![]() Notizen zu 51 Büchern, 1912-1986
zusammengestellt für mögliche Informationsbriefe der Fritz-Zwicky-Stiftung, 1988
siehe auch: Bücher über Morphologie
Inhalt M. Krewer: Grundlagen einer organischen Weltanschauung. 1912 Hans Driesch: Geschichte des Vitalismus. 1922 Wolfgang Köhler. Die physischen Gestalten in Ruhe und im stationären Zustand. Eine naturphilosophische Untersuchung. 1924 Ferdinand Weinhandl: Die Gestaltanalyse. 1927 Egon Brunswik: Prinzipienfragen der Gestalttheorie. 1929 Felix Krueger (Hrsg.): Ganzheit und Form. 1932 Hans Driesch: Philosophische Gegenwartsfragen. 1933 Otto Klemm (Hrsg.): Wege zur Ganzheitspsychologie. 1935/1954 Arthur O. Lovejoy: Die grosse Kette der Wesen. Geschichte eines Gedankens. 1936/1985 Kurt Grelling und Paul Oppenheim: Der Gestaltbegriff im Lichte der neuen Logik. 1937/38 Max Clara: Das Problem der Ganzheit in der modernen Medizin. 1940 Felix Krueger: Lehre von dem Ganzen. Seele, Gemeinschaft und das Göttliche. 1948 Walter Heinrich (Hrsg.): Die Ganzheit in Philosophie und Wissenschaft. 1950 Aloys Wenzl (Hrsg.): Hans Driesch. Persönlichkeit und Bedeutung für Biologie und Philosophie von heute. 1951 Felix Krueger: Zur Philosophie und Psychologie der Ganzheit. Schriften aus den Jahren 1918-1940. 1953 Theo Herrmann: Problem und Begriff der Ganzheit in der Psychologie. 1957 Albert Wellek (Hrsg.): Gestalt und Entwicklung. 1959 Konrad Lorenz: Gestaltwahrnehmung als Quelle wissenschaftlicher Erkenntnis. 1959 Ferdinand Weinhandl (Hrsg.): Gestalthaftes Sehen. Ergebnisse und Aufgaben der Morphologie. 1960 Karl Bühler: Das Gestaltprinzip im Leben des Menschen und der Tiere. 1960 Die Idee der Ganzheit in Philosophie, Psychologie, Pädagogik und Didaktik. 1965 Klaus Michael Meyer-Abich: Korrespondenz, Individualität und Komplementarität. Eine Studie zur Geistesgeschichte der Quantentheorie in den Beiträgen Niels Bohrs. 1965 Ernst Topitsch (Hrsg.): Logik der Sozialwissenschaften. 1965 Robert Mühlher, Johann Fischl (Hrsg.): Gestalt und Wirklichkeit. 1967 Armin Müller: Das Problem der Ganzheit in der Biologie. 1967 Wolfgang Köhler: Die Aufgabe der Gestaltpsychologie. 1971 Arnulf Rieber: Vom Positivismus zum Universalismus. Untersuchungen zur Entwicklung und Kritik des Ganzheitsbegriffs von Othmar Spann. 1971 G. S. Rousseau (Hrsg.): Organic form. The life of an idea. 1972 Ismail Amin: Assoziationspsychologie und Gestaltpsychologie. 1973 Klaus-Jörg Siegfried: Universalismus und Faschismus. Das Gesellschaftsbild Othmar Spanns. 1974 Suitbert Ertel, Lilly Kemmler, Michael Stadler (Hrsg.): Gestalttheorie in der modernen Psychologie. 1975 Kurt F. Bloch: Philosophie der Form des Organischen. 1976 D. C. Phillips: Holistic Thought in Social Science. 1976 Wolf-Dieter Stempel: Gestalt, Ganzheit, Struktur. Aus Vor- und Frühgeschichte des Strukturalismus in Deutschland. 1978 Karl-Heinz Menzen: Entwürfe subjektiver Totalität. Dargestellt am psychologisch-ästhetischen Gestaltbegriff des frühen 19. Jahrhunderts. 1980 Walter Birnbaum: Organisches Denken als Weg in die Zukunft. 1982 Horst H. Freyhofer: The Vitalism of Hans Driesch. The Success and Decline of a Scientific Theory. 1982 Rupert Riedl, Franz Kreuzer (Hrsg.): Evolution und Menschenbild. 1983 Walter Gebhard: "Der Zusammenhang der Dinge". Weltgleichnis und Naturverklärung im Totalitätsbewusstsein des 19. Jahrhunderts. 1984 Gerhard Linde: Untersuchungen zum Konzept der Ganzheit in der deutschen Schulpädagogik. 1984 Samson D. Sauerbier (Hrsg.): Zum veränderten Verhältnis von Kunst und Wissenschaft heute. 1984 Paul C. Vitz, Arnold B. Glimcher: Modern Art and Modern Science. The Parallel Analysis of Vision. 1984 Wilhelm Bühler et al. (Hrsg.): Die ganzheitlich-verstehende Betrachtung der sozialen Leistungsordnung. Ein Beitrag zur Ganzheitsforschung und -lehre. 1985 David Bohm: Die implizite Ordnung. Grundlagen eines dynamischen Holismus. 1985 Walter Becher: Der Blick aufs Ganze. Das Weltbild Othmar Spanns. 1985 The Natural Sciences and the Arts. Aspects of Interaction from the Renaissance to the 20th Century. 1985 Jörg A. Ott, Günter P. Wagner, Franz M. Wuketits (Hrsg.): Evolution, Ordnung und Erkenntnis. 1985 Hans-Gerd Röwer: Holismus und Elementarismus in der Systemtheorie. 1985 Reinhard Fabian (Hrsg.): Christian von Ehrenfels. Leben und Werk. 1986 John Erpenbeck: Das Ganze denken. Zur Dialektik menschlicher Bewusstseinsstrukturen und -prozesse. 1986 Michael Ewers: Philosophie des Organismus in teleologischer und dialektischer Sicht. 1986.
M. Krewer: Grundlagen einer organischen Weltanschauung. Bibliothek für Philosophie, 5. Band, Berlin 1912, 73 Seiten.
"Eine organische Weltanschauung muss vom Prinzip des Unendlichen ausgehen" (4). Die Erde ist ein Teil des unendlich grossen Weltalls.
Zwei Begriffskomplexe sind in jedem Menschen zu unterscheiden: der organische und der gottähnliche. Die Verbindung der beiden "in dem lebenden menschlichen Organismus zu einer Einheit führt zu einer organischen Weltanschauung". Das Individuum ist ein Mikrokosmos. Materie und Funktion sind die Grundelemente der Wirklichkeit, Raum und Zeit die Grundelemente der Vorstellung.
Weitere Kapitel gelten dem Denken, der Mathematik, den Analogien, dem Gesamtgehirn der Menschheit, usw.
Nach langen religiös gefärbten Erörterungen kommt der Autor zum Schluss: "So sehen wir, wie die mosaische Glaubenslehre (d. h. die 10 Gebote) mit den Grundprinzipien einer organischen Weltanschauung übereinstimmt. Man kann daher die mosaische Religion, insofern sie nicht nur eine Erkenntnis, sondern auch ein Kraftprinzip darstellt, als eine organische, das Leben fördernde und das Leben befruchtende Idee bezeichnen" (70f).
Für heutige Leser unverständlich, jedenfalls nicht biologisch.
Hans Driesch: Geschichte des Vitalismus. Leipzig: J. A. Barth 1922, 213 Seiten.
Zweite verbesserte und erweiterte Auflage des ersten Hauptteils des Werkes: "Der Vitalismus als Geschichte und als Lehre" (1905). Den zweiten, systematischen Hauptteil hatte Driesch mittlerweile im Werk "Der Begriff der organischen Form" (1919) und in der "Philosophie des Organischen" (1908/9; 2. Aufl. 1921) erneuert.
I. Der ältere Vitalismus geht von Aristoteles bis Johannes Müller. Schon Aristoteles untersuchte neben den tierischen koordinierten Bewegungen die Formbildung aus dem Keim. Vom Materialismus Demokrits hob er sich nur beiläufig ab.
Mit Galilei, Descartes und Hobbes wurde die Theorie des Lebens mechanistisch. Noch wie Aristoteles unbefangene Vitalisten waren J. B. van Helmont (um 1630), Harvey (1651) und Stahl (1707). Bei letzterem schafft sich die aktive, bewegende und vernünftige Seele den Körper, weil sie ein "instrumentum" braucht.
Seit etwa 1670 untersuchte man Zeugung, Entwicklung aus dem Keim und Regeneration. Leibniz als Philosoph steht gegen die Vitalisten, ohne Materialist zu sein. Vitalisten waren Buffon (1749), Maupertuis (1746) und Needham (1750) sowie C. F. Wolff (1759), welch letzterer eine "vis essentialis" als lebenseigene Kraft sieht. Bonnet und Haller sind dagegen Mechanisten. Blumenbach (1789) führte den "Bildungstrieb" ein.
Eingehend, d. h. auf über 20 Seiten, beschäftigt sich Driesch mit Kants "Kritik der Urteilskraft" (1790).
Nun wird die Sache schwieriger. Schelling, Hegel, Oken, Reil, Treviranus sind alle nicht sehr klar und geben wenig her. Treviranus hat 1822 das Instinktive, das "Unbewusste" als Urgrund des Lebens eingeführt.
Um 1840 starb der ältere Vitalismus aus Mangel an Gegnern. Es gab nur zwei ernst zu nehmende Kritiker: Rudolf Hermann Lotze (1842) und Claude Bernard (1878/79), ferner Emil du Bois-Reymond (1848) und Hermann von Helmholtz (3. Aufl. 1884).
II. Der neuere Vitalismus ist im Gefolge der neu erwachten Physiologie der Formbildung entstanden. Nun wurde der Vitalismus an seinen Feinden wieder gross. 1899 konnte Hans Driesch "beweisen", dass gewisse Lebensvorgänge nur autonom, also dynamisch-teleologisch verstanden werden können. 1917 wurde Driesch in seiner "Wirklichkeitslehre" zum Metaphysiker. Hier wurde der Begriff "Ganzheit" wesentlich.
So ganz klar wird nicht, worum es geht.
Wolfgang Köhler. Die physischen Gestalten in Ruhe und im stationären Zustand. Eine naturphilosophische Untersuchung. Erlangen: Verlag der Philosophischen Akademie 1924 (Vorwort: Teneriffa, im Mai 1919), 263 Seiten.
Frage : Gibt es physikalische Gestalten? (z. B. XX, 42ff, 85)
Eigenstruktur der elektrischen Ladung: "Strukturen von ruhenden Ladungen auf gegebenen physischen Formen sind physikalische Gestalten" (68).
Die Kelvinsche Methode der "elektrischen Bilder" (94, 104): "Wir sehen, dass eine geometrische Eigenschaft der beiden physischen Formen durch die Ladungsmomente als einfachste physische Gestalt in einem gewissen Sinne lebendiger abgebildet, wird" (109f).
Gestalteigenschaften elektrostatischer Strukturen
"Physische Gestalten, welche im Nervensystem auftreten und psychophysische Bedeutung erlangen", haben "ganz analoge oder in einem weiten Sinne 'parallele' Beschaffenheit ... wie die Gestalten der phänomenalen Wahrnehmung" (174).
… "sachliche Ähnlichkeit zwischen psychophysischem Geschehen und phänomenalem Feld in ihren Gestalteigenschaften" (193).
Grundanschauung Köhlers: "Ähnlichkeit von optisch-phänomenaler Gestalt und gestaltetem Geschehen im optisch-somatischen Feld" (234).
Ferdinand Weinhandl: Die Gestaltanalyse. Erfurt: Kurt Stenger 1927, 375 Seiten.
Die Fachwissenschaften mögen zwar vieles ergründen, doch erst die Philosophie untersucht, "was überhaupt das Einzelne für das Übrige, für das Ganze bedeute" (9). Das philosophische Denken ist ganzheitlich. Doch was sind seine Methoden? Logik, Erkenntnistheorie und Psychologie.
Alles Anschauliche wie Begriffliche kann als Gestalt aufgefasst werden. Dazu braucht es "Phantasie".
Gestaltanalyse ist nicht Analyse der Gestalt, sondern Analyse unter dem leitenden Gesichtspunkt der Gestalt (62).
Platon unterscheidet dreierlei: · das Ganze (holon), dem keine Teile fehlen · die Gesamtheit der Teile (pan) · die Einheit (hen, monas), die weder vieles (polla) ist noch Teile (mere) hat.
Aber Ganzes wie Teile haben am Einheitscharakter teil (methexis). "Verschieden vom Einen, ist das Ganze doch nur Ganzes, wenn und sofern es das Eine, den Charakter der Einheit an sich hat" (70). Auch die Gestalt (schema) ist ein Hen. In ihr werden die Teile (stoicheia) durch ein Band (desmos) zusammengehalten. Goethes Auffassung deckt sich mit "Timaios" 50a-51b.
Aristoteles hatte einen anderen Formbegriff. Form (morphe) ist "das, worein etwas aus seinem Woraus wird".
Bei Jakob Böhme lassen sich alle Erscheinungen auf sieben Gestalten zurückführen.
Bei Kant ist die Einbildungskraft das bevorzugte Organ für Gestalten (127) .
Goethe unterscheidet die wissenschaftlichen Bemühungen von der Morphologie. Erstere betreibt etwa der Chemiker, "der Gestalt und Struktur aufhebt und bloss auf die Eigenschaften der Stoffe und auf die Verhältnisse ihrer Mischungen achthat". Die Morphologen dagegen haben die Tendenz, "von der Einheit auszugehen, aus ihr die Teile zu entwickeln und die Teile darauf wieder unmittelbar zurückzuführen". Ja, es ist nicht nur eine Tendenz, sondern ein Trieb, "die lebendigen Bildungen als solche zu erkennen, ihre äussern sichtbaren, greiflichen Teile im Zusammenhange zu erfassen, sie als Andeutungen des Innern aufzunehmen und so das Ganze in der Anschauung gewissermassen zu beherrschen".
Weil aber alles "sogleich wieder umgebildet" wird, kann das jeweils Festgestellte und in seinem Charakter Fixierte nur "Idee" oder "Begriff" sein. Diese Idee, die sich in allem Wandel durchhält ist die "Grundgestalt", das "Urphänomen", der "Typus".
Auch Gustav Theodor Fechner hat von Gestalten aus argumentiert. Mit Schemata hat er "morphologische Verhältnisse" dargestellt. Analogie ist Gestaltähnlichkeit (163).
Christian von Ehrenfels bewies am Beispiel der Melodie, dass das Ganze mehr ist als die Summe von Teilen (175). Seiner Fundierungstheorie der Gestalt tritt die "Gestalttheorie" von Köhler, Koffka und Wertheimer entgegen. Sie forscht nach inneren Gesetzlichkeiten der Gestalt. Köhler definierte 1920 "Summe" und "summative Gruppierung". Max Wertheimer beschrieb 1925 die Strukturoperationen des Denkens: Umzentrieren und Zentrieren.
Für Hans Driesch stehen die Wirkungseinheiten oder dynamischen "Systeme", mit denen es Physik und Chemie zu tun haben, zwischen Summe und Ganzem.
Andere Auffassungen hatten Felix Krueger und Othmar Spann.
Nach diesen gut 140 Seiten historischer Schilderung kommt Weinhandl "zur Technik der Gestaltanalyse".
1. Die Vorbereitung des Materials dient dazu, "die in Frage stehende Sache in gestalthafte Auffassung zu bringen" (213). Mittel ist z. B. "möglichst lauschend und gleichsam suchend in den Sinngehalt" von einander gegenüberstehenden Behauptungen einzudringen (217). Das Fragliche muss in einem grösseren Ganzen gesehen werden.
2. Die Verdeutlichung der Gestalt besteht entweder in einer graduellen Steigerung der Anschaulichkeit oder der Abhebung gegen anderes (225). Dafür können "unmittelbar gestaltbezeichnende Wörter" (239) verwendet werden, ferner gestaltliche Vergleiche, Analogien und Bilder. Wichtig ist herauszufinden, was "ausschlaggebend" ist.
3. Die Aufhellung der Gestalt erfordert den Einbezug des denkenden Subjektes (254) und nimmt daher das Gestaltganze umfassender.
4. Die Herausarbeitung der irgendwelchen Anschauungen, Meinungen, Einstellungen usw. zugrundeliegenden Schemata, besteht in der Zurückführung der komplizierteren Verhältnisse auf einfachere (255). Wir würden heute von Modellen sprechen. Das können Liniengefüge oder gar Diagramme sein, wobei man aber "das im Sinne dieses Liniengefüges organisierte Ganze im Auge" haben muss. Diese Schemata wecken "imaginative Gestalten" (257). Was man für unwiderlegbar oder plausibel hält, hängt vom zugrundeliegenden Schema ab (267).
5. In der Sichtung der Gestalt werden bisher unbemerkt gebliebene Seiten des Ganzen aufgesucht. Dafür tritt man etwas zurück, damit man einen Gesamtüberblick erhält.
