HomeKleine Geschichte der Sozialtechnologie im 20. Jahrhundert

 

Siehe auch:   Literatur zur Sozialtechnologie (1881-2002)

                       Praxeologie

 

 

 

Die Übertragung von Modellen und Manipulationsmöglichkeiten des physikalischen oder technischen Bereichs auf die politische und soziale Welt hat eine lange Tradition. Im Rahmen unserer Annäherung an den Begriff Sozialtechnologie können wir dabei bis zur Jahrhundertwende 1900 zurückgehen.

 

Paul Natorp: "Die Verwirklichung des Gewollten ist Sache der Technik"

 

Ausgerechnet der an Pestalozzi anknüpfende Neukantianer Paul Natorp (1854-1924) hat in seiner vielfach aufgelegten "Sozialpädagogik" (1899) den Begriff "soziale Technik" eingeführt.

Kennzeichen des Menschen sind Intellekt und Wille; deren Gebiete sind "theoretische Erkenntnis oder Erfahrung" und "praktische Erkenntnis oder Idee".

Wie kommt nun Natorp zur Technik? Er meint:

"Die Verwirklichung des Gewollten ist Sache der Technik, nach ihrem allgemeinsten Begriff: Herrschaft über die Natur durch Erkenntnis ihrer Gesetzlichkeit" (38).

Und da auch der Mensch Natur ist, gibt es auch Techniken zur Einflussnahme auf ihn, auf seine Person, sein Zusammenleben, sein Schaffen.

 

Wegen der Kausalität, die alles menschliche Tun beherrscht, insofern es sich um die Verwirklichung des Gewollten handelt, ordnen sich daher die mancherlei Gebiete der Technik "genau nach der Einteilung der Wissensgebiete".

So unterscheidet Natorp:

· physikalisch-chemische Technik (Technik im engeren Sinne)

· biologische Technik: Kultur von Pflanzen und Tieren; innerhalb dieser die

· anthropologische Technik: physische Kultur des Menschen, z. B.

- Hygiene, Gymnastik, Medizin

- die "geeignete Regelung menschlicher Arbeit aus dem Gesichtspunkt der Erhaltung der physischen Arbeitskräfte"

- die physische Seite der Erziehung

· psychologische Technik: "die Kunst der Seelenbehandlung, an der die Psychiatrie, die individuelle psychische Erziehung, aber auch alle Art Regierung... und so schliesslich jede Tätigkeit teilhat, welche ... Einwirkung auf den Anderen einschliesst"

· soziologische Technik (als vergrösserte Gestalt der psychologischen): auf ihr beruht alles Äussere der Gemeinschaftsordnung sowie ein weiterer Teil der Erziehung (38-39).

 

Der Begriff der Technik gehört also "in eine konkrete Ethik unerlässlich hinein" (67). Technik ist einerseits - als Anwendung von Naturkräften - theoretisch, nämlich naturwissenschaftlich zu begründen, anderseits stellt sie "die Naturkraft in den Dienst menschlicher Zwecke" (auch 137). Und der höchste Zweck ist nach Natorp Menschenbildung; das bedeutet für ihn Willensbildung, und zwar in dreierlei Hinsicht:

 

· Der Wille soll gebildet werden.

· Die bildende Tätigkeit ist Sache des Willens.

· Selbsterziehung ist das erste Resultat der Erziehung durch andere (4-5).

 

Paul Natorp: Der Mensch ist in der und durch die Gemeinschaft

 

Dahinter steckt sowohl die Grundproblematik des menschlichen Lebens, die Michael Landmann in die Formel gefasst hat: "Der Mensch als Schöpfer und Geschöpf der Natur" (1961), als auch das Problem der Selbstkontrolle und -regulation sozialer Systeme.

