geht hervor, dass sie der Ethnograph L. A. Fajnberg (1975) offenbar übernommen hat, während der Archäologe G. I. Grigoriev (1972) anderer Meinung ist.

 

Heinz Grünert und Günter Suhr erwähnen in ihrer "allgemeinen Charakterisierung der vergesellschaftlichen Produktionsweise" erst beim Pflanz- und Grabstockbau (also seit ca. 10'000 v. Chr.) vorsichtig: "Der Boden war zum unmittelbaren Arbeitsgegenstand und Arbeitsmittel geworden. Das Recht auf Gemeineigentum an Grund und Boden behaupteten die mutter- bzw. vaterrechtlich organisierten blutsverwandtschaftlichen Siedlungs- und Dorfgemeinschaften. Auf dieser Grundlage beruhten Lebensrhythmus und Denken der Menschen, die konkret in allen Phasen von der Pflege und Kultur von Pflanzen und Vieh sowie den sie bedingenden Naturvorgängen beherrscht waren.“

Um 3000 v. Chr. entstanden die ersten Klassengesellschaften (Staaten), welche einerseits die umliegenden oder auch entferntere Urgesellschaften ausbeuteten, anderseits von diesen bedroht wurden.

 

„Gott eine Frau?“

 

Warum ist das Mutterrecht so wichtig? Weil es Mode ist, würden Spötter sagen. In der Tat. Seit im Jahre 1971 Elizabeth Davis Gould ihr Buch "The First Sex" (dt. 1977 und 1987) publizierte, setzte eine richtige Flut von Neuauflagen früherer Frauenliteratur und von Untersuchungen über das Matriarchat ein. Es artete schliesslich aus in Behauptungen wie "Fünf Millionen Jahre Urgeschichte der Frau" (Richard Fester et al., 1979) oder Untersuchungen wie "When God Was a Woman" (Merlin Stone, 1976), "Gott eine Frau?" (Ingeborg Hauschildt 1983; desgleichen Virgina R. Mollenkott, 1985) oder "Die Weiblichkeit Gottes" (Christa Mulack, 1988).

 

Am systematischsten hat Heide Göttner-Abendroth die Sache in ihrem Buch "Die Göttin und ihr Heros" (1980) dargestellt. Sie geht von der These aus, dass die frühesten Religionen der Menschheit matriarchal waren und dann in zwei Stufen über frühpatriarchale zu patriarchal-monotheistischen " transformiert" wurden. Die matriarchalen Gesellschaften umfassten "in ihrer Entwicklung von reinen Dorfkulturen bis zu raffinierten Hochkulturen" mindestens 4000 Jahre. Die höchste Stufe bildeten die städtisch-hochkulturellen Matriarchate von Sumer, Altpersien, Altägypten und Kreta.

 

In der matriarchalen Vorstellungswelt ist das männliche Prinzip ganz und gar eingebettet in ein weibliches Universum. Erst mit dem Aufkommen der patriarchalen Gesellschaftsform - vor allem durch die Ausbreitung der Indoeuropäer seit 2000 v. Chr. - wurde als Gegensatz auseinandergerissen, was nie als Gegensatz gedacht war, das Weibliche und das Männliche, gut und böse.

 

Fazit

 

Kulturelle Institutionen wie Mythen und Verwaltung, Verträge und Vereinigungen sind seither Versuche, diesem Mangel entgegenzuwirken und den Menschen zur Arbeit und zum friedlichen Zusammenleben anzuhalten.

 

Der Mensch ist also, wie Rousseau meinte, tatsächlich allmählich aus der Natur herausgewachsen und muss nun sein Leben in und mit der Kultur selber gestalten.

 

(Zusammengestellt im Herbst 1988)

 



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