6. Nun müssen wir herausfinden, ob wir damit bereits das "Grund- oder Urphänomen" gefunden haben.
7. Auch die "Dynamik" der Gestalt ist zu beachten. Die Komponenten, welche das dynamische Gesamtbild bestimmen, können analytisch gesucht werden (298). "Auch wo das Vorgegebene selbst kein dynamisches Gebilde ist, erfährt es durch die Dynamik der Auffassung eine dynamische Durchsetzung und Belebung" (301). "Die Gliedrigkeit, innere Abgestuftheit und Beweglichkeit dieser Dynamik hängt ganz und gar von der Eindringlichkeit ab, mit der die Imagination wirksam ist" (302).
8. "Unter Deutung der Gestalt verstehen wir das Suchen bzw. Aussprechen des grösseren Zusammenhangs, in den wir sie hineingehörig denken und von dem her sie ihren 'Sinn' empfängt" (306f). Die Rolle, welche etwas im grösseren Ganzen spielt, ist sein Sinn. Am besten lässt sie sich mit Gleichnissen beschreiben. So stellen etwa die Gleichnisse der Evangelien die religiös-sittlichen Urphänomene heraus (311). Ist der sinngebende Zusammenhang ein "Transzendentes"?
Der knapp 50seitige Anhang bringt 4 Ausschnitte aus früheren Publikationen. Sie tragen nichts zur Erhellung bei.
Egon Brunswik: Prinzipienfragen der Gestalttheorie. In: Beiträge zur Problemgeschichte der Psychologie. Festschrift zu Karl Bühler's 50. Geburtstag. Jena: Gustav Fischer 1929, 78-149.
Platons Begriff der Einheit entspricht der heutigen "Ganzheit". Bei Aristoteles bildet das Zusammen von Stoff und Form das Ganze. Die Form aber nicht nur Gestalt, sondern auch Begriff und Wesen der Dinge, ja sogar ihr Endzweck und auch die Kraft, die diesen verwirklicht. Über Jakob Böhme führt der Faden zu Hegel und Fechner, Leibniz, Kant, Herbart und Goethe. Nach 1890 folgen Krueger und Dilthey.
Detailliert werden dann die gestaltpsychologischen Thesen vorgestellt, allerdings mit vielen schwer verständlichen Ausdrücken und Sätzen, z. B. "Universalkausalkohärente Systeme sind also der inneren Gebundenheit nach differenzierbaren Funktionen ähnlich" (113).
Wolfgang Köhler (1922) setzte zwischen die mechanistische und vitalistische Erklärung des Lebens seine eigene von der "spontanen Selbstgliederung". Hans Driesch (1926) warf Köhler eine Verwechslung von "Wirkungseinheit" und Ganzheit vor. Erstere besteht aus "dynamischen Summen". Es geht dabei offenbar um den Unterschied von physikalischen Objekten und Organismen. Bei Vorgängen an ersteren bleibt das "Wesen" der Teile unberührt, bei Vorgängen im Organismus können Funktionswechsel vorkommen.
Kompliziert und schwer verständlich geschrieben.
Felix Krueger (Hrsg.): Ganzheit und Form. Vorträge, gehalten auf der Tagung der Deutschen Philosophischen Gesellschaft, Oktober 1930 in Breslau. Berlin: Junker und Dünnhaupt 1932, 159 Seiten.
Nach einer Vorrede von Felix Krueger werden 8 Vorträge geboten. Max Wundt verfolgt die "grosse ganzheitliche Linie ..., die sich durch die Geschichte der Philosophie hindurchzieht". Das betrifft aber nicht nur den Begriff der Ganzheit (bei Aristoteles, Plotin, Avicenna, Averroes und Thomas von Aquin, Christian Wolff und Kant), sondern auch die ganzheitliche Betrachtungsweise. Letztere rang beständig mit der mechanischen Betrachtung.
Ganzheitliche Betrachtung pflegten ausser den bereits genannten Denkern: Platon und Augustin, Malebranche und Leibniz, Goethe und der deutsche Idealismus. "Es ist, wenn man so will, eine aristokratische Auffassung der Wirklichkeit, die diese als ständisch gegliedert annimmt, im Gegensatz zu der Demokratie atomistischer Teile" (16).
Wundt unterscheidet mehrere Arten von Ganzheiten:
1. die mystische Ganzheit: der Gedanke, dass alles eins ist und ein Ganzes.
2. die logische Ganzheit: "Sie ist die Denkform, in welcher das bloss summenhaft Seiende vereinigt werden soll."
3. die psychologische Ganzheit, die nicht bloss eine gedachte, sondern auch eine erlebte ist.
4. die objektive Ganzheit "als eine der Wirklichkeit selbst einwohnende Form". Dazu gehören biologische und geschichtliche (kulturelle) Ganzheiten.
5. die absolute Ganzheit als "das Ganze der Ganzheiten selbst". Die "Idee" ist bei Platon das gegliederte Ganze aller Ganzheiten. Gott gestaltet das Weltall als ein vollkommenes Ganzes aus lauter Ganzem.
In seinem Beitrag "Das Problem der Ganzheit" geht Felix Krueger ebenfalls den historischen Linien nach, allerdings etwas penetrant auf dem germanischen resp. deutschen Volkstum herumreitend.
Andere Beiträge stammen von Ferdinand Weinhandl (Symbolik), F. Adama v. Scheltema (Kunst), Gunther Ipsen (Sprache), Edgar Dacqué (Entwicklungslehre), F. Hund (Physik) und Eugen Diesel (Technik).
Hans Driesch: Philosophische Gegenwartsfragen. Leipzig: Reinicke 1933, 184 Seiten.
Drei Teile: 1. Intuition und Positivismus 2. Studien über Ganzheit 3. Logische Probleme.
Ganzheit fasst er als "Wohlordnung". Dazu gehören auch Zwecke.
unerheblich.
Otto Klemm (Hrsg.): Wege zur Ganzheitspsychologie. Zweite, verbesserte Auflage, besorgt von Albert Wellek. München: C. H. Beck 1954.
Bereits 1935 erschienen als erster Band ("erstes Heft") einer dreibändigen Festschrift zum 60. Geburtstage Felix Kruegers: "Ganzheit und Struktur". Die 9 Beiträge wurden nur leicht verändert, insbesondere durch neuere Literaturangaben.
Betrifft nur die sog. Leipziger Schule, nicht die Berliner Schule. Wenig erhellend, nur noch von historischem Interesse.
Als Wurzeln der Ganzheitspsychologie sah Krueger u. a. 1. die deutsche Mystik 2. Wilhelm Wundt (z. B. die "schöpferische Synthese") 3. Wilhelm Dilthey (1894).
Krueger selber knüpfte in seinen grundlegenden tonpsychologischen Untersuchungen an Hans Cornelius (1897) an.
Arthur O. Lovejoy: Die grosse Kette der Wesen. Geschichte eines Gedankens. Frankfurt: Suhrkamp 1985 (engl.: The Great Chain of Being. A Study of the History of an Idea. The William James Lectures delivered at Harvard University, 1933; erschienen 1936). 463 Seiten.
Ungeheuer geschwätzig.
"Die Geschichte der Philosophie und aller Formen des menschlichen Denkens ist zum grossen Teil eine Geschichte der Begriffsverwirrungen" (34).
Lovejoy beginnt bei Platons Ideenlehre, welche die abendländische jenseitszugewandte Denkrichtung eröffnete, die von den importierten orientalischen Richtungen zu unterscheiden ist (50). Im Unterschied zum Vedanta war sein Absolutes die Idee des Guten. Das Universum der erschaffenen Dinge ist eine vollständige Nachbildung der Ideenwelt (68), und zwar als Verwirklichung alles gedanklich Möglichen. Das nennt Lovejoy das "Prinzip der Fülle". Bei Aristoteles aber erschafft Gott nichts; er ist nur der unbewegte Beweger. Die Natur entzieht sich scharfen Einteilungen, sie ist kontinuierlich. Die Lebewesen sind nach dem Grad ihrer Vollkommenheit auf einer "scala naturae" angeordnet. Also ist das Universum eine "grosse Kette von Wesen" (78). Ausgebaut wurde dies im Neuplatonismus.
Fortan springt Lovejoy zwischen Augustin und dem 18. Jahrhundert hin und zurück. Interessant ist das III.Kap. über den Kosmos von Cusanus bis Kant.
Leibniz hat die Idee der Kette am konsequentesten verwirklicht. "Die Auffassung des Kosmos als einer Kette von Wesen und die ihr zugrundeliegenden Prinzipien (der Fülle, der Kontinuität, der Abstufung) fanden ihre weiteste Verbreitung und Zustimmung im 18. Jahrhundert" (221). Dagegen waren nur Voltaire und Dr.Johnson. Ethisch zeigte sich dies in einer Kritik am "Stolz" des Menschen; er ist die "Sünde gegen die Gesetze der Ordnung". Der Weg nach oben ist aufgegeben worden.
In der Encyclopédie heisst es: "Alles in der Natur ist miteinander verknüpft."
"Eines der wichtigsten Ereignisse im Denken des 18. Jahrhunderts war das Eindringen der Zeit in die Kette der Wesen" (294). Schon bei Leibniz und Voltaire wird dies deutlich. Ab 1750 tauchen evolutionistische Theorien auf. J. B. Robinet (1761-68) brachte bereits die Idee der Urbilder auf (Prototyp oder Modell), ferner den élan vital.
Von Dr. Johnson 1757 stammt der Spruch: "Qui pauca considerat, facile pronunciat."
Ebenfalls im 18.Jahrhundert fand ein Umschwung des "Strebens nach Gleichförmigkeit als herrschendem Massstab" in ein Streben nach Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit" statt (353). Das ist die romantische Revolution. Bei Schiller (1795) strebt der "Formtrieb" nach Einheit, der "Stofftrieb" nach Mannigfaltigkeit. Beides kämpft im Menschen; der "Spieltrieb" bewirkt die harmonische Vereinigung beider.
Um 1800 wurde die Emanationslehre durch eine Evolutionslehre ersetzt. In ersterer bringt Gott die Vielfalt der Geschöpfe stufenweise hervor, in letzterer ist Gott selbst nun in der Zeit; er wurde mit dem Prozess identifiziert, er wurde "Natur". Oken formulierte 1810: Die Naturphilosophie ist "die Wissenschaft von der Verwandlung des Geistes in die Natur"; sie hat zu zeigen, "wie etwas aus nichts werde".
Bei Schelling, in seiner Streitschrift gegen den Offenbarungs-Philosophen Jacobi (1812), wird "die einstmals abgeschlossene und unwandelbare Kette des Seins in eine Kette des Werdens verwandelt", und Gott selbst wird mit diesem Werden gleichgesetzt (389f).
Also: "Die Geschichte der Lehre von der Kette der Wesen, soweit sie auf der Annahme einer durchgängigen Vernünftigkeit der Welt beruht, ist die Geschichte eines Scheiterns" (393). Der negative Ausgang ist aber lehrreich: "… dass die Lehre von der durchgängigen Vernünftigkeit der Welt nicht zu halten ist". Die Realität, insbesondere die Zeitlichkeit, spricht dagegen. „Die Welt der konkreten Dinge ist also ein getreues Abbild des Reiches der Essenzen … ihre Grösse, ihre Ordnung, ihre Verhaltensweisen, die wir Gesetze nennen, haben etwas Willkürliches und Eigensinnig-Absonderliches an sich“ (397).
Kurt Grelling und Paul Oppenheim: Der Gestaltbegriff im Lichte der neuen Logik. Erkenntnis, Bd. 7, 1937/38, 211-225, Ergänzungen 357-359, 371. (Beitrag zum Vierten Internationalen Kongress für Einheit der Wissenschaft in Cambridge, Juli 1938 unter dem Titel "Die Wissenschaftliche Sprache").
Da verschiedene Autoren das Wort "Gestalt" verschieden und wechselnd gebrauchen, sollen zwei Definitionen vorgeschlagen werden. Das ist mit den Mitteln der modernen Logistik möglich.
1. Christian von Ehrenfels' Begriff "Gestaltqualität" (1890) wird daher so definiert:
"Gestalt ist die Invariante von Transpositionen". Mehr logistisch: "Gestalten sind die Gleichheitskreise von Korrespondenzen" (216). Anwenden lässt sich dieser Begriff auch auf · geometrische Form ("Gestalt eines Körpers") · Ausdrucksgestalten in der Logik (Carnap 1934) · Feld in der Physik · Molekül in der Strukturchemie · Gestalt in der Psychologie.
Gestalten haben Eigenschaften oder Qualitäten. (Das ist nicht dasselbe wie die "Gestaltqualitäten"!) Zur Transponierbarkeit gehört die Übersummenhaftigkeit.
G/O erläutern: Statt "Summe" nehmen wir "Gesamtheit"; das ist nicht ein "Komplex". Also: "Die Gestalt eines Komplexes ist eine Eigenschaft, welche nicht in sinnvoller Weise der irgendeiner Einteilung entsprechenden Gesamtheit seiner Teile zugeschrieben werden kann" (219).
2. Wolfgang Köhler (1920) hat einen andern Gestaltbegriff. Zu dessen Präzisierung braucht es den Begriff "System". "Wir wollen als 'System mit Bezug auf eine gewisse Relation R' ein Ganzes bezeichnen, welches folgenden Bedingungen genügt: Es gibt eine Einteilung des Ganzen, derart, dass jeder zu dieser Einteilung gehörige Teil zu jedem in der Beziehung R steht, und dass jeder Gegenstand, der zu mindest einem Teil in der Beziehung R steht, selbst ein Teil des Ganzen ist" (220).
Als Beispiel nennen G/O das Telephonnetz.
Wenn man für die Relation R die Determinations-Beziehung (von Carnap) einführt, ergibt sich ein spezialisierter Systembegriff. "Wir wollen ihn als 'System der wechselseitigen Determination' oder kurz 'Wirkungssystem' bezeichnen".
Wirkungssysteme sind: ·
der
geladene und isolierte Leiter. · der Atomkern, das Atom, das Molekül · die Zelle, der Organismus · die Volkswirtschaft ·
das
Wahrnehmungsfeld
Wenn keine Wechselwirkung zwischen Teilen besteht, liegt ein "Aggregat" vor. (Das entspricht Köhlers "Und-Verbindung" oder dem "summativen Ganzen".) Ferner sind die Vorgänge in einem Wirkungssystem erst vollständig bestimmt, wenn man die Randbedingungen angibt, z. B. die Form des Leiters und die Abwesenheit anderer geladener Körper.
Für Wirkungssystem verwendet Köhler den Begriff "organized whole", Koffka den Begriff "functional whole". Für Gestalt als Invariante von Transpositionen: "form" oder "shape".
Schon Kant hat die "Wechselwirkung" in seine Kategorientafel aufgenommen. Sein Schüler J. F. Fries (1822) hat Gedanken entwickelt, die ähnlich denen Köhlers sind.
Sind Wirkungssysteme im statischen oder stationären Gleichgewicht, so pflegen gewisse charakteristische Grössen Extremal-Werte anzunehmen. Das gilt auch für die Objekte der Gestaltpsychologie: Gestalten von Wirkungssystemen können so "gut" werden, wie es die Randbedingungen gestatten.
In den Ergänzungen wird eine Tabelle mit Beispielen für Gestalten in verschiedenen Gebieten gegeben (358).
Max Clara: Das Problem der Ganzheit in der modernen Medizin. Leipziger Universitätsreden. Heft 4. Leipzig: J. A. Barth 1940.
Max Clara war o. Prof. der Anatomie; seinen Vortrag hielt er am 1. Juli 1940.
"Das Problem der Ganzheit in der Medizin ist so alt wie die Naturphilosophie" (3).
Im 19. Jh. herrschte eine analytische und summative Vorstellung. Das endete in einer "unendlichen Verarmung des ethischen Inhaltes des Arzttums" (7). Als Reaktion auf diese mechanistische Geisteshaltung wurde "Einsicht in den grossen Zusammenhang, die grosse innere Schau" gefordert.
Es folgen Hinweise auf Drieschs Seeigelkeim-Experimente; aber Clara lehnt die Entelechie-Theorie ("Heinzelmännchen") ab, auch den Holismus (Meyer-Abich). Er meint, "dass das organische Geschehen auf die dynamische Ordnung von Vorgängen innerhalb eines einheitlichen, von vornherein gestalthaften, ganzheitlichen Systems zurückgeführt werden kann."
Vorbild ist die Gestaltpsychologie. Hans Spemann zeigte, dass in der Entwicklung das Schicksal der Teile von ihrer Lage im Ganzen abhängt (= Epigenese). Später ist das Spiel der Hormone wichtig; es bestimmt die leib-seelische Ganzheit (27).
Funktion ist, was dem Ganzen nützt. Form und Funktion gehören zusammen. Struktur ist ein Vorgang.
Heute steht der Mensch als "kranke Gesamtpersönlichkeit" im Mittelpunkt der Medizin (35) – siehe z. B. Kretschmers Körperbautypologie. Krankheit ist eine "Selbsthilfe des Organismus" (36).
Felix Krueger: Lehre von dem Ganzen. Seele, Gemeinschaft und das Göttliche. Beiheft zur Schweizerischen Zeitschrift für Psychologie und ihre Anwendungen Nr. 15, Bern: Huber 1948, 104 Seiten.