 

Natorp sah das klar: "Der Mensch wird zum Menschen allein durch menschliche Gemeinschaft." Ohne Gemeinschaft gäbe es gar keine Erziehung, und Ziel der Erziehung ist "die Tauglichkeit nicht nur zum Leben in der Gemeinschaft, sondern zur eigenen Teilnahme am Aufbau einer menschlichen Gemeinschaft" (68, 69).

 

"Sozialpädagogik" besagt daher, dass die Erziehung des Individuums sozial bedingt ist, die menschliche Gestaltung sozialen Lebens aber durch eine "ihm gemässe Erziehung" der Individuen (79).

 

Das Individuum ist in einer ähnlichen Lage: Es ist von aussen bestimmbar, bestimmt sich aber auch selber. Das wird im folgenden Satz deutlich: "Soziale Technik, wie jede psychologische, fasst den Menschen allerdings nicht bloss als bestimmbar, sondern immerhin auch sich als sich selbst zur Tätigkeit bestimmend ins Auge; sie strebt ihren eigenen Zweck auch durch menschliche Selbstbestimmung, auf diese rechnend, zu erreichen" (138).

Deshalb nennt Natorp auch "die kausale Beherrschung der lebendigen Triebkräfte des Menschen" Technik (140).

 

Was dabei geschieht, ist Regelung: "Wie nun eine menschliche Handlung überhaupt, ihrem formalen Charakter nach, durch Regelung erst konstituiert wird, so eine soziale Handlung, also soziales Leben als ein System sozialer Handlungen, durch soziale Regelung" (141)

Diese Regelungen erfolgen unter der Herrschaft der Vernunft, also rational (145).

 

Schon vor der Jahrhundertwende ist also vorgezeichnet, was dann immer wieder versucht wurde: "das Gemeinschaftsleben im Sinne sozial-humaner und kultureller Bedürfnisse und Ideen zu regeln" - wie die Definitionen von "sozialer Technik" in den philosophischen Wörterbüchern von Rudolf Eisler 1922 und 1930 lauteten.

 

Weitere Differenzierungen von "Technik"

 

Natorp hatte ausdrücklich auf Sokrates und Platon und damit auf die ursprüngliche Bedeutung von "techné" als Kunst, Können, Geschicklichkeit zurückgegriffen. Deshalb konnte zu seiner Zeit auch gesprochen werden von:

 

  • Technik der Staatskunst (Rudolf von Ihering 1884)
  • Technik des Lernens (Ernst Meumann 1903)
  • physiologische Technik, d. h. die ärztliche Praxis (Lipps 1903)
  • Psychotechnik (William Stern 1903, Hugo Münsterberg 1903)
  • Biotechnik (Rudolf Goldscheid 1911), auch als "Sozialbiologie" bezeichnet
  • Denktechnik (Hans Vaihinger 1911, auch Karl Jaspers)

.

Eine ähnliche Aufteilung wie Natorp bot 1914 der Historiker und Soziologe Friedrich Gottl-Ottlilienfeld in seiner Untersuchung "Wirtschaft und Technik", unterschied er doch (207):

  • Realtechnik, Technik im besonderen, d. h. Technik des naturbeherrschenden Handelns in ihrer historischen Entwicklung als
    - Urtechnik
    - Stammestechnik
    - Handwerkertechnik (Werkzeugtechnik bis Grosstechnik)
    - Berufstechnik (industrielle Technik bis moderne Grosstechnik)
    - moderne Technik
  • Individualtechnik, z. B. Mnemotechnik, Technik der Selbstbeherrschung, Technik der Leibesübungen
  • Sozialtechnik, z. B. Technik des Kampfes des Erwerbes; Rhetorik und Pädagogik; Technik des Regierens und Verwaltens
  • Intellektualtechnik: alle Methodologie, Technik des Rechnens, des Schachspiels.

 

Die Medizin als Heiltechnik ist in erster Linie Realtechnik, aber vermischt mit Sozial- ("Behandlungs"-) und Individualtechnik.