Viele Abschnitte am Anfang stammen aus dem Aufsatz von 1932. Eine wesentliche Erweiterung erfuhr der historische Teil (15-31). Krueger meint: Echte Philosophie war zu jeder Zeit Lehre von Ganzheiten und ihren notwendigen Gliederungen, also auch vom Gegensatz. Wichtig ist für Krueger die deutsche Mystik. Kant wird viel kürzer dargestellt als 1932.
Walter Heinrich (Hrsg.): Die Ganzheit in Philosophie und Wissenschaft. Othmar Spann zum 70. Geburtstag. Wien: Baumüller 1950 (bereits 1948 abgeschlossen).
21 Beiträge aus allen Wissenschaften auf 350 Seiten.
Interessant und einleuchtend, wie Walter Heinrich Empirismus und Idealismus einander gegenüberstellt: 1. Der Empirismus begreift das Endliche als endlich. Er betreibt das kausal-mechanische Verfahren der Naturwissenschaft. Die Gesellschaftslehre ist individualistisch, die Sittenlehre utilitaristisch. 2. Der Idealismus weiss das Endliche im Überendlichen oder Übersinnlichen begründet. Ausgangspunkt ist die Überzeugung, dass es verschiedene Seinsschichten gibt. Das zeigt sich schon in den Ideenlehren der Upanischaden und von Platon. Grundlage ist das "dialektische Verfahren" (Hegel), von Othmar Spann erweitert zum "ganzheitlichen Verfahren": Die Ganzheit ist ausgegliedert, rückverbunden und in dauernder Umgliederung begriffen.
Das ist klarer als die heute gepflegte Unterscheidung von analytisch/ mechanistisch/ individualistisch/ reduktionistisch zu holistisch (z. B. bei D. C. Phillips 1976) oder neopositivistisch/ reduktionistisch zu ganzheitlich/ organismisch/ /biokybernetisch (z. B. Michael Ewers 1986).
Was einen jedoch mit Unbehagen erfüllt, ist die enorm abstrakte Redeweise. Was ist denn das "Geistes- und Gesellschaftsgefüge", gibt es die "eine" Gesellschaft und "eine" Kulturidee? Stimmt es, das soziale Gefüge begründet werden und sich entfalten? Was für "Verganzungs- oder Vereinheitlichungsmächte" sind da eigentlich am Werk? Was heisst, das Endliche sei "angeknüpft" an das Überendliche? Kann die Gesellschaft mit dem "objektiven Geist" gleichgesetzt werden?
Sehr modern mutet Heinrichs Wunsch an, Idealismus und Empirismus möchten sich, statt gegen- und nebeneinander zu arbeiten, "zu einem sinnvollen Miteinander" finden. Ein "Synergismus der Verfahren" sei möglich.
Adolf Meyer-Abich meint: "Das Wesen jeder morphologischen Theorie besteht darin, dass sie stets das irgendeinem Sachverhalt von Formen und Funktionen, kurz von echten Gestalten zugrundeliegende ideale Urbild zu beschreiben sucht." Ein statisches Urbild ist die Platonische Idee aller Kreise, ein dynamisches die Goethesche Idee der Urganze. Realisiert werden die Ideen in Gestalten resp. Ganzheiten. Und diese erhalten sich in Harmonie nach Innen und Aussen durch Aktivität. Umwelt haben bedeutet "Selber-wieder-Glied-sein in einer übergeordneten Ganzheit."
Für den Physiker sei alle Form und Struktur der Naturkörper belanglos, behauptet Meyer-Abich; alles Organismische dagegen ist gestaltet. Und Organe haben einen Bauplan und einen Funktionsplan. Diese sind "genauso komplementär zueinander, wie das Welle und Korpuskel in der modernen Quantenphysik sind". Auf die Frage, wie sich Organe zu Organismen zusammenfügen, geht er hier nicht ein.
Der Spann-Schüler Jakob Baxa, der grosse Adam Müller-Forscher, vergleicht die Zeit von 1789-1815, also vor der Romantik, mit der Zeit von 1914-45. Er beschreibt kurz die Romantik (Fichte, Schelling) und dann das Werk Adam Müllers. Zu dessen Hauptwerk (1809) meint er: "Wie Fichte, erkennt Adam Müller hier das gesellschaftliche Sein als die Grundtatsache unserer ganzen menschlichen Existenz: 'Der Mensch ist nicht zu denken ausserhalb des Staates’.“ Müller verkehrte mit Friedrich von Savigny, dem Begründer der historischen Rechtsschule. Der Schweizer Johann Jakob Bachofen zitierte viel von Müller.
Müller war stark beeinflusst von Edmund Burke. Er war ein Gegner der Arbeitsteilung und des Maschinenwesens; er forderte eine nach Berufsständen gegliederte Gesellschaft. Er bekämpfte den landläufigen Materialismus und betonte "überall gegenüber dem sächlichen Haben das persönliche Sein".
Gefährlich sind Baxas Behauptungen für die Zeit nach 1848: "Die Lehren des Adam Smith behaupteten siegreich das Feld, Technik und Freihandel revolutionierten die Produktion, schufen das Proletariat und den Klassenkampf.“ Oder: Othmar Spann sei "zum Begründer der neuromantischen Schule der Gesellschafts- und Wirtschaftslehre" geworden. Spann propagierte im "Wahren Staat" (1921) eine ständische Ordnung. Und nun: "Das Korporationensystem in der Wirtschaftsverfassung des faschistischen Italien zeigt ... doch wesentliche Verwandtschaft mit der Ständeordnung des 'Wahren Staates’.“
Walter Adolf Jöhr setzt sich mit den Möglichkeiten einer "organischen Wirtschaftsgestaltung" auseinander. Er sieht zwar, dass der Konkurrenzmechanismus der Marktwirtschaft neben Wohlstand auch die "soziale Frage" brachte. Aber er findet, die Anwendung der Ganzheitslehre Spanns auf die reale Gesellschaft werde der "Stellung und Rolle des Menschen nicht gerecht". Denn der Mensch ist der "freie, sich selbst verantwortliche Schöpfer der gesellschaftlichen Gebilde". Das bewusste Leben des Menschen ist freies Leben, damit aber auch ethisch gebunden und "damit auch verantwortliches Leben".
Störend ist, dass Jöhr die Motive, welche das menschliche Handeln leiten, als "etwas Geistiges, etwas dem Reiche des Bewussten Zugehöriges", ansieht und die Wirtschaft als "ein vom menschlichen Geist frei geschaffenes Gebilde" betrachtet.
Jöhr ist kritisch sowohl gegenüber dem Sozialismus wie dem Liberalismus. Wenn letzterer ein reiner Konkurrenzmechanismus bleibt, ruft er "Ergebnisse hervor, die nicht verantwortet werden können und infolgedessen durch staatliche Eingriffe korrigiert werden müssen". Überdies sind Unternehmer massenpsychologisch beeinflusst. Das führt zur Konjunktur, die ebenfalls staatlich gesteuert werden muss.
Jöhr sieht folgende Gebiete für staatliche Förderung: Bauernstand, Klein- und Mittelbetriebe, Vollbeschäftigung, ferner von Betriebsgemeinschaften, Familie und Erwerb eines Eigenheims.
Die meisten übrigen Beiträge sind schwer, wohl nur aus der Zeit, verständlich. Was eine "Ganzheit" ist, wird nirgends deutlich.
Albert Wellek schreibt in Anlehnung an Felix Krueger: "dass Ganzheit nicht eigentlich definiert, sondern nur aufgewiesen oder 'aufgezeigt' werden könne; dies aber mit unmittelbarer Einsichtigkeit nur im und am Erleben. Das Modell, den Musterfall der Ganzheit, gibt das Erleben ab; nur dieses lehrt uns eigentlich, was Ganzheit sei. Erst vom Erleben lesen wir die Kategorie ab, die es uns ermöglicht, das Lebendige und letztlich den Kosmos in seiner Eigenart als Ganzheit zu begreifen."
Aloys Wenzl (Hrsg.): Hans Driesch. Persönlichkeit und Bedeutung für Biologie und Philosophie von heute. Basel: Reinhardt 1951, 221 Seiten.
Fünf Beiträge und ein Schriftenverzeichnis von Hans Driesch mit 289 Titeln.
Hans Driesch studierte bei Ernst Haeckel, war aber mit dessen Theorie über die Stammesgeschichte nicht einverstanden. In den 1890er Jahren arbeitete er im Winter jeweils im "Aquario" in Neapel. Nach der Hochzeit richtete er sich 1900 in Heidelberg ein, 1921 folgte er einem Ruf nach Leipzig, wo er 1941 starb.
Im Unterschied zu den Entwicklungs-Mechanikern His, Roux und Weismann sah er das organische Werden als aktive Selbstgestaltung. Der Organismus ist ein Ganzes, das sich selbst aufbaut. Den Faktor, der den Organismus zum Ganzen macht, nannte er Entelechie. Hans Spemann konnte später manches bestätigen.
Drieschs Hauptwerk ist die "Philosophie des Organischen" (1909), in dem er den Mechanismus widerlegte. Sein letztes fruchtbares Werk waren die "Biologischen Probleme höherer Ordnung" (1941).
115 Seiten umfasst der Beitrag von Aloys Wenzl. Er erörtert den Unterschied von Mechanismus und Vitalismus und nimmt auch Ludwig von Bertalanffys Theorie der "offenen Systeme" in die Zange (98, 101f). Diese organismische Betrachtung bleibt im Deskriptiven, sie erklärt nicht.
"Wie wirkt die Entelechie morphogenetisch?" Im Sinn steigender Differenzierung, Ausformung und Spezialisierung bei abnehmender Potenz (120f).
Driesch führte den ganzheitsmachenden Naturfaktor "Entelechie" ein. Dieser „ist zielstrebig, insofern er für das zweckmässige, sinnhaltige Funktionieren und Reagieren und damit für die Ermöglichung des eigentlichen Lebens verantwortlich ist" (125).
Alwin Mittasch druckt eine Reihe Briefe von Driesch und an ihn ab.
Gegenüber den Holisten (Smuts, Meyer-Abich, Haldane) ist Driesch kritisch. Bei diesen fehlt ihm das kausale Element, das Ganz-machen.
Felix Krueger: Zur Philosophie und Psychologie der Ganzheit. Schriften aus den Jahren 1918-1940. Hrsg. von Eugen Heuss. Berlin: Springer 1953, 347 Seiten.
In einer 25seitigen Vorrede schildert der Basler Eugen Heuss, wie Felix Krueger (1874-1948) nach der "spezifischen Gesetzmässigkeit alles Psychischen" suchte. Wichtig sind die Gefühle; sie sind "die verbreitetsten Arten des Innewerdens von Ganzheit". Und was ist das "Grundgesetz unseres wirklichen Daseins"? "Es ist das Gesetz des Ganzbleibens durch innere Gliederung, durch Gestaltwerdung, durch das Schöpferische lebendiger Formen."
Es folgen 9 Arbeiten von Krueger.
In "Über psychische Ganzheit" (1926) meint er: "Wo immer lebendige Gebilde in Frage stehen, darf auch die erste morphologische Zerlegung nicht willkürlich zerschneiden wollen, was ineinander verwachsen bleibt, auch wenn es auseinander sich entfaltet; sondern sie hat ihre Gegenstände strukturgemäss zu zergliedern, als ganzheitlich geartet und bedingt, als ganzheitsbezogen in allen ihren Einzelheiten, als durchgängig auf Ganzheit und deren Erhaltung gerichtet" (38f).
Krueger sieht die Bemühungen um Ganzheit als "eigentümlich deutsch", beginnend bei Jakob Böhme und Leibniz. Kant widmet er ein kurzes Kapitel. Dann gingen die Klassiker und Romantiker "geistig aufs Ganze im umfassendsten Sinne des Wortes. Höher als je zuvor erhob sich damals, frei spekulierend, der philosophische Geist. Einheit des Universums, die geordnete Totalität alles Denkbaren war sein Ziel ... Das beginnende Maschinenzeitalter brachte den Rückschlag" (64).
Erst Dilthey bot wieder einen neuen Ansatz mit seinem Begriff der Struktur, den er als "Zweckzusammenhang" fasste. Hans Driesch hat, "unseres Wissens zum erstenmal, über der Idee 'Ganzes' mit vollem Bewusstsein ein System der Philosophie errichtet" (78). Ziemlich langfädig setzt sich Krueger auf fast 20 Seiten mit Driesch auseinander.
Es folgen Auseinandersetzungen mit Wilhelm Wundt, Georg Elias Müller, Wolfgang Köhler (10 Seiten) und Charles Edward Spearman (10 Seiten).
4 unterschiedlich lange Aufsätze betreffen die Gefühle.
Der letzte Aufsatz, "Entwicklungspsychologie der Ganzheit", erschien 1939-40 in einer rumänischen Zeitschrift. Er entspricht beinahe wörtlich der 1948 erschienenen "Lehre von dem Ganzen" (die einzig durch ein Kapitel "Ideengeschichtliches" erweitert wurde).
Die Ausführungen leiden an begrifflichen Unsauberkeiten.
Theo Herrmann: Problem und Begriff der Ganzheit in der Psychologie. Oesterreichische Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Klasse, Sitzungsberichte, 231. Band, 3. Abhandlung. Wien 1957, 129 Seiten.
Die Ganzheitspsychologie ist keine einheitliche Bewegung oder Schule. Herrmann unterscheidet:
1. Die österreichische Schule, basierend auf Ernst Mach, mit dem synthetischen Ganzheitsbegriff (z. B. Christian von Ehrenfels' "Gestaltqualitäten" 1890). 2. Die Berliner Schule, ebenfalls basierend auf Mach, mit dem "System"-Begriff der Gestalt (z. B. Max Wertheimer 1912, Wolfgang Köhler 1920/24); Kurt Lewin (1936) wandte das System-Modell auf sozialpsychologische Gegebenheiten an (Gestalt = dynamisches System). 3. Die "genetische Ganzheitspsychologie" der Leipziger Schule, basierend auf Wilhelm Dilthey, mit ihrem holistischen Ganzheitsbegriff (Felix Krueger ab 1900).
Herrmann unterscheidet ferner 4 Ganzheitsbegriffe:
a) phänomenale, z. B. Melodien b) funktionale, mit Gestaltkriterien c) methodale, z. B. "analytische Betrachtungsweise", ganzheitliches Verstehen (Dilthey), molarer Aspekt (Tolman) d) transphänomenale, z. B. "System", "Strukturganzheit"
Das ganzheitliche Verstehen nach Dilthey (1894) bedeutet: Ausgliederung des Phänomens in aufzeigbare Gliedbestände und Eingliederung in umgreifende Verstehenszusammenhänge (62), letztere sind: · Zweckzusammenhang, · Bedeutungszusammenhang und · Strukturzusammenhang.
Wer nicht "verstehen" will, kann keine ganzheitliche Methode betreiben (95), er betreibt dann etwa System-Methodik. Aber auch das hat seine Berechtigung. Man kann nicht alles haben (96).
Das moderne Systemdenken scheint aus der Berliner Schule hervorgegangen zu sein (insbesondere von Köhler her). Es ist also nicht im strengen Sinne ganzheitlich. "Der 'Gestalt'-Begriff der Berliner Schule [ist] ... kein Ganzheitsbegriff" (100), und die Übertragung der Selbstgliederung und Selbstregulation auf Organismen (1926/27) ist eine Abschottung der "offenen" Gestalt. Aber das morphologisch-organismische Denkmodell der holistischen Biologie ist ganzheitlich (103); es liegt in der Nähe der Leipziger Schule.
Gestalt und Entwicklung. Festschrift für Friedrich Sander. Hrsg. von Albert Wellek. Zeitschrift für experimentelle und angewandte Psychologie, Bd. VI, 1959, Heft 3, S. 334a-736.
25 Beiträge. Endlich einmal eine genaue Analyse der Begriffe "morphé" und "schema" bei den Griechen (von Carl Schneider). Hans Volkelt beschreibt die "Einfühlung". Er präzisiert. Wir verlegen nicht "Gefühle" in die an sich gänzlich unlebendigen Gestalten, sondern "Leben".
C.-F. Graumann schildert die Leistung Friedrich Sanders, der "das aktuelle Werden von Gestalten in einem überschaubaren Erlebenszusammenhang" als Aktualgenese bezeichnet und erforscht hat. Dabei gibt es Vorgestalt und Endgestalt. Sander war noch deskriptiv , seitherige Forschung ist auch explikativ. Wie Johannes Linschoten betont, hat Sander schon 1928 festgestellt, dass das Wahrnehmungsgeschehen nur auf "optimale" Gestaltetheit gerichtet ist.
Johannes Voigt weist für das Problemlösen auf folgendes hin: 1. Bestimmte Persönlichkeitstypen können es viel schneller als andere. 2. Unbewusst gestaltende
Kräfte sind Träger des Denkgeschehens. 3. Die dynamischen Antriebe des Denkens beruhen letztlich auf den Funktionen des psychophysischen Ganzen, deren Gesamtheit wir "Leben" nennen.
Josef Derbolav sieht die Aktualgenese mit Platons "Anamnesis" verwandt. Wilhelm J. Revers sieht Gefühl und Wille als "Organe (Gliedstrukturen) des Selbst (der Ganzstruktur 'Person')".
Friedrich Winnefeld zeigt, dass die Differenzierung der Gestaltauffassung schon in der Vorschulzeit, schon zu Beginn des 4. Lebensjahres auftritt, d. h. es gibt schon ganzheitliche und einzelheitliche Typen vor dem sog. "ersten Gestaltwandel".
Arnulf Rüssel befasst sich mit den Grundbegriffen der Verhaltensforschung: Schlüsselreiz und AAM. Gewisse Reize sollen nach dieser Theorie einen "angeborenen, Erbkoordinationen auslösenden Mechanismus" (AAM) anstossen, was zu einer Instinkthandlung führt. Der Ansprechbarkeit des AAM entspricht psychologisch gesehen das Vorliegen der Appetenz, dem Ablaufen des AAM die Triebbefriedigung. Worauf spricht der AAM an? Auf eine Anzahl von äusseren Bedingungen (Reizen), die allein wirkungslos bleiben, wenn sie simultan oder sukzessiv dargeboten werden. Ferner kann sich die Wirkung eines Auslösers steigern, wenn ein für sich wirkungsloser Reiz hinzutritt. Falls ein isolierter Reiz als Auslöser funktioniert, dann müssen besonders innere Bedingungen (Appetenz) vorliegen, und überdies darf kein anderer Reiz vorliegen, der Flucht auslösen würde. Psychologisch gesehen heisst das, dass auch Auslöser von Instinkthandlungen Erlebnisganzheiten, und zwar Komplexqualitäten sind. Solche wurden bislang nur als Auslöser von gelerntem oder andressiertem Verhalten betrachtet.
Provokativ fragt Wilhelm Salber: "Sind Ganzheiten praktisch?" Antwort Ja. Das zeigt sich bei Marktforschung und Werbung. "Denn nur mittels Umformung in ein Problem psychologischer Ganzheiten wird es möglich, an die im Käufer ablaufenden seelischen Prozesse heranzukommen." Man muss sich bewusst werden, "was es für Ware, Werbung, Kauf bedeutet, gliedhaft in Ganzheiten zu fungieren". Wichtig sind "Bilder" der Ware und der Werbung.
Carl Fervers befasst sich mit der Sucht des Kinobesuches, Gerhard Funke mit der "Vergötzung der zweckrationalen sozialen Ordnungssysteme und Regulierungsapparate". Die Menschen sind heute schizophren. "Wer Gewissen hat, kann nicht zu einer Sache und ihrem Gegenteil stehen."
Gottfried Hausmann beschreibt die Geschichte der Ganzheitspädagogik seit Pestalozzi und Herbart. Neuere Ansätze erfolgten in den 30er und 50er Jahren.
Weiter hinten im Jahresband der Zeitschrift (839-867) findet sich eine empirische Untersuchung über die Auswirkungen des ganzheitlichen Unterrichts. Emil Schmalohr weist an 2x200 Schülern nach, dass, statistisch gesehen, "keine haltbaren Unterschiede" zwischen dem ganzheitlichen und lautsynthetischen Unterricht festgestellt werden können. Bloss als Tendenz führt die Ganzheitsmethode zu etwas besserem Lesen und mehr Arbeitsfreude, die Lautiermethode zu besserer Rechtschreibung. Pädagogisch bedeutsam sind nicht die Methoden, sondern die grossen Unterschiede zwischen guten und schwächeren Schülern, ferner ihr Reifegrad.
Konrad Lorenz: Gestaltwahrnehmung als Quelle wissenschaftlicher Erkenntnis. Zeitschrift für experimentelle und angewandte Psychologie, Bd. VI, 1959, 118-165.
Manche Forschungsrichtungen heute glauben, ohne Einsicht in die Struktur "ganzheitlicher Systeme" zum Verständnis der Funktion gelangen zu können. Was uns die Erforschung der Strukturen erlaubt, ist die schlichte Wahrnehmung mit ihren Konstanzmechanismen und den Mechanismen der Gestaltwahrnehmung. Man hat diese Leistungen unter den recht mystischen Begriff der "Intuition" subsumiert. Man braucht sie aber, je komplizierter das "Systemganze" ist.
Lorenz geht vom hypothetischen Realismus aus: "Wenn man überhaupt eine reale Aussenwelt annimmt, muss man auch den einfachsten Formen der Raumorientierung und Wahrnehmung zubilligen, dass die Art und Weise, in der sie uns per analogiam ein Wissen über die aussersubjektive Wirklichkeit vermitteln, derjenigen, in der die höchsten Formen unserer Ratio dasselbe tun, grundsätzlich gleich und nur im Grade der erreichten Analogie verschieden ist" (121).
Viererlei ist wichtig: 1. Hypothesen sind prüfbar. 2. Die Organisation unseres Wahrnehmungsapparates ist "engstirnig" auf die praktischen Belange der Arterhaltung ausgerichtet. Er mag ein "schiefes" Bild liefern, aber es ist brauchbar. 3. Die Kantschen Anschauungsformen sind nur für einen "mittleren Messbereich" zutreffend. 4. Unsere Denk- und Anschauungsformen - unsere "Brille" - sind im Verlauf der Evolution entstanden, und zwar in Auseinandersetzung mit der Aussenwelt. Sie sind analog dem individuellen Versuch- und Irrtum-Verfahren phylogenetisch gelernt worden.
Lorenz hat schon 1942 erkannt, was ihm der Physiker P. W. Bridgman 1957 bestätigte: "Das Objekt unserer Erkenntnis und das Instrument unserer Erkenntnis dürfen legitimerweise nicht voneinander getrennt werden, sondern müssen zusammen, als ein Ganzes, betrachtet werden." Ketzerische Frage: Haben wir für diese Betrachtung auch ein Instrument oder Organ?
Die Gestaltwahrnehmung leistet Gleiches wie das allgemein anerkannte rationale Denken (135). Lorenz beschreibt verschiedene Konstanzleistungen. Sie sind "ratiomorph", d. h. analog dem rationalen Denken durch Induktion und Deduktion. Ferner sind sie "objektivierend", d. h. sie bringen Ordnung in die Kakophonie der auf uns einstürmenden Sinnesdaten.
Die Gestaltwahrnehmung ist ähnlich der optischen Formkonstanz. Auch sie beruht "auf dem Herausgliedern einer in den Sinnesdaten obwaltenden Gesetzlichkeit" (143). Dabei ist die klärende Mitwirkung von Lernen und Gedächtnis nötig, welche zur Ausschaltung des Akzidentiellen führt. Der Mensch hat ein hochentwickeltes "systematisches Taktgefühl"; er kann z. B. Tierarten erkennen. Die Vorgänge verlaufen zwar kompliziert, aber mechanisch. Daher kann es zu Fehlern kommen. Manchmal ist die "Tendenz zur Gestalt" oder Prägnanz übermächtig; ferner ist Gestaltwahrnehmung unbelehrbar, eine Frage der individuellen Begabung, und sie geht verloren, wenn man sich auf ihre Funktion selber richtet.
Positiv daran ist aber, dass man mit ihr "eine unvermutete Gesetzlichkeit" entdecken kann, "wozu die rationale Abstraktionsleistung absolut unfähig ist" (155). Zweitens kann sie "mehr Einzeldaten und mehr Beziehungen zwischen diesen in ihre Berechnung einbeziehen, als irgendeine rationale Leistung."
Lorenz hält die Gestaltwahrnehmung für unersetzlich, kommt man doch nur durch sie zur "Entdeckung einer einigermassen komplexen Regelhaftigkeit" (157). Nachher muss aber das ganze Arsenal höherer rationaler Erkenntnisleistungen das Entdeckte "nachweisen".
Gestaltwahrnehmung hat die Forscher wie Einstein und Karl von Frisch zu ihren Erkenntnissen gebracht. Goethe war "der grösste aller Gestaltseher" (161), aber er achtete die rationale Erkenntnisleistung gering. Für Lorenz sind beide gleichwertig. Gestaltwahrnehmung bildet aber das Alpha und Omega, also die Klammer für alle andern (rationalen) Erkenntnisleistungen.
Ferdinand Weinhandl (Hrsg.): Gestalthaftes Sehen. Ergebnisse und Aufgaben der Morphologie. Zum hundertjährigen Geburtstag von Christian von Ehrenfels. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1960, 439 Seiten.
Nach einer kurzen Skizze des philosophischen Werks von Christian von Ehrenfels werden dessen Arbeiten zu den "Gestaltqualitäten" (1890, 1922) mit einigen Ergänzungen abgedruckt. Es folgen 33 Beiträge. Am Schluss bringt die Tochter von Ehrenfels einige Zitate zur Person ihres Vaters.
Drei Beiträge gelten der Kulturmorphologie als "Wissenschaft vom Formal-Gestalthaften der historisch-soziokulturellen Gebilde und Prozesse" (Othmar F. Anderle). Die Kulturmorphologie setzt a) Ganzheiten voraus und b) ein Organ des Menschen für direkte Komplexerfassung.
Was wäre eine Ganzheit? Walter Ehrenstein zitiert Goethes Lob des Strassburger Münsters: "Du bist eins und lebendig gezeugt und entfaltet, nicht zusammengetragen und geflickt."
Theodor Erismann meint: "Ein System ist selbst nichts anderes als eine Gestalt."
Walter Heinrich unterscheidet in Anlehnung an Othmar Spann mehrere Arten von Ganzheit:
A. echte Ganzheiten (=konkrete Wesenseinheiten) 1. geistige a) des subjektiven Geistes b) des objektiven Geistes, z. B. die gesellschaftlichen Ganzheiten 2. biotische a) menschliche, b) tierische, c) pflanzliche Organismen
B. Teilinhalte der echten Ganzheiten (=nicht konkrete; Abstrakt-Allgemeines) · für die gesellschaftlichen Ganzheiten: deren Lebenskreise, wie Religion, Wissenschaft, Kunst, Stadt, Recht usw. · für den Organismus: Verdauungs-, Nerven-, Blutkreislauf, Knochensystem.
C. Ganzheiten ferner Ordnung · die Zusammenhänge der anorganischen Natur, z. B. kristallinische Strukturen, Chemismen, Farben
D. abgeleitete Ganzheitszusammenhänge, Entsprechungszusammenhänge · z. B. Tier-Staaten, Lebensgemeinschaften (Symbiosen und Biozönosen), Wiese, Wald, Urwald.
Otto Höfler meint, die Variationsbreite persönlich morphologischer Begabung sei kaum geringer als die Abstufung mathematischer Begabung. D. h. es gibt Gestaltblinde und Gestaltsichtige in zahllosen Abstufungen. Das zeigt sich etwa bei der Erfassung des "Charakters" eines Menschen. Richard Meili schildert Ähnliches für die "Intelligenz". Er sieht alle Probleme und ihre Lösungen als Gestalt an. Sie unterscheiden sich nach ihrer Komplexität, ferner ob die Lösung Plastizität, Globalisation oder Fluency erfordert.
Zwei Beiträge befassen sich mit Aristoteles' Seele- und Geist-Begriff sowie seinem Formbegriff.
Ivo Kohler weist darauf hin, dass Ordnung "spontan" entstehen kann. Daher ist die Unterscheidung mechanisch/ ganzheitlich nicht mehr gültig. Kohler möchte daher Regelkreise "Systemgestalten" nennen. Solche gibt es in "Robotern" so gut wie in der Mutter-Kind-Beziehung.
Karl Bühler: Das Gestaltprinzip im Leben des Menschen und der Tiere. Bern: Hans Huber 1960.
Karl Bühler (1879-1963) war einer der grossen deutschen Psychologen in der ersten Jahrhunderthälfte. Bekannt wurden seine Bücher über die geistige Entwicklung des Kindes, seine Ausdruckstheorie (1933) und seine Sprachtheorie (1934). Unter der "Krise der Psychologie" (so sein Buchtitel 1927) verstand er den Umbruch von der Elementen- und Assoziationspsychologie des 19. Jahrhunderts zur Ganzheits- und Gestaltpsychologie, woran er selber auch grossen Anteil hatte.
Seine letzte grössere Schrift ist sehr schwer zu lesen. Das Gestaltprinzip kommt vor:
1. in der Wahrnehmung 2. im Wachstum des Körpers und der Seele 3. in der Kommunikation 4. im Schaffen 5. im Verhalten.
Bühler beschreibt einige Ergebnisse der Biologie (Orientierung der Zugvögel, Nestbau), der Neurologie (Retikuläres Aktivierendes System) und wendet sich dann der Kybernetik zu (Schachcomputer, Machina speculatrix). Anschliessend kommen Talcott Parsons, Jean Piaget und John von Neumann zu Wort. Konrad Lorenz, Albert Einstein und Rudolf Carnap folgen.
Einige Punkte seien herausgehoben:
1. Das Gestaltprinzip ist "ein Mittleres zwischen Sinnesempfindung und begrifflichem Erkennen".
2. Gestaltmomente bei lebenswichtigen Vorgängen sind entweder anschaulich, d. h. gestaltlich erfassbar, oder - wie etwa im Wachstumsgeschehen oder im Gestaltschaffen der Tiere - unbewusst wirksam.
3. Das Gestaltprinzip gehört zu den "Intuitionen" und ist "ansatzweise mit dem AAM der Biologen zu vergleichen" (AAM = angeborener auslösender Mechanismus).
Die Idee der Ganzheit in Philosophie, Psychologie, Pädagogik und Didaktik. Zusammengestellt und eingeleitet von Artur Kern. Freiburg: Herder 1965, 194 Seiten.
Schon der zweite Satz ist falsch. Arthur Kern wiederholt zum x-ten Mal die Behauptung, Aristoteles (oder gar Platon) habe den Satz formuliert: "Das Ganze ist mehr als die Summe der Teile" (1). Später (12) wird der Satz Christian von Ehrenfels zugeschrieben.
1929/30 propagierten Johannes Wittmann und Artur Kern die Ganzheitsmethode für das Lesenlernen, 1935 für das Rechtschreiben, 1960 für das Rechnen.
Der Band enthält 11 Artikel, davon 5 von Kern, aus der Zeit von 1935-64.
Kern setzt bei der Gestaltpsychologie von Christian von Ehrenfels ein und schildert die Berliner und Leipziger Schule. Das Ganze hat einen dreifachen Primat: · phänomenal, · genetisch und · funktional.
Für die Pädagogik gilt: Je jünger die Kinder, desto stärker schliesst die Ganzwirkung den Teil in das Ganze ein (39).
45 Seiten umfasst Wolfgang Metzgers Beitrag: "Die Entwicklung der Gestaltauffassung in der Zeit der Schulreife" (1956).
2 Beiträge zum ganzheitlichen Lesen von Josef Rombach stammen aus den Jahren 1935 und 1945.
Hans Elschenbroich meint: "Wer sich von Grund aus ganzheitlich verhält, ... fühlt sich fraglos einig mit sich selbst". Der Organismus ist kein Ganzes, denn er wächst, das Ganze aber "wird".
Der Rest ist pädagogisch, bringt nichts zur "Idee der Ganzheit". Schade.
Klaus Michael Meyer-Abich: Korrespondenz, Individualität und Komplementarität. Eine Studie zur Geistesgeschichte der Quantentheorie in den Beiträgen Niels Bohrs. Wiesbaden: Steiner 1965.
Klaus Michael Meyer-Abich ist der Sohn des grossen Morphologen Adolf Meyer-Abich. Seine Doktorarbeit am Philosophischen Seminar der Universität Hamburg (1964) wurde von Carl-Friedrich von Weizsäcker massgeblich gefördert. Sie betrifft, wie der Untertitel besagt, nur die Atom-Physik, und zwar die Beiträge von Niels Bohr von 1913-29. Sie werden mit viel Akribie und Zitaten nachgezeichnet.
1920 führte Bohr den Begriff Korrespondenz ein, 1925 denjenigen der Individualität, 1927 denjenigen der Komplementarität.
1) Das Korrespondenzprinzip hat etwas mit der "formalen Analogie zwischen Quantentheorie und klassischer Theorie" zu tun. Genauer nach Meyer-Abich: "Das Korrespondenzprinzip ist die noch nicht vollständig bestimmte Form ‚Die Möglichkeit jedes durch Ausstrahlung veranlassten Überführungsprozesses wird durch das Vorhandensein einer entsprechenden harmonischen Komponente in der Bewegung des Atoms bedingt' der noch nicht vollständig bestimmten Analogie zwischen der noch nicht vollständig bestimmten Quantentheorie und der bestimmten klassischen Theorie“ (86f).
2) Individualität heisst, atomare Objekte der Physik sind nicht Objekte schlechthin, sondern sie haben Individualität. Das bedeutet, dass "bei besonderen, z. B. physikalischen, Erkenntnissen im allgemeinen auch die besonderen Bedingungen mit in Anschlag zu bringen seien, unter denen sie erfolgen" (102). Also: "Die Individualität der atomaren Prozesse beruht darauf, dass das beobachtende Subjekt in nicht konstanter und nicht eliminierbarer Weise in der Erkenntnisrelation vertreten ist" (103).