 

1926 beschrieb Max Scheler:

  • Stufen der Technik, von der magischen bis zur positiven
  • den Priester als "beamteten Kulturtechniker"
  • innerhalb der Psychologie die "Technik der Seelenlenkung und -leitung"
  • die "systematische Seelentechnik" und "innere Vitaltechnik" oder "innere Lebens- und Seelentechnik" und "Psychotechniken"
  • Wissenstechnik, Herrschaftstechnik, Erkenntnistechnik, Geistestechnik.

 

Vielfältige Ansätze der Sozialtechnologie

 

Einer der Begründer der amerikanischen Soziologie, Lester F. Ward, forderte seit 1883, dass der soziale Forschritt durch angewandte Wissenschaft, gesellschaftliche Planung, Reformen und staatliche Eingriffe bewusst vorangetrieben werde. 1906 doppelte er nach mit seiner Forderung nach einer "Soziokratie".

 

In den 1890er Jahren entwickelte der amerikanische Pädagoge, Psychologe und Philosoph John Dewey erste Ideen für eine Reform des Erziehungsdenkens und Schulwesens. Einige Jahre leitete er selber einen Schulversuch. Später (1908) war es das Public-School-Modell von Gary, Indiana, das seiner Idee einer progressiven "Schule von morgen" am besten entsprach. 1923 bildete sich in den USA die "Progressive Education Association" (sie löste sich 1958 auf).

John Broadus Watson schockte die Fachwelt mit seinem "Behaviorismus" (1913).

 

1901 skizzierte in Deutschland Berthold Otto die "Zukunftsschule", basierend auf den Prinzipien "Gesamtunterricht" und Berücksichtigung der "Altersmundart". 1907 begründete Ernst Meumann die "experimentelle Pädagogik".

In den 1920er Jahren ergab sich vor allem unter Führung von Herman Nohl eine eigentliche "sozialpädagogische Bewegung".

 

Der amerikanische Sozial- und Wirtschaftswissenschafter Thorstein B. Veblen begründete um 1918 die "Technokratie"-Bewegung. Er sah die Herrschaft der Techniker als eine Art Generalstab. In der Wirtschaftskrise nach dem Börsensturz von 1929 bildete sich 1932 in New York das "Committe on Technocracy". Es spaltete sich bald in eine "Technocracy, Inc." Und in ein "Continental Committee on Technocracy" auf. Es gab in Berlin von 1933 bis 1936 auch eine "Deutsche Technokratische Gesellschaft".

Der deutsche Soziologie Alfred Weber forderte eine "politische Soziologie" resp. "Soziologie der Politik".

 

Die zwanziger Jahre brachten auch die grossen Utopien (z. B. "Daedalus"), den Ausbau der  Theorie der "Sozialen Kontrolle" (F. E. Lumley; J. M. Clark)  sowie "Wissenssoziologie" und "Ideologiekritik" (Max Scheler, Karl Mannheim). Psychotechnik, wissenschaftliche Betriebsführung und Efficieny-Bewegung breiteten sich in Europa aus.

 

Im europäischen Osten wurde die "Praxeologie" weiter ausgebaut, z. B. durch:

·Aleksandr Bogdanow ("Allgemeine Organisationslehre; Tektologie", 1926; russ. 1922.)

·Evgenij G. Slutsky ("Ein Beitrag zur formal-praxeologischen Grundlegung der Oekonomik", 1926)

· Eugeniusz Geblewicz ("An Analysis of the Concept of Goal"; poln. 1932)

 

1926 beschrieb der österreichische Nationalökonom Ludwig von Mises den Interventionismus.

1928 schlug Bertrand de Jouvenel zur Bezeichnung der Steuerung der Wirtschaft den Begriff "économie dirigée" vor.

1929 beschrieb die Nationalökonomin Martha Stephanie Braun klar und sauber die "Theorie der staatlichen Wirtschaftspolitik". Sie strebte, in den Worten von Gerhard Weisser (1934), "eine Systematik der Massnahmen zur Beeinflussung des Wirtschaftslebens an".