3) Das Subjekt kann nun das atomare Objekt aus verschiedenen Warten betrachten, z. B. durch unterschiedliche Versuchsanordnungen. "Komplementär" heissen dann Erkenntnisse, "die objektseitig zusammengehören ..., subjektseitig aber von verschiedenen Warten aus erfolgen" (102). Genauer noch, nach Meyer-Abich: "Komplementär heissen Elemente, die in der klassischen Theorie zusammengehören, einander in der Quantentheorie jedoch ausschliessen, und deren Zusammengehörigkeit insofern für die klassische Theorie charakteristisch ist“ (151f). Dabei ist bemerkenswert, dass Bohr ursprünglich nicht von der Komplementarität zwischen Ort und Impuls sprach, sondern zwischen Raum-Zeit-Darstellung und Forderung der Kausalität.
Was ist der Unterschied zwischen Korrespondenz und Komplementarität? "Ein Korrespondenzverhältnis besteht zwischen blossen Theorien vermöge gewisser Gemeinsamkeiten, zu denen nicht das Anwendungsgebiet gehört, Komplementarität aber gibt es nur in Bezug auf ein gemeinsames Objekt" (185f).
Interessant der Hinweis, dass sich Bohr dabei auf die "Principles of Psychology" (1890) von William James stützen konnte (104,133-140, 154). Erkenntnis handelt also nicht nur von einem Objekt, sondern auch von den Bedingungen, unter denen sie gewonnen wird.
Im letzten Kapitel geht Meyer-Abich kurz auf die Ganzheit resp. Biologie ein. Bohr hatte ja stets nur Objekte im Auge, die Gegenstand der Physik waren (also nicht Objekte allgemein). Daher meinte er 1931, Lebenserscheinungen könnten von der Physik nicht erfasst werden. "Die strenge Anwendung derjenigen Begriffsbildungen, welche an die Beschreibung der leblosen Natur angepasst sind, dürfte in einem ausschliessenden Verhältnis stehen zu der Berücksichtigung der Gesetzmässigkeiten der Lebenserscheinungen.“
Bohr meinte, es sei eine Komplementarität zwischen mechanistischer und teleologischer Naturforschung nötig. Oder, wie es Meyer-Abich umgekehrt formuliert: "Ganz ist, wovon keine andere als komplementäre Beschreibung gegeben werden kann" (186).
Wenn man die Erläuterungen genau und langsam liest, wird der Inhalt verständlich. Wie immer: Der Rückgang zu den Quellen zeigt, dass vieles, was in Hand- und Lehrbüchern steht, zumindest ungenau ist.
Wichtig ist: (1) Man muss die drei Begriffe zusammensehen, darf sie also nicht voneinander isolieren. (2) Ausgangspunkt sind atomare Objekte als Gegenstände der Physik, nicht Objekte, wie sie "an sich selbst" sein mögen. (3) Eine mögliche Komplementarität zwischen mechanistischer und teleologischer Lebensbeschreibung ist nicht dasselbe wie die ursprüngliche Komplementarität in der Quantentheorie.
Ernst Topitsch (Hrsg.): Logik der Sozialwissenschaften. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1965, 568 Seiten.
31 Beiträge, und zwar Zeitschriftenartikel oder Auszüge aus Büchern aus den Jahren 1949-1963. Eine Ausnahme bildet der Vortrag "Über den Begriff der Ganzheit" von Moritz Schlick aus dem Jahre 1934. Er meinte schon damals, "Ganzheit" sei fast zu einem Zauberwort geworden, von dem man Befreiung aus allen Schwierigkeiten erhoffe. Schlicks Vortrag liegt im Übergangsfeld von der Gestalt-oder Ganzheitsbetrachtung zur Systembetrachtung. Er meint, man könne irgendein Gebilde sowohl "ganzheitlich" als auch "summativ" betrachten. Was man wählt, hängt davon ab, was man für einfacher oder vorteilhafter hält. Viele Gebilde sind z. B. nicht echte Ganzheiten, sondern Wirkungseinheiten.
Ernst Nagels Beitrag "Über die Aussage: 'Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile'" erschien zuerst 1952 unter dem Titel: "Wholes, sums and organic unities". Nagel unterscheidet 8 unterschiedliche Gebrauchsarten des Wortes "Ganzes" und 4 des Wortes "Summe". Ergebnis: Es kommt auf die Theorie an, unter der man eine "Ganzheit" erklären will.
Robert Mühlher, Johann Fischl (Hrsg.): Gestalt und Wirklichkeit. Festgabe für Ferdinand Weinhandl (zum 70. Geburtstag). Berlin: Duncker & Humblot 1967, 569 Seiten.
Der Österreicher Weinhandl promovierte 1919 in Graz und wirkte von 1922-42 in Kiel, kehrte dann über Frankfurt nach Graz zurück, wo er von 1950-64 Psychologie und Pädagogik lehrte.
1927 erschien sein Buch "Gestaltanalyse", in dem er die Methode zur "Grazer" Gestalttheorie lieferte. Mehrere Schriften betrafen Goethes Morphologie und Paracelsus, andere pädagogische Themen (z. B. "Erziehung durch Selbsterziehung" 1955).
Keiner der 37 Beiträge schildert Weinhandls Arbeiten oder Thesen. Einzig Albert Lang und Ioannis Panagiotopoulos berichten über experimentelle Untersuchungen zum "Gestaltlegetest", der von Weinhandl 1953 konzipiert wurde. Schade.
Armin Müller: Das Problem der Ganzheit in der Biologie. Freiburg: Alber 1967.
Der Nervenarzt und Naturphilosoph Armin Müller (*1888) hat seit 1933 über Ganzheit geschrieben. Sein letztes Werk galt dem "naturphilosophischen Werk Teilhards de Chardin" (1964). Das vorliegende Büchlein stammt aus seinem Nachlass.
Ausgangspunkt ist das für alle organische Ganzheit "konstitutive Rangordnungsprinzip, das den Gliedern nach ihrer Ganzheitsbezogenheit einen rein qualitativen Stellenwert verleiht".
In einem kurzen allgemeinen Teil behauptet Müller: 1. Schon der Atomkern und das Gesamtatom, die Molekel und die Makromolekel sind gegliederte, nicht summative Ganzheiten (Alwin Mittasch, 1938).
2. Biologische Organismen wie auch psychologische und soziologische Gebilde sind hierarchisch geordnet (I. H. Woodger, 1930-37). Eine Theorie dieser Aufbauprinzipien hat Martin Heidenhain unter dem Titel "Synthesiologie" (1918-23) aufgestellt. Seit J. Hughling Jacksons Lehre von der Hierarchie des Nervensystems (1860er Jahre) werden die aus der Soziologie stammenden Begriffe Dominanz und Subordination auch auf biologische (C. M. Child, A. Mittasch), soziale (O. Spann) und psychologische (McDougall, E .Spranger) Ganzheiten angewandt.
In einem speziellen Teil, der 4/5 des ganzen Buches ausmacht, widmet sich Müller drei Problemen: a) dem Descensus der Keimdrüsen der Säugetiere (basiert auf dem "polaren Verhältnis von Individuations- und Fortpflanzungstendenz" sowie einer "Psychologie der Organe"); b) Syphilis und Metasyphilis; c) der sogenannten fremddienlichen Zweckmässigkeit (Beherbergung von Parasiten, z. B. Tollwut).
Ein irritierendes Werk mit vielen Namen und medizinischen Fachausdrücken, völlig unsystematisch und hin- und herspringend. Von Aristoteles und Goethe bis zu Adolf Portmann, von den Pflanzen über den Orgasmus bis zur Selbstdarstellung alles Lebendigen spannt sich der Bogen. Man muss sich einlesen. Der Inhalt ist ernst zu nehmen. Es wird eine Fülle von Information geboten. Der Tonfall ist keineswegs dogmatisch oder sektiererisch. Kurz: Das Buch überzeugt.
Wolfgang Köhler: Die Aufgabe der Gestaltpsychologie. Berlin: De Gruyter 1971, 123 Seiten.
Vier Vorträge, die Wolfgang Köhler (1887-1967) im November 1966 an der Princeton Universität hielt. Freunde bearbeiteten das Manuskript, das 1969 zuerst auf Englisch erschien.
Köhler war von 1921 bis 1935 Direktor des Psychologischen Instituts an der Universität Berlin; er wanderte dann nach den USA aus.
Seine Grundthesen lauteten: 1. Nur aus der phänomenalen Welt lässt sich wissenschaftliche Erkenntnis gewinnen. 2. Die phänomenalen Gegebenheiten sind: Selbstbeobachtung und äusseres Verhalten. 3. Die Ausgangsgegebenheiten sind Gestalten. 4. Das Ganze ist verschieden (nicht: mehr als) von der Summe seiner Teile.
Köhler beschreibt zuerst sehr anschaulich, wie die Gestaltpsychologen bei interessanten Tatsachen der Wahrnehmung zu forschen anfingen (Sehen, Hören) und dann eine Erklärung dafür suchten. Um 1920 stellten sie dafür die Hypothese auf, psychologische und Gehirnvorgänge seien sich in "allen ihren Strukturcharakteristika ähnlich", also isomorph. Zur Erläuterung beschreibt Köhler zuerst die Auffassung von Descartes, dass der menschliche Körper eine hydraulische Maschine sei. Dann wird es komplizierter mit Physik und Evolutionstheorie. Später kam die Erforschung der "figuralen Nachwirkungen" hinzu. Seit 1947 nahm Köhler dafür Messungen der Gehirnströme vor.
Weitere Untersuchungen galten dem Gedächtnis und dem produktiven Denken (= Problemlösen). Bei letzterem kann Erfahrung (Gedächtnis) "sowohl ein Hindernis wie eine Hilfe sein". Nach Köhler erfordert Probleme lösen: neue Beziehungen entdecken. Dies ist möglich, wenn man das "Gegebene" gedanklich verändert, erweitert oder umstrukturiert. Merkwürdigerweise passiert solches oft, wenn man nicht an das Problem denkt, also z. B. beim Rasieren oder Einschlafen. Allerdings: Das Material, auf das es ankommt, muss zuerst gründlich untersucht und in aktiver geistiger Tätigkeit bearbeitet worden sein.
Harmlos.
Arnulf Rieber: Vom Positivismus zum Universalismus. Untersuchungen zur Entwicklung und Kritik des Ganzheitsbegriffs von Othmar Spann. Berlin: Duncker & Humblot 1971.
Eine 1968 abgeschlossene Dissertation, die - wohl ohne Absicht des Autors - zeigt, wie alt manche der heute gerade aktuellen systemtheoretischen Behauptungen sind. So steht etwa bei Dilthey 1883 das Individuum (als psychophysisches Ganzes) mit andern Individuen in "Wechselwirkung" und ist überdies ein "Kreuzungspunkt der verschiedenen Systeme dieser Wechselwirkungen", diesmal der "Wechselwirkungen der Gesellschaft".
Diese verschiedenen Systeme lassen sich in drei Arten zusammenfassen:
1. Systeme der äussern Organisation (Familie, Verbände, Kirche) 2. Kultursysteme (Religion, Philosophie, Wissenschaft etc.) 3. Einzelvölker
Alles zusammen bildet aber keine Ganzheit, sondern nur ein "unermesslich Zusammengesetztes", also ein offenes System.
Adam Schäffle (ca. 1876) entnahm John Tyndall (ca. 1874) bereits die These des vernetzten Denkens: "Der Verstand des Forschers muss gleichsam ein Gewebe von Gedanken sein, das in allen seinen Fäden dem Gewebe der Dinge in der Natur entspricht."
Wieviel Spann von 1903-14 von Dilthey und Schäffle übernommen hat, weist Rieber ausführlich nach - auch die Änderungen und Auslassungen. Mehr als 30 Seiten gelten dann der "Kategorienlehre" (1924), in welcher Spann den universalistischen Ganzheitsbegriff entfaltet. Riebers Urteil: Es "zeigt sich aufs Neue als beherrschender methodischer Zug des universalistischen Denkens, dass um der Gleichförmigkeit der einmal angenommenen Begriffsbildung willen Spann von einer gewaltsamen Interpretation der Wirklichkeit zur andern fortschreitet° (146).
Der abschliessende 60seitige Versuch von Rieber, Spanns Ganzheitsbegriff der modernen Informationstheorie und der "kybernetischen Systemtheorie" gegenüberzustellen, gibt wenig her.
G. S. Rousseau (Hrsg.): Organic form. The life of an idea. London, Boston: Routledge & Kegan Paul 1972, 108 Seiten.
Drei Beiträge der Jahresversammlung der Modern Language Association im Dezember 1970 in New York. Dazu eine chronologische Literaturliste (1823-1970) mit Werken über ästhetische Probleme der organischen Form.
G. N. Giordano Orsini berichtet über die "antiken Wurzeln" der Idee "organischer Einheit". Plato war der erste, der im Phaedrus (264C) forderte, ein Kunstwerk müsse eine Ganzheit sein wie der Körper, mit Kopf, Füssen, Rumpf und Gliedern. Für die Darstellung des Unterschieds organisch-mechanisch stützt sich Orsini auf Rudolf Eucken (1878).
Philip C. Ritterbush setzt bei den grossartigen Zeichnungen von Lebewesen der Renaissance-Künstler (Leonardo, Vesalius, Gesner, Fuchs) ein. Linné (1755) betrachtete die Formdynamik in seiner "Metamorphose der Pflanzen". Damals wurde auch die Sensibilität der Pflanzen auf äussere Reize entdeckt. Erasmus Darwin schrieb ein Gedicht über die "Liebe der Pflanzen" (1789), mit dem er wissenschaftliche Erkenntnisse visualisieren wollte.
Schon mit dem Schweizer Charles Bonnet (1754) hatte das wissenschaftliche Studium der Pflanzenformen begonnen, insbesondere der Anordnung der Blätter. Der Unterschied zwischen Formbildung bei Organismen und Kristallen war damals noch nicht erfasst. Erst Goethe klärte dies seit 1787. Seine Morphologie befasst sich mit den Prozessen der Strukturbildung, vernachlässigt aber die materiellen Prozesse. "Goethe's nature is orphic after the fashion of the Greek mysteries." Kant sah das in seiner "Kritik der Urteilskraft" (1390) besser Der Organismus zeigt Zweckmässigkeit ohne Zweck. Unser Erkenntnisapparat ist auf die Natur "zugeschnitten". Der Dichter S. T. Coleridge (1830) arbeitete den Unterschied zwischen der Erfassung von Mechanismen und dem Verstehen von Organismen deutlich heraus. Für letzteres braucht es mehr als Analyse. Der Betrachter muss seine höchsten "integrative powers" einbringen: die Imagination. Sie ist eine aktiv formgebende Fähigkeit des Menschen. Coleridge entwickelte seine Formtheorie an Shakespeares Dramen. Sie habe eine "organische Form".
Sorgfältig verfolgt Ritterbush, wie sich die Untersuchung der Form ausbreitete, einerseits bei den spekulativen Naturphilosophen, anderseits bei den "Naturalisten", die insbesondere die Zellen erforschten. Aber auch diese brauchten eine künstlerische Ader. Wissenschafter brauchen auch Ästhetik. Der Naturalist T. H. Huxley gab 1856 zu, "that living nature is not a mechanism but a poem".
Über die Beschreibung der Spiralstruktur von Schneckenhäuschen führt dann der Weg zur Doppelhelix. Auch Einstein suchte nach Symmetrie und Universalität in den Naturprozessen. Jedenfalls: Die kreative Imagination ist wichtig für den Fortschritt der Wissenschaft (siehe: Martin Johnson: Art and Scientific Thought. 1944; A. M. Taylor: Imagination and the Growth of Science. 1966).
Ein schöner Aufsatz!
Schon in Molieres "Don Juan" (1665) taucht die Frage auf, ob der Mensch bloss ein Mechanismus sei. Aber das ist nicht das Thema von William K. Wimsatt. Er untersucht, ob die Entstehung und Endform eines Kunstwerks etwas mit organischen Vorgängen und Organismen zu tun habe und verneint dies. Was entspräche denn etwa dem Bauch in einer Tragödie? Man darf also das Konzept der "organischen Einheit" nicht strapazieren. Wimsatt plädiert für eine offenere, strukturalistische Betrachtung. Auch die genetische Betrachtung darf nicht zu organizistisch sein. Pflanzen und Tiere wachsen nach "Bauplänen", einige verlorene Teile können sie regenerieren. Aber die geistige Arbeit des Menschen (beim "Gebären" eines Kunstwerks) geht weit darüber hinaus; Hier ist völlige Umstrukturierung möglich. Gedichte wachsen nicht wie Pflanzen.
Ismail Amin: Assoziationspsychologie und Gestaltpsychologie. Eine problemgeschichtliche Studie mit besonderer Berücksichtigung der Berliner Schule. Bern: Lang 1973, 233 S.
Dissertation an der Universität Zürich bei Prof. Dr. Hans Biäsch (Psychologie).
Ausserordentlich informativ, sorgfältig und mit vielen Originalzitaten.
Klaus-Jörg Siegfried: Universalismus und Faschismus. Das Gesellschaftsbild Othmar Spanns. Zur politischen Funktion seiner Gesellschaftslehre und Ständestaatskonzeption. Wien: Europaverlag 1974.
These: Othmar Spann und seine Schüler haben an der Zerstörung der Demokratie in Österreich und in Deutschland mitgewirkt.
Immer wieder unterbrochen von kurzen Skizzen der politischen und gesellschaftlichen Lage vor und nach 1900 nimmt Siegfried die Theorien von Spann unter die Lupe. Schon 1911 schrieb dieser: "Der Zusammenhang, das Ganze, die Gesellschaft steht über den Individuen ... Daher der Name Universalismus." Und 1914: "Über- und Unterordnung" sei "die Daseinsform sämtlicher gesellschaftlicher Erscheinungen, als organisierte angeschaut“.
Spann sprach sich 1914 offen für die Unterdrückung der Slawen - eine kulturell passive und ungebildete Masse - durch die Deutschen aus. Ein Jahr zuvor hatte er über den Krieg als "Geburtshelfer der Kultur" geschrieben: "Das Blut der gefallenen Krieger ist die feurige Arznei für die kreisenden Säfte des staatlichen Organismus."
Nach dem Ersten Weltkrieg kritisierte er die Demokratie und den Marxismus, entwarf einen Ständestaat und beteiligte sich führend an der politischen Diskriminierung jüdischer Kollegen.
Nun verfolgt Siegfried die politische Geschichte Österreichs zusehends detaillierter.
So wie er die Theorien von Spann und seinen Schülern sowie ihre Aktivitäten und Beziehungen (z. B. zum italienischen Faschismus und zur NSDAP) schildert, erscheinen sie einem widerlich.
Suitbert Ertel, Lilly Kemmler, Michael Stadler (Hrsg.): Gestalttheorie in der modernen Psychologie. Darmstadt: Steinkopff 1975, 319 Seiten.
Enthält 24 recht schwer zu lesende Fachaufsätze zur Gestaltpsychologie, ihrer Geschichte, Theorien und Anwendungen. 8 der Beiträge sind in englischer Sprache (u. a. von Harry Helson, Karl H. Pribram und Paul Fraisse). Als einziger Schweizer hat Richard Meili (Bern) Betrachtungen beigesteuert. Er behauptet u. a., dass auch im Denken von erlebten Ganzheiten gesprochen werden könne: "Wenn man eine Situation simultan oder sukzessive überblickt, wie z. B...den Wechsel der Kurse im Börsensaal, kann sich ein Verständnis des Wahrgenommenen ergeben. Das komplizierte Geschehen wird als Ganzes erfasst, man hat dann den Eindruck, wirklich verstanden zu haben, was geschieht."
Informativ ist eine Zeittafel zur Geschichte der Gestalttheorie am Anfang.
Kurt F. Bloch: Philosophie der Form des Organischen. Bonn: Bouvier 1976, 147 Seiten.
Macht einen sehr philosophischen Eindruck. Der Autor könnte aber Biologe oder Mediziner sein. Der wissenschaftstheoretische Hintergrund ist jedenfalls nicht der Neopositivismus oder K. R. Popper, sondern er bleibt offen. Am meisten kommen Kant, Hegel und Schopenhauer zu Wort. Für die neueren Naturwissenschaften stammen die Schriften aus den 60er Jahren.
Sauber aufgebaut, aber der Text ist dennoch unverständlich.
D. C. Phillips: Holistic Thought in Social Science. Macmillan 1976.
Der Autor studierte in Australien und wechselte über die London School of Economics an die Stanford University, California.
Er skizziert kurz, kritisch und sehr allgemein folgende Strömungen:
1. Die Organizisten F. H. Bradley (1893), A. E. Taylor (1903) und J. McTaggart (1921) legten in der Nachfolge Hegels den Schwerpunkt auf Beziehungen zwischen Teilen eines Ganzen.
2. Die "biologischen" Organizisten, wie die Gebrüder R. B. und J. S. Haldane (1883) und Edmund Montgomery (1880). Es folgten ihnen J. H. Woodger, C. Lloyd Morgan, E. R. Russell, W. E. Agar sowie der Staatsmann J. C. Smuts und der Philosoph A .N. Whitehead. Verwandt damit sind der Vitalismus (Hans Driesch) und die Theorie der kreativen Evolution (Henri Bergson, G. B. Shaw).
3. Die Biologen Paul Weiss und Ludwig von Bertalanffy, ferner die Soziologen Emile Durkheim (1895) und Maurice Mandelbaum (1959).
4. Ludwig von Bertalanffy stellte 1948 in Alpbach erstmals seine Allgemeine Systemtheorie (GST) vor. Sie entspricht laut Phillips Strömung 1. Zur Erläuterung greift er auf John Dewey (1884) und seinen Mitarbeiter Arthur F. Bentley (1949) zurück.
5. Arthur Koestler schlug in seinem Buch "Der Geist in der Maschine" (1967) auf der Grundlage der GST eine Theorie der hierarchischen Ordnung vor. Demgegenüber basiert David Eastons "Systems Analysis of Political Life" (1965) nicht auf den zentralen Thesen der GST.
6. Strukturalismus (Lévi-Strauss, Jean Piaget) und Funktionalismus (Herbert Spencer, John Dewey; R. K. Merton, Sigmund Freud).
7. Gestaltpsychologie (Wertheimer, Koffka, Köhler) und humanistische Psychologie (seit 1962).
Der Titel des Buches ist irreführend, da ein grosser Teil der Ansätze aus der Biologie stammt, die, wenigstens hierzulande, nicht zu den Sozialwissenschaften zählt.
Phillips unterscheidet drei Arten von Holismus:
1. Den Organizismus, der behauptet, mit dem analytischen Vorgehen (wofür prototypisch die physikalisch-chemischen Wissenschaften sind) könne ein Organismus oder eine Gesellschaft oder die Wirklichkeit als Ganzes nicht richtig erfasst werden. Dazu kommen vier weitere Thesen: · Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. · Das Ganze bestimmt die "Natur" seiner Teile. · Die Teile können nicht verstanden werden, wenn sie isoliert vom Ganzen betrachtet werden. · Zwischen den Teilen eines Ganzen bestehen dynamische Beziehungen.
2. Die Behauptung, dass die Eigenschaften eines Ganzen oder Systems, nachdem sie bestimmt worden sind, nicht aus den Eigenschaften der Teile erklärt werden können. Die Gegenposition wird als Reduktionismus bezeichnet.
3. Die Behauptung, die Wissenschaft benötige ein neues Konzept (und neue Begriffe) für die Erfassung von Ganzheiten.
Phillips Thesen sind nun: · Holismus 1 (Strömungen 1+2) ist ungenau und hat ein falsches Verständnis des analytischen Vorgehens. ·
Paul
Weiss (Strömung 3) und Arthur Koestler (Strömung 5) vermischen alle 3 Holismen
und verwechseln die Opponenten. · Die GST ist reiner Holismus 1. Sie taugt nichts. · Der Strukturalismus (Strömung 6) hat wenig mit den Holismen zu tun, er ist einfach eine Fortsetzung des analytischen Vorgehens. Auch der Funktionalismus muss nicht notwendigerweise Holismus sein. Wenn er aber mit Evolutionismus oder Organizismus vermischt ist, dann gibt es Verwirrung (besonders bei John Dewey). · Was die Gestaltpsychologen (Strömung 7) herausgefunden haben, kann genausogut in der analytischen Terminologie ausgedrückt werden.
Fazit: Holismus 1-3 haben recht, wenn sie dynamische Beziehungen zwischen Teilen eines Ganzen betonen und auf die Schwierigkeiten beim Erfassen von neugebildeten Ganzheiten hinweisen. Sie liegen jedoch falsch in der Beurteilung der analytischen und reduktionistischen Methoden. Diese sind nämlich so "bescheiden und vernünftig", dass sogar ein Holist sie anwenden kann und muss. Der Holismus selber aber ist unpraktikabel (an eminent unworkable doctrine).
Wolf-Dieter Stempel: Gestalt, Ganzheit, Struktur. Aus Vor- und Frühgeschichte des Strukturalismus in Deutschland. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1978, 41 Seiten.
Das grundlegende Werk des Strukturalismus ist Ferdinand de Saussures posthum erschienener "Cours de linguistique générale" (1916). Der Genfer de Saussure hatte von 1876-80 in Leipzig studiert und dort promoviert. Einflüsse deutscher Forscher lassen sich daher nachweisen (z. B. von Georg von der Gabelentz). Aber der "Cours" ist eigenständig. Seine Aufnahme in Deutschland war weitgehend von Unverstand geprägt. Am ehesten hat ihn Jost Trier (1931) in seiner Wortfeld-Theorie aufgenommen. Sonst bog man de Saussure auf von Humboldt zurück und entschärfte ihn damit.
Es gab aber in den 20er Jahren in Deutschland die wichtige Strömung der Gestalt- und Ganzheitspsychologie. Sie regte die deutsche Sprachwissenschaft an: z. B. H. F. J. Junker 1924 und vor allem Karl Bühler. Über letzteren drang sie auch in den Prager Linguistenkreis ein. Schon 1930 hob Roman Jakobson die Phonologie als "ganzheitliches Verfahren" gegen die "junggrammatische atomistisch-isolierende Methode" ab und bestimmte das phonologische System als "Gestalteinheit". In Deutschland aber wurden die strukturalen Gedanken von Bühlers Sprachtheorie überhaupt nicht gewürdigt. Die "ganzheitliche Sprachauffassung" des Neo-Humboldtianers Leo Weisgerber (1925-30) ist eher pauschal und neigt dem Irrationalen zu.
Schon vor der Jahrhundertwende hat Wilhelm Dilthey (z. B. 1894) mit dem Strukturbegriff gearbeitet. Struktur ist der "erworbene seelische Zusammenhang", d. h. die Anordnung, in der psychische Fakten miteinander verknüpft sind und die zugleich den "Untergrund des individuellen Erkenntnisprozesses" bildet.
Ausgehend von der Wiederbelebung von Goethes Morphologie erstellte Vladimir Propp 1928 eine "Morphologie des Volksmärchens". Es folgte in Deutschland André Jolles mit seinen "Einfachen Formen" (1930). Auch sie weisen in die strukturale Richtung.
Generell kann man sagen: Es gibt zwar Ansätze in Deutschland zum strukturalen Denken, aber sie blieben um 1930 stehen. Gesamthaft gesehen, sind sie unbedeutend.
Karl-Heinz Menzen: Entwürfe subjektiver Totalität. Dargestellt am psychologisch-ästhetischen Gestaltbegriff des frühen 19. Jahrhunderts. Frankfurt am Main: Peter D. Lang 1980.
Das ist eine Dissertation an der Gesamthochschule Kassel (1979) mit fast 400 Seiten Text und 150 Seiten Anmerkungen und Register, alles in Schreibmaschinenschrift.
Schwerpunkte sind Goethe und C. G. Carus, dann folgen Reinhold und Niethammer.
Ich habe keinen einzigen Satz verstanden.
Walter Birnbaum: Organisches Denken als Weg in die Zukunft. Vier Entwürfe. Tübingen: Katzmann 1982, 102 Seiten.
Über "organisches Denken" hat Birnbaum schon 1960 einen Vortrag gehalten. Die vorliegenden 4 Abhandlungen stammen aus den 70er Jahren. Im Versuch, das organische Denken zu charakterisieren (1978), setzt er bei Goethe ("Werdend betrachte sie nun ...“) und zwei romantischen Naturphilosophen an. Der Schwung lief aber um 1830 aus; die kausal-mechanische Physik beherrschte alles.
Gegenbewegungen waren erst um die Jahrhundertwende: Wandervogel und Anthroposophie. In der Wissenschaft bilden "Durchbruchsstellen des neuen organischen Denkens" die Atomphysik (Heisenberg), der Neo-vitalismus (Driesch) und die Theologie.
Für Birnbaum ist die rein logische Verstandestätigkeit nur der niedere Teil der wissenschaftlichen Arbeit. "Sie muss umfasst sein von der geistigen Schau des Ganzen, das sich nach dem Modell des lebendigen Organismus gliedert" (30).
Horst H. Freyhofer: The Vitalism of Hans Driesch. The Success and Decline of a Scientific Theory. Frankfurt: Peter Lang 1982.
Hans Driesch (1867-1941) war ein Schüler Ernst Haeckels und mit dessen mechanistischem Ansatz nicht einverstanden. Daher suchte er neue Wege. Seine Grundfrage ging nach dem Sinn. Seinen ersten Aufsatz, "Die mathematisch-mechanische Betrachtung morphologischer Probleme in der Biologie" (1891), sandte er Haeckel, der ihm empfahl, sich im Irrenhaus behandeln zu lassen. Drieschs Erleuchtung ereignete sich 1895 auf Spaziergängen in den Wäldern um Zürich.
Im Ersten Weltkrieg entwickelte Driesch eine chiliastische utopische Vision, die recht mystisch war.
Die anderen Vitalisten seiner Zeit waren Henri Bergson, Jacob von Uexküll und Ludwig Klages. Um 1940 wurden in der Biologie verwandte Ansätze führend: die organizistische Theorie von Ernst Naegeli und die "formistischen Kategorien" von August Weismann und Hans Spemann. 1944 griff K. R. Popper in seinem Buch "The Poverty of Historicism" die "holistische" Wissenschaft vom positivistischen Standpunkt aus an. Bald mehrten sich die kritischen Stimmen, z. B. von Arthur March 1948, Ludwig von Bertalanffy 1949 und Nicolai Hartmann 1950. Seither ist Driesch erledigt.
Eine knappe und präzise Schilderung der wichtigsten Punkte von Drieschs Theorie, die sich in mehreren Sprüngen entwickelte. Schade, dass der Text englisch ist.
Rupert Riedl, Franz Kreuzer (Hrsg.): Evolution und Menschenbild. Hamburg: Hoffmann und Campe 1983.
14 Beiträge eines Gesprächs, das in den Pfingsttagen 1982 in Schloss Klessheim stattfand, in drei Gruppen gegliedert und je mit einer Diskussion abgeschlossen.
• Franz Kardinal König meint, heute gingen Naturwissenschaft und Religion aus drei Gründen aufeinander zu: Man fragt 1. nach der Moral des Forschens, 2. nach dem Sinn des Lebens und 3. "Was darf ich hoffen?". Ferner meint er: Gott bleibt "jenseits aller Horizonte des wissenschaftlichen Erkennens und Erfahrens, bleibt in ein unerforschliches Geheimnis gehüllt, jenseits von Raum und Zeit".
• Der Biologe Carsten Bresch meint, weil der Mensch ein Totschläger war, habe er aus dem Tierreich emporsteigen können. Der "Systemzwang der Evolution" führe allerdings heute dazu, dass wir eine friedliche Riesengruppe namens Menschheit bilden müssen.
• Der Biologe Rupert Riedl meint, das Schöpferische stecke als Möglichkeit bereits in den Merkmalen der Quanten. Die Harmonie der Welt ist also als Möglichkeit prästabilisiert, "in ihren realen Erscheinungsformen ist sie von poststabilisierter Harmonie". Erkenntnis ist ein Kreisprozess zwischen Erwartung und Erfahrung. Das volle Verstehen eines Systems ist, ebenso wie sein Entstehen, ein zweiseitiger Prozess. Daher müssen wir die "Spaltung der Welt", z. B. in Natur- und Geisteswissenschaften, überwinden, versöhnen.
• In einem 40seitigen Beitrag geht der Wissenschaftstheoretiker Gerard Radnitzky auf den Erkenntnisfortschritt ein, der "zur Verbesserung des Menschenbildes" geführt hat. Z. B.: Alle Lebewesen und sogar Organe können als "Problemlöser" betrachtet werden. Und Problemlösung, zumindest durch den Menschen, kann als Zusammenspiel von Kreativität und Kritik angesehen werden. All unser Wissen ist nur Vermutung und daher revidierbar. Es herrscht ein permanenter Wettbewerb, welche "Theorie" besser ist.
• Konrad Lorenz wettert wie gewohnt gegen "Irrglauben", "falsche Vorstellungen", usw. Die historische Wahrheit ist: "Nichts ist schon dagewesen".
• Der Wissenschaftstheoretiker Erhard Oeser fordert von der Wissenschaft Selbstkorrektur. Uns ist heute der Sinn für das Schöne und Hässliche und das Gefühl für Böse und Gut verloren gegangen.
• Sowohl der Ökonom Friedrich A. von Hayek als auch der Soziologe Niklas Luhmann heben die kulturelle Evolution deutlich von der biologischen ab, denn da gibt es Sprache und Tradition.
Auffallend: Stachowiaks Modelltheorie wird nicht erwähnt. Ferner wird die menschliche Psychologie kaum berücksichtigt. Präzise Kenntnisse der Philosophiegeschichte fehlen ebenfalls.
Walter Gebhard: "Der Zusammenhang der Dinge". Weltgleichnis und Naturverklärung im Totalitätsbewusstsein des 19. Jahrhunderts. Tübingen: Niemeyer 1984.