Ein Aussenseiter in der Nationalökonomie, John Maynard Keynes, machte auf Grund von Analysen der damaligen wirtschaftlichen Vorgänge Vorschläge zur Lösung der anstehenden Probleme, insbesondere in den Schriften:

  • The End of Laissez-Faire (1926)
  • A Programme of Expansion (Mai 1929)
  • The Great Slump of 1930 (Dezember 1930).

 

Aber erst seine "Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes", 1936 erschienen, wurde beachtet. Dafür gilt sie noch heute manchen als Bibel der Nationalökonomie.

 

Eine interessante Bemerkung machte 1927 ein Philosophieprofessor in Chicago, George Herbert Mead, der erst nach seinem Tod (1931) bekannt wurde und heute unter anderem als Begründer des "symbolischen Interaktionismus" gilt.

Er verglich die Haltung von Personen, "die in der Sozialarbeit tätig sind und eine grundlegende Haltung des Nachbarschaftsgefühles auszudrücken versuchen", mit derjenigen eines Technikers oder Organisators. "Der Techniker hat die Haltungen aller anderen Mitglieder der Gruppe in sich und kann deshalb lenkend eingreifen." Diese Übernahme der Haltungen aller anderen soll so vollkommen und genau wie möglich erfolgen.

Mead meint, dies sei eine "hochintelligente Haltung"; und "wenn sie mit einem tiefen Interesse an gesellschaftlicher Teamarbeit verknüpft werden kann, gehört sie zu den höchstentwickelten gesellschaftlichen Prozessen und zu den signifikanten Erfahrungen" (Geist, Identität und Gesellschaft, 323f).

 

Seit 1921: praktische Sozialtechnologie

 

In den 1920er Jahren setzte die praktische Sozialtechnologie ein.

Wichtige Stufen sind etwa:

· Im Februar 1921 wurde beim Ministerrat der UdSSR die "Allgemeine Staatliche Planungskommission" ("Gosplan") als "wissenschaftliches Organ der Volkswirtschaftsplanung" begründet (Flechtheim, 137)

· Im Juli 1929 bestellte die Grosse Koalition der Weimarer Republik auch Wissenschafter in die "Sachverständigenkommissionen". Im Januar 1931 setzte Brüning die "Brauns-Kommission" ein, welche "konstruktive Gedanken zur Überwindung der Arbeitslosigkeit entwickeln" sollte (Badura, 166f).

· Schon während seiner Wahlkampagne 1932 hatte sich Franklin D. Roosevelt mit einer Reihe begabter Helfer und Planer umgeben. Dieser "Brain Trust" (der Begriff seit 1929) war denn auch bedeutsam für den "New Deal" (1933-38). Ein Riesenprojekt war die "Tennessee Valley Authority" unter der Leitung von David E. Lilienthal.

· Im Zweiten Weltkrieg wurden "universitäre Forschungskapazitäten den Bedürfnissen militärischer Forschung, psychologischer Kriegsführung, der Propagandaforschung oder der Bombardierungsplanung nutzbar gemacht" (Irving L. Horowitz) (Badura, 56).

· Nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden in rascher Folge "Think Tanks" staatlicher und halbstattlicher Art, z. B. wurde die RAND-Corporation 1946 von der US Air Force gegründet.

· Im Mai 1957 begründete Gaston Berger in Paris das "Centre d'études prospectives" (Bernsdorf, 323).

· 1961 wurde das von der RAND-Corporation weiterentwickelte "Planning-Programming-Budgeting-System" (PPBS) durch Robert McNamara im Amerikanischen Verteidigungsministerium, 1965 von Präsident Johnson in allen Bundesbehörden eingeführt; 1968 übernahm es auch die Internationale Arbeitsorganisation (ILO).

· 1964 wurden auf Veranlassung des französischen Premierministers von der Raumplanungskommission unter Mitwirkung von 80 Persönlichkeiten aus dem Wirtschafts- und Sozialleben Frankreichs die "Refléxions pour 1985", welche die allgemeine Orientierung des 5. Planes (1966-70) erleichtern sollten, veröffentlicht (Flechtheim, 143).