650seitige Habilitationsschrift an der Philosophischen Fakultät für Sprach- und Literaturwissenschaft II der Universität München.
Eine Zumutung für Nicht-Germanisten, voller Fremdwörter, offenbar dem aktuellen Fachjargon entsprechend. "Die vorliegenden Untersuchungen wollen zeigen, dass im Spiegelungs-Topos eine solche verfälschende Macht liegt. Sie führen den Nachweis, dass man in der Natur selbst eine defensive Linie gegen die in den Wissenschaften von ihr erreichten (vermeintlichen) Abwertungen aufgebaut hat, indem man ihr eine soziologische Organisation, letztlich eine 'Aristokratie' als Struktur unterlegte."
Schwerpunkte sind, nach einleitenden "sprach- und metapherntheoretischen Problemen": das Gleichnisdenken Arthur Schopenhauers Gustav Theodor Fechners metonymischer Animismus Rudolf Hermann Lotzes Stellung zwischen Mechanismus- und Mikrokosmosmodell der synthetische Monismus Eduard von Hartmanns Ernst Haeckel: "Gott-Natur" Wilhelm Bölsches "Weltkunstanschauung".
Der abschliessende dritte Teil betrifft die "poetologische Relevanz der späteren Naturphilosophie für die Dichtung der zweiten Jahrhunderthälfte", z. B. für Fontane, Arno Holz, Richard Dehmel und Alfred Mombert.
Anschliessend ca. 75 Seiten Bibliographie und Register.
Gerhard Linde: Untersuchungen zum Konzept der Ganzheit in der deutschen Schulpädagogik. Frankfurt: Peter Lang 1984.
Der Autor hat seine Lehrerausbildung 1956-60 erhalten und stand hernach 18 Jahre an Gesamt-, Haupt- und Realschulen im Dienst. "Vier Jahre Hochschultätigkeit und die anschliessende Rückkehr in die Schulpraxis brachten mir die nach wie vor bestehende Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis schmerzlich zum Bewusstsein."
Nach dem Zweiten Weltkrieg verfolgte man zuerst eine geisteswissenschaftlich ausgerichtete bildungstheoretische Pädagogik (in Anknüpfung an Dilthey, Litt, Spranger, Kroh und Flitner).
1962 erfolgte die "realwissenschaftliche Wende" (Heinrich Roth), welche auf Kybernetik und Programmierten Unterricht abstützte und zu einer lernzielorientierten Leistungspädagogik führte. Erst neuerdings rückt die Ganzheitlichkeit des Menschen wieder in den Mittelpunkt. Seit 1981 wird eine "Wende zur Alltagswelt" und Lebens- statt Wissenschaftsorientierung gefordert.
Linde untersucht, sehr detailliert und mir Originalzitaten, wie sich die Idee der "Ganzheit" in der deutschen Pädagogik gezeigt hat, nämlich unter den Stichworten: 1. Konzentration (ca. 1800-1920) z. B. "Sammlung der Seele" 2. Gesamtunterricht (ca. 1900-1930/45) 3. Ganzheitspädagogik (seit ca. 1920, besonders auch 1950-62).
Die letzten 30 Seiten gelten der pseudo-ganzheitlichen "Gegenstandspädagogik" von Theodor Schwerdt (1961/63).
Eine ausserordentlich informative Arbeit über das Bemühen um einen "ganzheitlichen" Unterricht. Dass solches bislang scheiterte liegt an unsauberen Begriffen, fehlender Theorie und Fixierung am Alten, insbesondere am vor-ganzheitlichen Denken ihrer Vertreter selber. Eine "Verschiebung der Sehweise" ist gefordert, eine "holistische Denkstruktur". Offen bleibt, wie diese auszusehen hätte. Linde setzt einige Hoffnung in die Humanistische Psychologie (ab 1962), in die Themenzentrierte Interaktion (Ruth Cohn) und in die auf der Gestalttherapie (Perls) basierende Gestaltpädagogik. Hinweise geben einige Anmerkungen auf Seiten 213-223.
Was fehlt, sind z. B. Erörterungen zu "System" und "Struktur" oder zur "Sozialpädagogik" (Natorp 1898) und Anthroposophie.
Interessant ist folgende Bemerkung: In Zeiten, die als krisenhaft empfunden werden, tritt der Mangel an "Ganzheit" in besonderer Weise ins Bewusstsein, also z. B. nach der Französischen Revolution und nach den beiden Weltkriegen, ferner: heute (Umwelt-, Wachstums-Krise). Freilich: "Ganzheit" ist bloss eine Idee oder Weltauffassung und noch keine praktikable Methode.
Samson D. Sauerbier (Hrsg.): Zum veränderten Verhältnis von Kunst und Wissenschaft heute. Kunst & Therapie Band 5/1984, Münster: Lit 1984.
14 Beiträge eines Kolloquiums vom Dezember 1982 in Köln. Die meisten betreffen die Kunst. Interessant einzig die Auseinandersetzung von Günter Schulte mit Siegfried J. Schmidts Begeisterung für die konstruktivistische Erkenntnistheorie (H. R. Maturana). Bei Maturana heissen Organismen jetzt "autopoietische Systeme". In der Kommunikation tauschen sie nicht Information aus, sondern die Signale des einen stimulieren das andere, in seinem kognitiven Bereich solche Informationen aufzubauen, die das initiierende System aufgebaut haben möchte. Alle Systeme stehen in Koevolution.
Das ist einleuchtend, aber die Übertragung auf gesellschaftliche Handlungssysteme wie Kunst und Wissenschaft ist fraglich. Also das alte Problem: Sind soziale Systeme Organismen?
Die wichtigere Frage taucht nicht auf: Müsste die Wissenschaft "schauen", wenn ja, wozu? Vielleicht müsste die Wissenschaft als Ganzes anders werden, in der heutigen Situation.
Wenn in autopoietischen Systemen alle Funktionen nur den Zweck haben, die Autopoiese aufrechtzuerhalten, dann "erhalten" Wissenschaft und Kunst nur sich selber. Heute aber sollten wir die "Welt" erhalten. Die neue These ist irgendwie zu egoistisch. Das Gesamtsystem Gesellschaft müsste man genauer beachten. Womit ko-evolutiert dieses? Mit der Natur?
Paul C. Vitz, Arnold B. Glimcher: Modern Art and Modern Science. The Parallel Analysis of Vision. New York: Praeger 1984.
Die Gestaltpsychologie hatte auch Einfluss auf Maler, z. B. Malevich (1918), Kandinsky (1923), Klee (1905), ferner auf das Bauhaus (Moholy-Nagy). D. O. Hebb zerstörte 1949 die Gestalttheorie durch eine analytische Perzeptionstheorie; später entdeckten Hubel und Wiesel (1962) Neuronen, die nur auf bestimmte Linienarten reagieren. Die These, dass sich Kunst und Wissenschaft in der "Analysis of Vision" parallel entwickelt haben stimmt bis vor 30 Jahren. Seither bestehen keine starken Zusammenhänge mehr.
Wilhelm Bühler et al. (Hrsg.): Die ganzheitlich-verstehende Betrachtung der sozialen Leistungsordnung. Ein Beitrag zur Ganzheitsforschung und -lehre. Festschrift Josef Kolbinger zum 60. Geburtstag dargebracht von Freunden, Kollegen und Schülern. Wien: Springer 1985.
Ein harter, 775seitiger Brocken mit 48 enggedruckten Beiträgen deutscher und österreichischer Ökonomen und Ingenieure. (Merkwürdigerweise fehlen fast überall die Literaturverzeichnisse.) Wer zu lange darin liest, kriegt einen sturmen Kopf. Man müsste also Rosinen herauspflücken (freilich: sie sättigen nicht). Aus meiner Sicht sind das etwa:
• Adolf Adam (Linz), Informatiker und Betriebskybernetiker: "Modellplatonismus und Computerorakel", voll Gift und Zorn gegen die Entmenschlichung durch Messen und Rechnen, Rationalität und Herrschaftsorientierung. • Michael Hofmann (Wien) geht auf 40 Seiten auf die Entwicklungstheorien von Adam Smith, Malthus, Marx, Schumpeter, Harrod und Hansen ein und erwähnt fast als einziger in diesem Band Ideen von Othmar Spann und Josef Kolbinger. • J. Hanns Pichler (Wien) gibt einige historische Hinweise auf das Ganzheitsdenken der Wiener Schule (Othmar Spann, Walter Heinrich, Josef Kolbinger). • Friedrich Romig (Hadersfeld) behauptet als Praktiker: "Unternehmen und Betrieb als Stätten der Arbeit ... sind notwendige Instrumente zur Entwicklung und Vollendung der Schöpfung", oder: "Mit Menschen experimentiert man nicht".
Über neuere Trends in der Betriebswirtschaftslehre berichten: • Michael Stitzel (München) über utopische Ansätze •
Georg Schreyögg (Erlangen/ Nürnberg) über Mythen in Organisationen, seit
G. Cleverly: "Managers and Magic", 1973: • Horst Steinmann (Erlangen/Nürnberg) über die soziale Verantwortung des Unternehmers anhand des "Davoser Manifests" (1974); er sieht das Unternehmen als politisches System. • Claus Steinle (Berlin) versucht, Führungstechniken systematisch zu ordnen, und zwar nach den recht altmodischen Phasen Willensbildung, -durchsetzung und -sicherung. • Gerhard Reber (Linz) berichtet, wie erst jüngst der "Niedergang" von Organisationen ins Blickfeld geraten ist. Der Glaube an das Wachstum überdeckte alles. Die Ganzheitsbetrachtung im Sinne Spanns und Kolbingers sieht Wachstum und Schrumpfung neutraler. Detailliert werden Reaktionen auf (externe) Budgetkürzungen beschrieben. Darauf wäre (a) organisationales Lernen (Chris Argyris 1978) oder (b) Organisationsentwicklung angezeigt. • Franz Strehl (Linz) zeigt, wie schwierig es ist, organisatorische Effektivität zu bestimmen und zu messen. Werturteile spielen dabei eine Rolle. Wie Steinmann stellt er das "Interessenten-Modell" als neuen Ansatz vor.
• Betrübliche Angaben über die betriebliche Personal-Fortbildung muss Jürgen Berthel (Siegen) geben: nur 18 % resp. 12 % von Mittel- und Kleinbetrieben haben schriftliche Pläne für den Bereich der Fortbildung. Das ist alarmierend. • Wolf Böhnisch (Linz) muss das Scheitern eines Versuchs verzeichnen, mit Studenten "innovatives Lernen" durchzuführen. Die grössten Schwierigkeiten boten Orientierungslosigkeit und Frustration der Studenten, ungenügend vorbereitete Gruppenmitglieder, fehlende Anerkennung des Experimentes bei anderen Professoren und der Verwaltung. •
Einen Ausbruch aus dem herkömmlichen Personalwesen versucht Andreas Remer
(Bayreuth). Von 1850 bis zum Zweiten Weltkrieg wurde der Mensch als
Produktions-Faktor betrachtet, hernach als "Mitarbeiter", dem man
durch Führungsstile entgegenkommt. Heute wäre nun ein
"Mitglied"-Modell nötig: Die Unternehmung wird als
"umweltoffenes soziales System" betrachtet (im Sinne von Niklas Luhmann),
und das Personalwesen wird "eine Angelegenheit der Mitglieder".
• Klaus Backhaus (Mainz) beklagt, dass sich die Betriebswirtschaftslehre noch kaum mit dem Problem der Lieferung industrieller Grossanlagen (z. B. Raffinerien) beschäftigt hat. Hard- und Software-Kombinationen, Konsortien unterschiedlicher Branchen und Financial Engineering stellen ganz neue Aufgaben.
• Ebenfalls völlig vernachlässigt von Lehre und Forschung werden die Multis, wie Klaus Dittmar Haase (Passau) beklagt. Er plädiert für eine Risikoanalyse, die z. B. Embargos und ihre Folgen berücksichtigt.
• August W. Pernsteiner (Linz) weist auf die Vernachlässigung der Heimarbeit hin, allerdings in einer kuriosen Sprache. Auch die Selbstversorgung (z. B. durch Genossenschaften) gelte heute als veraltet, beklagt Gerhard Weisser (Köln) in einem recht konfusen Beitrag.
• Aus Knut Bleichers (Giessen) Beitrag über die Unternehmensverfassung geht hervor, wie gross die Einschränkungen für ein Unternehmen nur schon in juristischer Hinsicht sind (Obligationenrecht, corporate law). Hinzu kommen Unternehmens-Philosophie und -Kultur.
• Einige Gedanken zur "Identität" von Unternehmen macht sich Edmund Heinen (München).
• Erstaunlich ist, dass ausgerechnet der Bankwissenschafter Bernhard Bellinger (Berlin) als Zweck der Unternehmung (a) "Versorgung der Menschen mit Konsumgütern" und (b) "Mitwirkung bei der Erhaltung und Förderung des sozialen Friedens" sieht. Seine ausgeklügelten und umfassenden Systeme vermögen daher nicht zu überzeugen.
•
Wolfgang H. Staehle (Berlin) legt den Finger auf einen wunden Punkt:
Abbau der Sozialleistungen. Umgekehrt forderte der österreichische
Sozialminister, "dass Betriebe in Hinkunft Abgaben für jene Menschen
leisten sollten, die sie ohne Rationalisierungsmassnahmen beschäftigen würden".
Gesamturteil:
1. An den Leser denkt
keiner der Gelehrten.
2. Josef Kolbingers Lehre oder Werk wird von niemandem dargestellt. Was den Geehrten auszeichnet, wird nicht ersichtlich.
3. Das ganzheitliche
Denken findet ebensowenig eine Darstellung.
4. Die heutige Betriebswirtschaftslehre weist offenbar viele Lücken auf; sie geht an den Gegenwartsproblem weit vorbei.
5. Wo neue Ansätze erwähnt werden, bleibt es bei Hinweisen. Gerade hier hätte man aber gerne mehr erfahren.
David Bohm: Die implizite Ordnung. Grundlagen eines dynamischen Holismus. München: Dianus-Trikont 1985 (engl.: Wholeness And The Implicate Order. London: Routledge & Kegan Paul 1980), 286 Seiten.
David Bohm (*1917) studierte Physik an der University of California bevor er 1947 nach Princeton ging. Später lehrte er in Haifa, heute an der University of London.
Das Buch enthält sechs Aufsätze aus der Zeit von 1962-76, dazu ein 50seitiges Schlusskapitel. Es geht um das Verhältnis von Denken und Realität, die zusammen eine Ganzheit, einen universellen Prozess bilden.
Die ersten drei Aufsätze befassen sich in allgemeiner Art mit der menschlichen Eigenart, alles aufzuteilen, zu zerlegen. Das hat praktische Gründe, war auch oft zweckmässig, aber die Ganzheit ging verloren und deshalb ergaben sich negative Folgen.
Auch die Quantentheorie und Relativitätstheorie mit ihren "letzten Bausteinen der Materie" erfassen die "Realität" nur beschränkt. Man müsste diese zusammen mit dem Beobachter und den Messinstrumenten als "ungeteiltes Ganzes" auffassen. In drei längeren Aufsätzen wird das versucht. Primär besteht die "implizite Ordnung". Die bisherige Physik untersuchte dagegen die sekundäre, die explizite oder mechanistische Ordnung.
Schade, dass der Physiker Bohm die reiche philosophische Gedankenwelt und Tradition (z. B. Mikro-Makrokosmos, Aktualismus oder Hegel, Husserl, Heidegger) nicht kennt und seine Bemühungen nicht einordnen kann.
Es gab auch einst eine holistische Bewegung, vertreten durch: J. C. Smuts: Holism and Evolution. 1926, dt. 1938. Alfred North Whitehead: Process and Reality. An Essay in Cosmology. 1929, dt. 1979. J. S. Haldane: The Philosophical Basis of Biology. 1931, dt. 1932. Adolf Meyer-Abich: Ideen und Ideale der biologischen Erkenntnis. 1933; Naturphilosophie auf neuen Wegen. 1948.
Manches im Schlusskapitel erinnert an den Philosophen und Psychologen Ludwig Klages. Er ging in seinem Hauptwerk "Der Geist als Widersacher der Seele" (1929/32) vom "Kosmos des Geschehens" aus. Die Welt ist für ihn ein substratloses Geschehen, das ewig fliesst und pulst. Es ist ein "rhythmisches Ganzes", das überorganisch lebt. Sein Kennzeichen ist "Durchdringung"; demgemäss ist das Erleben (=Empfangen, Schauen) die "Teilhabe"; und diese besteht in Gegenseitigkeit: Seele und beseeltes Geschehen sind Pole ein und derselben Wirklichkeit.
Ebenfalls lohnen würde sich ein Beizug der Schriften von Jean Gebser (z. B. Ursprung und Gegenwart 1949). Sehr ähnliche Bemühungen wie Bohm hat schliesslich etwa zur gleichen Zeit der französische Physiker Jean E. Charon unternommen, z. B. "L'être et le verbe"'(1965) und "L'Homme et l'Univers" (1974). Sein neuestes Buch: Les lumières de l'invisible" (1986).
Sind auch die Gedankengänge von Bohm klar und leicht nachvollziehbar, so erschwert doch zweierlei das Verständnis und die Einordnung: 1. Die bei
Naturwissenschaftern immer wieder erstaunliche Undifferenziertheit der Sprache
resp. des Denkens. 2. Ein geradezu
spielerischer Umgang mit der Sprache, der zu Dutzenden von Wortneuschöpfungen
führt, wie Irre-levation, Irre-vidation, Irre-ordination (siehe Kapitel 3: Der
Rheomodus) oder synordinat (203), "Holomovement" (206),
"Multiplex" (219) oder "Eichinvarianz" (221).
Die Gespräche, die Renée Weber mit David Bohm geführt hat, bilden mit ca. 140 Seiten Umfang das Hauptgewicht des 300seitigen Buches „The Holographic Paradigm and other paradoxes“ (Boston: Shambala Publications 1982; dt.: Das holographische Weltbild. Bern: Scherz 1986). Als Herausgeber zeichnet Ken Wilber, der selber auch zwei Beiträge beisteuert. Weitere kürzere Beiträge stammen von Karl H. Pribram, Marilyn Ferguson und anderen. Den Abschluss bilden zwei lange Interviews mit Fritjof Capra und Ken Wilber.
David Bohm Auszug aus "Die implizite Ordnung", S. 19-50, in Hans-Peter Dürr (Hrsg.): Physik und Transzendenz. Die grossen Physiker unseres Jahrhunderts über ihre Begegnung mit dem Wunderbaren. Bern: Scherz 1986.
Ferner Beiträge in: Ken Wilber (Hrsg.): Das holographische Weltbild. Wissenschaft und Forschung auf dem Weg zu einem ganzheitlichen Weltverständnis. Bern: Scherz 1986.
David Louis Schindler (Hrsg.): Beyond Mechanism. The Universe in Recent Physics and Catholic Thought. Lanham: University Press of America 1986.
Walter Becher: Der Blick aufs Ganze. Das Weltbild Othmar Spanns. München: Universitas 1985.
Eine rund 300seitige Kombination von Kernpunkten aus Othmar Spanns Werken mit aktuellen Auffassungen und Problemen.
Othmar Spann wurde 1878 in Wien geboren, promovierte 1903 in Tübingen mit "Untersuchungen über den Gesellschaftsbegriff zur Einleitung in die Soziologie". Daraus entstand die Habilitationsschrift "Wirtschaft und Gesellschaft" (Dresden 1907). Von 1903 bis 1907 war er hauptberuflich in der Frankfurter "Zentrale für soziale Fürsorge" tätig.
Die wichtigsten Anstösse erhielt Spann von Albert Schäffles Hauptwerk "Bau und Leben des sozialen Körpers" (1876, 2. Aufl. 1896) sowie von Adam Müllers "Elementen der Staatskunst" (1809). 1920 wurde Spann an die Universität Wien, an das "Institut für politische Ökonomie und Gesellschaftslehre" berufen. Er entfaltete eine reiche publizistische Tätigkeit. "Spann war Philosoph und erst in zweiter Linie Soziologe und Nationalökonom", meint Walter Becher, einer seiner letzten Assistenten in den dreissiger Jahren. Ca. 1938 wurde Spann jede akademische Tätigkeit verboten. Er wurde von der Gestapo verhaftet und lange Monate in München in Schutzhaft gehalten. Einer seiner Söhne fiel an der Ostfront, der andere wurde verhaftet und verschleppt und kehrte erst nach 1950 in seine Heimat zurück.
Die Gesamtausgabe der Werke Spanns erschien in 21 Bänden von 1963-1979.
Als Spanns namhaftester Schüler und Mitarbeiter gilt der spätere Rektor der Wiener Hochschule für Welthandel: Walter Heinrich (1902-1984). Auch er wurde 1938 verhaftet. Bedeutsam ist seine dreibändige "Wirtschaftspolitik" (1948-54). 1948 gründete er in Wien die "Gesellschaft für Ganzheitsforschung", die 10 Jahre später begann, eine "Zeitschrift für Ganzheitsforschung" herauszugeben. Damals begann auch Josef Kolbinger, die Anregungen der "Wiener ganzheitlichen Schule" auf die Betriebswirtschaftslehre anzuwenden. Sein Hauptwerk ist: "Die Betriebswirtschaftslehre als Lehre von der sozialen Leistungsordnung" (1980).
Wie eingangs erwähnt, ist Bechers Buch keine Biographie Spanns. Vielmehr stellt er Hauptgedanken Spann neueren wissenschaftlichen Erkenntnissen gegenüber, und zwar in der Reihenfolge · Kosmos und Natur · Ganzheit · der Mensch (Gehirn, Geist, Leib) · die Gesellschaft (und Kultur, Ständestaat) · die Wirtschaft (besonders auch: Marxismus) · Ökologie · Geschichte (samt Darwinismus) · Religion (mit Mystik und Upanischaden) · Kunst.
Die Darlegungen sind sehr informativ; die Sprache ist einfach. Der Stil jedoch mutet altväterisch an. Das liegt auch an den vielen Wortschöpfungen von Spann, z. B. "Die Ganzheit wird in den Gliedern geboren ... Die Glieder werden aneinander, nicht nebeneinander ... Die schöpferische Gezweiung (Partnerschaft) bestimmt das soziale Leben ... Dieses ist eine Leistungsgemeinschaft."
Ingesamt ein anregendes Querfeldein durch nahezu alle Gegenwartsthemen. Was mangelt, sind Präzision und Tiefe.
The Natural Sciences and the Arts. Aspects of Interaction from the Renaissance to the 20th Century. An International Symposium. Uppsala May 25-28, 1983. Acta Universitatis Upsaliensis, Figura Nova Series 22. Stockholm: Almquist & Wiksell International 1985.
12 Beiträge.
Es waren Maler, welche gegenüber der Büchergelehrsamkeit der Scholastiker und Humanisten die Grundlage für die Wissenschaft legten. Sie malten nach genauer Beobachtung.
Interessant der Beitrag von Gunnar Broberg über Titelblätter von Linné. Er gibt interessante Literaturangaben: R. G. Collingwood: The Idea of Nature. 1945. David und Eileen Spring (Ed.): Ecology and Religion in History. 1974. Carolyn Merchant: The Death of Nature. Women, Ecology and the Scientific Revolution. 1980.
Bei Linné findet sich organistisches und mechanistisches Denken. Natur war noch weiblich. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts macht (der männliche) Pan Diana den Rang streitig. Um 1830 brach die Emblematik ab.
Allgemeine Literatur zum Thema: G. Lapage: Art and the Scientist. 1961. E. H. Phys (Ed.): Seventeenth Century Science and the Arts. 1961. T. S. Kuhn: The Essential Tradition. 1977. D. W. Curtin (Ed.): The Aesthetic Dimension of Science. 1982. R. D.McConnell (Ed.): Art, Science and Human Progress. 1983. Science and Creationism. 1984.
Jörg A. Ott, Günter P. Wagner, Franz M. Wuketits (Hrsg.): Evolution, Ordnung und Erkenntnis. Rupert Riedl zum 60. Geburtstag am 22. Februar 1985. Berlin: Paul Parey 1985.
Ein Buch, das schon auf der ersten Seite Widerspruch herausfordert. Da ist im Vorwort zu lesen: "In der Tat ist heute das Leben ... mit den von den physikalischen Wissenschaften gefundenen allgemeinen Weltgesetzlichkeiten vereinbar. In ihren speziellen Eigenschaften aber gehen lebende Systeme über die im Anorganischen wirksamen Gesetze hinaus."
Mit dem Holzhammer kommt Konrad Lorenz. Klar: "Die Missachtung aller Geisteswissenschaften ... habe ich bis ins reifere Lebensalter aufrecht erhalten." Daher: "Vor allem aber erkannte Riedl klar, dass ein geisteswissenschaftliches Denken die Menschheit für ihre natürlichen Verpflichtungen blind gemacht hatte. Diese Verpflichtungen aber sind nur vom naturwissenschaftlichen Standpunkt aus erkennbar."
Was ist die Lorenz/ Riedlsche Überzeugung? Der sensorische und neuronale Apparat, der es uns ermöglicht, die aus der Aussenwelt auf uns einwirkenden Reize als Erfahrungen zu lesen, ist nicht anders als andere Organisationen unseres Körpers im Laufe der Stammesgeschichte und in Anpassung an eine reale Wirklichkeit entstanden. Daher korrespondiert er der Aussenwelt "adäquat" (14f, 18).
Dennoch meint Lorenz, der Riedl bewundert, weil er versucht, die Spaltung des modernen Weltbildes in Natur- und Geisteswissenschaften auszuschalten: „Vielleicht ist das Schlagen einer Brücke zwischen Natur und Geist, wie er es anstrebt, überhaupt unmöglich."
Sehr informativ ist der Beitrag von Jörg A. Ott über "Ökologie und Evolution". Schlüsse für eine "ökologische Ethik" lassen sich freilich nicht ziehen. "Es bleibt die Hoffnung auf unsere Vernunft, die es erlaubt Szenarios zu konzipieren, die Folgen von Handlungen im vornhinein abzuschätzen und Ideen sterben zu lassen, anstatt der Menschen, die diesen Ideen nachhängen" (65).
Hans-Gerd Röwer: Holismus und Elementarismus in der Systemtheorie. Frankfurt: Peter Lang 1985.
Offenbar eine Dissertation.
Röwer unterscheidet: 1. ganzheitliche Systemtheorien a) black-box-Theorien (z. B. Thermodynamik; funktionalistische, anthropologische oder soziologische Theorien) b) totalitaristische Systemtheorien (z. B. von Paul Weiss, Talcott Parsons) c) umfassende Systemtheorien (z. B. die soziologische Systemtheorie Luhmanns) 2. elementaristische Systemtheorien (z. B. statistische Mechanik, methodologisch-individualistische Sozialtheorien) a) grey-box-Theorien (z. B. Automatentheorie) b) white-box-Theorien (lokale, strukturelle)
Wie kommt er dazu? Röwer beobachtet, dass viele Systemdenker sich nur zum ganzheitlichen Denken bekennen, es aber gar nicht praktizieren; dieses bleibt also blosses "Programm". Wenn sie sich aber daran machen, konkrete Sachverhalte zu erklären, gehen sie elementaristisch vor. Ein gutes Beispiel hiefür ist Anatol Rapoport.
Anhand der Gegenüberstellung von 1a. zu 2b. will Röwer "dem Alleinvertretungs- oder Überlegenheitsanspruch der ganzheitlichen Systemtheoretiker mit einem Verweis auf die Vorzüge elementaristischen Systemdenkens begegnen", also den Nachweis erbringen, dass, zumindest für den Erkenntnis- oder Wissensfortschritt, elementaristisches Vorgehen besser, mithin ganzheitliches Denken weder notwendig noch wünschenswert ist.
Nach langen theoretischen Erörterungen versucht er, seine These an der Untersuchung des visuellen Systems (also Auge und Gehirn) zu exemplifizieren. Als ganzheitliche Systemdenker berücksichtigt er Anatol Rapoport und Wolfgang Köhler. Ersterer "theoretisiert faktisch elementaristisch", letzterer kann vieles nicht befriedigend erklären. Aber ist der elementaristische Ansatz besser? Er bietet ja gar keine umfassende Theorie, sondern besteht in einer "bunten Vielfalt (partiell) konfligierender oder sich ergänzender, indessen auch in einigem übereinstimmender, mehr oder weniger umfassender Theorien" (116). Daher sind noch "viele Fragen offen", eben: "Eine Reihe, unterschiedlicher, teils rivalisierender, teils komplementärer Theorien ... existiert" (134; ähnl. 124f).
Röwers Beispiel überzeugt also gerade nicht! Elementarismus ist nur "im Prinzip" (136,140,145) besser. Skepsis ist also sowohl gegenüber dem holistischen wie dem elementaristischen Ansatz angebracht. Oder umgekehrt: Beide Seiten sollten etwas bescheidener in ihren Ansprüchen sein.
Umfassende Systemtheorien (1c) zieht Röwer nicht in seine Betrachtung ein, denn gegen diese hat der Elementarismus nichts einzuwenden.
Der Text macht 150, Anmerkungen und Literatur (bis 1983) weitere 100 engbeschriebene Schreibmaschinenseiten aus.
Reinhard Fabian (Hrsg.): Christian von Ehrenfels. Leben und Werk. Amsterdam: Rodopi 1986, 286 Seiten.
8 Konferenzbeiträge von einem Treffen von Fachgelehrten, das 1982 auf Schloss Lichtenau zum 50. Todestag von Christian Ehrenfels (1859-1932) stattfand. Dazu 2 englischsprachige Aufsätze.
Der Herausgeber zeichnet die "intellektuelle Biographie" des Geehrten. Christian von Ehrenfels studierte in Wien bei Franz Brentano, Alexius Meinong und Thomas G. Masaryk und war begeistert von Richard Wagner und Gerhard Hauptmann. v. E. verfasste zahlreiche dramatische Dichtungen. Mit dem Aufsatz "über Gestaltqualitäten" (1890) begründete er die Gestalttheorie. 1898 erschien sein umfangreiches "System der Werttheorie". Von 1896-1932 lehrte er in Prag, wobei er vor allem "Gedanken über die Regeneration der Kulturmenschheit" entwickelte, speziell Sexualmoral und Eugenik (Zuchtwahl) betreffend. Sigmund Freud brachte seinen Ideen Interesse entgegen. Seit ca. 1910 widmete er sich "neuen Beweisen vom Dasein Gottes"; er stellte sie in seiner "Kosmogonie" (1916) vor. Nach vierjähriger Depression begann er sich dem "Primzahlengesetz" (1922) zu widmen und führte seine "Gedanken über die Religion der Zukunft" und über Sexualmoral der Zukunft weiter. Er starb 1932 auf dem Familienschloss Lichtenau.
Theo Herrmann versucht, die Gestalttheorie von Chr. v. Ehrenfels im Lichte der modernen Kognitionspsychologie zu sehen und stellt fest, dass sich manche Probleme von damals nicht mehr stellen, weil "sich diese Probleme gewissermassen im Medium unserer ganz anderen Begrifflichkeit aufgelöst haben". D.h. wir denken und reden heute anders. Aber ähnliche Probleme sind geblieben.
Weitere Beiträge gelten der Gegenüberstellung von Ernst Mach und v. Ehrenfels, den mathematischen Gestalten (resp. Mustern), der Werttheorie (engl.) und Ästhetik von Chr. v. Ehrenfels, seiner Beziehung zu Wagner und seiner Sexualethik.
Unergiebig.
John Erpenbeck: Das Ganze denken. Zur Dialektik menschlicher Bewusstseinsstrukturen und -prozesse. Berlin (Ost): Akademie-Verlag 1986, 289 Seiten.
Das "Ganze" denken "ist identisch mit materialistischer Dialektik", behauptet Manfred Buhr in der Vorbemerkung. Erpenbeck stützt sich, ausgehend von Marx, Engels, Lenin, "auf die in der marxistisch-leninistischen Philosophie ausgearbeiteten erkenntnistheoretischen Problemstellungen und Lösungsvorschläge sowie auf entsprechende Beiträge zur Wertproblematik".
Konkreter: Erpenbeck setzt mit der "Subjekt-Objekt-Abbild-Dialektik der menschlich-gesellschaftlichen Widerspiegelungs- und Erkenntnisprozesse" ein.
Interessant ist, dass er die evolutionäre Erkenntnistheorie von Rupert Riedl akzeptiert (87-96). Ferner kommen Jean Piaget (105-107) und Dietrich Dörner (114-116) vor.
Vom "Ganzen" ist nie die Rede;, das Stichwort fehlt auch im Register. Einzig ein kurzes Kapitel (75-81) gilt der "Totalität".
Gebetsmühlenhafte Rabulistik.
Michael Ewers: Philosophie des Organismus in teleologischer und dialektischer Sicht. Ein ideengeschichtlicher Grundriss. Münster: Lit 1986.
Diese schmale Schrift ist vermutlich eine Dissertation. Sie geht davon aus, dass es heute wieder erlaubt ist, ganzheitliche Naturauffassungen ins Spiel zu bringen. Das neopositivistische, reduktionistische Denken hat ausgespielt.
Anhand vieler Originalzitate schildert der Autor: Teleologie bei Aristoteles Naturzweck bei Kant (Kant erkannte bereits 1790, dass die Natur und Organismen sich selber zu organisieren vermögen) Organismus bei Schelling (um 1800) Teleologie bei Hegel Drieschs Vitalismus (1923: Selbstregulation und Entelechie) Meyer-Abichs Holismus (1934).
Auf den letzten vierzig Seiten geht Ewers vor allem auf Ludwig von Bertalanffys "organismische Auffassung" (1949) und biokybernetische Ansätze ein, welche insbesondere den Darwinismus kritisieren. Dabei wird auch neueste Literatur aus den 70er und 80er Jahren beigezogen. Damit erhält der Leser einen zwar knappen, aber ausreichend umfassenden Überblick über den aktuellen Stand der Diskussion.
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