·1964 begründete der amerikanische Präsident Lyndon B. Johnsohn sein Programm der "Great Society"

· 1964 bilden in der Bundesrepublik Deutschland die "Fünf Weisen" einen unabhängigen "Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung"

·1965 forderte der deutsche Bundeskanzler Ludwig Erhard die "formierte Gesellschaft". Er ist gegen stattliche Eingriffe in die Wirtschaftsentwicklung, wie das der Sachverständigenrat empfiehlt.

·1973 wurde in den Niederlanden ein "wissenschaftlicher Rat für Regierungspolitik" (WRR) eingesetzt.

 

Aber schon 1961 warnte Präsident Eisenhower vor der Koalition von Militärs, Industriellen und Technologen.

 

"Durchwursteln" statt "social engineering"

 

Wie Adam Podgorecki, der Initiator einer polnischen Richtung der Soziotechnik in den 1960er Jahren, in einer historischen Betrachtung dieses Gebiets schreibt, war es Gunnar Myrdal, der bei einer Untersuchung der schwarzen Minderheit in den Vereinigten Staaten ("The American Dilemma", 1944) als erster den Ausdruck "social engineering" in methodisch bewusster Weise gebrauchte.

"Viele Dinge, die lange Zeit hauptsächlich eine Angelegenheit individueller Anpassung gewesen sind", schrieb Myrdal, "werden immer mehr durch politische Entscheidung und öffentliche Verordnung bestimmt werden.

Wir treten in eine Ära ein, in welcher das Finden von Tatsachen und wissenschaftlichen Theorien über kausale Beziehungen als instrumental für die Planung gesteuerten gesellschaftlichen Wandels gesehen werden wird" (Schmidt, 16)

 

Zur selben Zeit, im April 1944, schrieb Karl Raimund Popper das Vorwort zu seiner Arbeit "The Open Society and its Enemies" (1950 engl., 1957 dt. erschienen).

Er verwandte einen Ausdruck, den Roscoe Pound in den 1920er Jahren eingeführt hatte: "piecemeal engineering". Dieser Vorschlag zu einer "Stückwerk-Technik" bedeutete eine Absage an das utopische Denken und Anvisieren grosser Ziele. Popper sah sie als "einzige rationale Art" der Steuerung gesellschaftlichen Handelns:

"Der planlose Steuermann gesellschaftlichen Handelns wird sich dementsprechend eher einer Methode des Suchens nach und des Kämpfens gegen die grössten und dringendsten Übel der Gesellschaft bedienen als des Suchens nach und des Kämpfens für ihr grösstes letztes Gut."

 

Podgorecki beklagt, dass diese Aspekte nicht zu einer Entwicklung des "social engineering" führten, sondern zu "gesellschaftlicher Quacksalberei". Charles Lindblom hat dafür 1959 die treffliche Formel vom "Durchwursteln" geprägt: "The Science of 'Muddling Through'."  Vier Jahre später theoretisierte er mit David Braybrooke über den "Inkrementalismus".

 

Damit war der Argwohn sowohl gegen die planvolle wie planlose Steuerung von Gesellschaft und Politik vorgezeichnet.

Das schloss freilich nicht aus, dass in Deutschland etwa Adolf Jungbluth forderte: "Wir brauchen den Sozialingenieur" (1952).

 

Der 1951 von Harold Lasswell formulierte "policy-science"-Ansatz mit seiner Forderung nach Interdisziplinarität wie Regierungsunterstützung (Badura, 49-51) scheiterte, wie Horowitz zwanzig Jahre später bekannte. Es wurde vom "Handlangerkonzept" verdrängt.

 

Ähnliches passierte der gleichzeitig von Gerhard Weisser propagierten "normativen Wirtschaftspolitik". Er hielt 1956 ein flammendes Plädoyer für die "Soziotechnik": Dem Gesellschaftsgestalter muss heute "von der Wissenschaft systematisierte soziotechnische Programmatik geboten" werden.

 

Das führte immerhin dazu, dass 1960 die "Kommission für arbeitswissenschaftliche Terminologie" der deutschen Gesellschaft für Arbeitswissenschaft die Sozialtechnologie definierte und als arbeitswissenschaftliche Abteilung offiziell anerkannte (Gikas, 131).

 

Als Konkurrenzbegriffe waren zu dieser Zeit aufgetaucht:

· anthropological engineering (Eliot Dismore Chapple 1942)

· human engineering (z. B. P. M. Fitts 1951; Ernest James McCormick 1957; der Begriff seit 1934/44)

· Ergonomie (z. B. Zeitschrift "Ergonomics" seit 1958; der Begriff seit 1949/52); heute auch "human factors engineering"

· soziale Rationalisierung (Arthur Mayer 1951)

· socio-technical systems (Eric Lansdown Trist, K. W. Bamforth 1951).

 

Schmählich gescheitert sind dann die "Gesamtkonzeptionen" der 1970er Jahre, z. B. für das Bildungssystem der Bundesrepublik Deutschland (1971) oder in der Schweiz "Gesamtverkehrskonzeption" (GVK-CH, 1977) und "Gesamtenergiekonzeption" (GEK-CH, 1978).

 

Die Psychologen entdecken das "sozio-technische" System

 

Der Begriff des "sozio-technischen Systems" ist eng mit der Arbeit des Londoner Tavistock-Instituts für industrielle Führungsprobleme verbunden.

Eric Lansdown Trist und Mitarbeiter untersuchten schon in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre die Auswirkungen der Mechanisierung in englischen Kohlenminen. Ausbleibende Produktivitätssteigerungen konnten sie durch die Beibehaltung konventioneller Arbeitsorganisation erklären. Verbesserungen ergaben sich erst, als das Produktionssystem als "offenes sozio-technisches System" angesehen wurde. Das bedeutete nicht nur eine Organisation in Gruppen und flexibles Management, sondern auch die Beachtung der Umwelt.

 

Die Schweizer Version dieses Ansatzes wurde vor allem in St. Gallen durch Hans Ulrich entwickelt, der die "Unternehmung als produktives soziales System" (1968) fasste.

 

In den USA hatte vor allem die Gruppenforschung ähnliche Ansätze entwickelt. Insbesondere die von den Emigranten Jacob Levy Moreno und Kurt Lewin eingeleitete "soziometrische Revolution" respektive "Gruppendynamik" (1944) erzeugten eine Flut von Theorien und Techniken der Organisation, insbesondere "T-Group" (in Bethel 1947-48), "action research" (Lewin 1944), "Intervention" (Coch und French 1954; vgl. Chris Argyris 1970), "nicht-direktive Therapie" (Carl R. Rogers seit 1942) usw.

 

In den Niederlanden entstand die "Organisationsentwicklung", in Frankreich z. B. die "institutionelle Pädagogik" (Georges Lapassade 1963). Aus Frankreich stammt für solche Bemühungen auch der Ausdruck "Psychosoziologie" (z. B. D. Benusiglio 1959).

 

Klassiker für den "geplanten organisatorischen Wandel" wurden die Bücher von

· Ronald Lippitt, Jeanne Watson; Bruce Westley: The Dynamics of Planned Change" (1958) und von

·W. G. Bennis, K. D. Benne und R. Chin: "The Planning of Change" (1961; dt.: "Änderung des Sozialverhaltens" 1975).

 

Karl Mannheim: "Planung für die Freiheit"

 

In den 1930er Jahren melden sich viele kritische Stimmen zur Zeit, man denke an José Ortega y Gassets "Rebelión de las masas" (1929, dt. 1931), Sigmund Freuds "Unbehagen in der Kultur" (1930) und "Warum Krieg?" (1933), an Karl Jaspers' "Geistige Situation der Zeit" (1931) und Karl Mannheims "Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus" (1935).

 

Karl Mannheim war 1933 nach England emigriert. Daher erschien sein eben erwähntes Buch in Holland, in Leiden; die veränderte und ergänzte englische Ausgabe erreichte von 1940-1951 acht Auflagen und wurde 1958 ins Deutsche zurückübersetzt.

Fünf am Anfang des Kriegs zum Teil mehrfach gehaltene Vorträge erschienen unter dem Titel "Diagnose unserer Zeit" (1943, dt. 1951).

Das durch seinen plötzlichen Tod 1947 nicht ganz fertig gewordene Werk "Freedom, Power and Democratic Planning" erschien erst 1950 (dt. 1970:"Freiheit und geplante Demokratie").

 

Hatte sich Mannheim auf dem Kontinent als Wissenssoziologe und Ideologiekritiker einen Namen gemacht, so entdeckte er in England das Problem der "Regulierung". Er sah 1934 "die letzte Wurzel aller Konflikte im gegenwärtigen Zeitalter des Umbaus" in Spannungen,"die aus dem unbewältigten Nebeneinanderwirken des 'laisser-faire'-Prinzips und des neuen Prinzips der Regulierung entstehen" (MuG, 1. Aufl., 2).

 

Er forderte Planung, die er wie folgt definierte:

"Planung bedeutet ein bewusstes Eingreifen an den Fehlerquellen des Gesellschaftsapparates auf Grund der Kenntnis des gesamten Sozialmechanismus und des lebendigen Gefüges, keine Kur an Symptomen, sondern ein Zugriff an den richtigen Umschaltstellen mit dem klaren Wissen um die Fernwirkungen" (MuG, 1. Aufl., 91; 2. Aufl., 136)

 

Unmittelbar vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs begann sich Mannheim daher den "Sozialtechniken" zuzuwenden. Er definierte sie mehrfach, und in jedem seiner drei seither erschienenen Bücher gibt es Kapitel mit den Titeln:

  • "Der Begriff der Sozialtechnik" (MuG, 2. Aufl., 279-293)
  • "Die Bedeutung der neuen Sozialtechniken" (Diagnose, 9-13)
  • "Die neuen Sozialtechniken als Ursache der Herrschaft von Minderheiten" (FugD, 15-16).

 

1940 zählte er zu den Sozialtechniken unter anderem (MuG, 2. Aufl., 294):

  • Bürokratie und Verwaltung
  • Massenpropaganda in den USA
  • russische Propaganda
  • deutscher und italienischer Faschismus
  • Psychoanalyse

Ferner (385):

  • parlamentarische Kontrolle des liberalen Zeitalters
  • staatliche Souveränität im Zeitalter des Absolutismus
  • totalitärer Staat.

 

Mannheims These war:

·"Die Sozialtechniken haben für die Gesellschaft eine vielleicht noch grundlegendere Bedeutung als deren wirtschaftliche Struktur oder die soziale Schichtung innerhalb einer gegebenen Ordnung" (Diagnose, 11)

 

Unter Planung verstand er dann die "Koordinierung im Sinne des Einklangs zwischen den Instrumenten der Sozialtechnik".

Und: "Planung in diesem Sinne heisst Planung für die Freiheit." (Das wurde aufgenommen von K. R. Popper und Karl Steinbuch ["Die informierte Gesellschaft", 1968; dtv 1969, 174f].)

 

Diese Freiheit ist nicht diejenige des "laissez-faire" und "laissez-aller", sondern "die Freiheit einer Gesellschaft, der das gesamte koordinierte System der Sozialtechnik zur Verfügung steht und die sich daher auf gewissen Lebensbereichen von sich aus gegen diktatorische Übergriffe schützen und die gesetzlichen Grundlagen für solche unantastbaren Bereiche in ihre Struktur und Verfassung einbauen kann" (1940; MuG, 2. Aufl., 307).

Etwas später definierte er "Planung für Freiheit" als "Planung einer Gesellschaft um eines freien schöpferischen Lebens willen" (Diagnose, 171).

 

Dabei fand er:

"Alles hängt davon ab, ob wir einen Weg finden, um die Kontrolle der parlamentarischen Demokratie auf eine geplante Gesellschaft zu übertragen. Wenn diese Kontrolle bei der Errichtung einer geplanten Gesellschaft verloren geht, dann wird die Planung keinen Segen, sondern nur Unheil bringen" (MuG, 2. Aufl., 442).

 

Nach dem Krieg (FugD, 16) sah Mannheim nicht mehr die Alternative zwischen "Planung und Laissez-faire", sondern die Fragen: "Welches Ziel soll die Planung haben?" und: "Welche Art von Planung soll durchgeführt werden?". Er entwickelte dafür die Ideale:

  • demokratische Planung
  • Erneuerung der Politik
  • demokratische Kontrolle der Regierung
  • demokratisches Verhalten, insbesondere Verantwortung
  • demokratische Persönlichkeit
  • demokratische Lebensdeutung und Erziehung

 

Als Integrationsmechanismus hiefür sah er in einem unvollendeten Kapitel seines letzten Buches Philosophie und Religion.

 

Institutionalisierung der theoretischen Sozialtechnologie

 

·1958 entstand an der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Warschau das "Forschungszentrum für allgemeine Probleme der Arbeitsorganisation", das zunächst vom Wortführer der Praxeologie, Tadeusz Kotarbinski, selber geleitet wurde.

Seit 1962 gibt es die Zeitschrift "Materialy Prakseologiczne", ab 1966 "Prakseolgia" heraus. Hauptwerk ist Kotarbinskis "Traktat über die gute Arbeit" (1955), engl. "Praxiology" (1965).

Am 14. Internationalen Kongress für Philosophie 1968 wurden erstmals Beiträge zur Praxeologie im Kolloquium "Kybernetik und Philosophie der Technik" vorgetragen. In den 1970er Jahren nahmen in der Bundesrepublik Deutschland der Pädagoge Josef Derbolav und der Betriebswirtschafter Erwin Grochla diesen Ansatz auf.

 

· 1964-67 erschien in London die Zeitschrift "Technologist", 1967-74 weitergeführt als "Technology and Society".

Ebenfalls seit 1964 erscheint die Zeitschrift "programmed learning & educational technology".

Seit 1965 erscheinen ferner Untersuchungen über "Economic and Social Implications of Technology".

 

· Seit 1965 hat die Polnische Soziologische Assoziation eine Sektion für Gesellschaftstechnik; sie führt seither laufend Konferenzen durch; seit 1968 gibt es die Zeitschrift "Socjotechnika".

Das Hauptwerk ihres Wortführer Adam Podgorecki erschien 1966: "Zasâdi socjotechniki".

 

·1973 wurde im Rahmen der International Sociological Association (ISA) das "Research Committee on Sociotechnics" (RCS) gegründet. Es führt regelmässig Tagungen durch und gibt "Newsletters" heraus.

Im Februar 1983 hielt der "Deutsche Arbeitskreis für Soziotechnik" eine Tagung in Speyer ab.

 

·1975 richtete die "International Association for the Development of International and World Universities" (IADIWU; 1953 in Zürich gegründet) das "Institut international de sociotechnique" ein.

 

· Ende 1976 bildete die OECD eine Arbeitsgruppe von 15 Experten, welche sich 1977 und 1978 mit Sozialtechnologie auseinandersetzten. Der Bericht erschien 1980.

 

· 1980 wurde in Bremen der "Arbeitskreis für praxisorientierte Sozialwissenschaft" gebildet. Erster Präsident war Helmut Klages (Speyer), Sekretär Joachim K. H. W. Schmidt (Köln).

 

 

Zusammengestellt 1984

 




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