HomeSoziotechnik, Sozialtechnologie: aktuelle Definitionen

 

Wörterbuch der Soziologie,
hrsg. von Günter Endruweit und Gisela Trommsdorff;

1. Aufl. Stuttgart: Enke 1989

 

[völlig identischer Text in der 2. völlig neubearbeiteten und erweiterten Auflage,

Stuttgart: Lucius und Lucius 2002 (UTB, Nr. 2232);
nur einige andere Wörter sind kursiv gesetzt und eine Literaturangabe - Büschges, Günter - wurde ausgewechselt]

 

 

Soziotechnik

 

1. Begriff.

Soziotechnik (engl. social engineering) - häufig auch Sozialtechnik (z. B. Popper, 47 ff.) genannt - bezeichnet die Anwendung des nach bestimmten Relevanzkriterien in technologische Aussagensysteme transformierten Bestandes an hinreichend informativem soziologischem Sach-, Methoden- und Theoriewissen für Zwecke der Lösung konkreter Entscheidungs- und Handlungsprobleme in der Praxis.

 

2. Bedeutung der Definition.

Dieser Definition liegt zum einen die oft vernachlässigte Unterscheidung zwischen Technologie als "System von Aussagen" und Technik als "Anwendung technologischer Aussagen im praktischen Leben" zugrunde (Albert, 221).

Zum anderen beruht sie auf der Überzeugung, dass eine differenzierte, den unterschiedlichen Verwertungszusammenhängen entsprechende Beurteilung des praktischen Nutzens von Soziologie als empirischer Wissenschaft nur möglich ist, wenn zwischen folgenden Zielsetzungen der praktischen Verwertung soziologischen Wissens unterschieden wird:

(1) der soziologischen Aufklärung mündiger Bürger,

(2) der soziologischen Orientierung von Personen, die in institutionalisierten und beruflich oder auf andere Weise organisierten Handlungsfeldern tätig sind,

(3) der soziotechnischen Anleitung bei der Lösung alltags- oder berufspraktischer Probleme im Einzelfall (Büschges, 1985, 70ff [Büschges/ Abraham/ Funk, 10. Kap.]).

 

3. Theoretische Zusammenhänge.

Soziotechnik im hier verstandenen Sinne ist nicht mit jedem Verständnis von Soziologie vereinbar. Wer jedoch das Ziel von Soziologie als empirischer Einzelwissenschaft darin sieht, soziales Handeln in seinen verschiedenen Erscheinungsformen zu beschreiben, die für solches Handeln charakteristischen Regelmässigkeiten zu erfassen, seine institutionellen Bedingtheiten aufzudecken und es schliesslich in all seiner Mannigfaltigkeit vermittels möglichst einfacher und allgemeiner Gesetze zu erklären, wird sozio-technische Anleitung für möglich und erstrebenswert halten, insbesondere gilt dies für eine dem methodologischen Individualismus verpflichtete oder ähnliche Grundorientierung.

 

Die grössten Chancen dürfte eine "erklärende Soziologie auf strukturell-individualistischer Grundlage" bieten (Raub,18): Sie verknüpft Annahmen über Individuen als Handelnde und über für diese geltende Regelmässigkeiten des Handelns, die im Zentrum der theoretischen Modelle stehen, mit Annahmen über die sozialen Situationen, in denen sich die Akteure befinden, und über die vorliegenden institutionellen Bedingungen. Sie ist deswegen in der Lage, die sozialen Bedingungen individuellen Handelns und seiner Folgen als verhaltens- und ergebnissteuernde Faktoren bei der Erklärung sozialer Phänomene wie bei der Entwicklung praktischer Handlungsempfehlungen explizit zu berücksichtigen.

 

Da die Soziologie, wie jede Einzelwissenschaft, nur bestimmte Aspekte der komplexen Wirklichkeit erfasst, für adäquate Problemlösungen jedoch eine Verschränkung wesentlicher Aspekte unerlässlich ist, die von verschiedenen Wissenschaften angegangen werden, erfordert die Verwendung soziologischer Wissensbestände für soziotechnische Zwecke eine enge Kooperation mit anderen, für die jeweils anstehenden Probleme relevanten wissenschaftlichen Disziplinen.

Ein Versuch in dieser Richtung liegt in dem vom Londoner Tavistock Institute of Human Relations entwickelten sozio-technischen Systemansatz (s. Herbst) vor.

Allerdings ist unser derzeitiger Bestand an informativem Wissen kaum ausreichend, um daraus stringent soziotechnische Anleitungen abzuleiten, wie z. B. eine Analyse des Erkenntnisstandes und praktischen Nutzens der Arbeitszufriedenheitsforschung (s. Gawellek) ergeben hat.

 

Literatur

 

Albert, Hans: Wertfreiheit als methodisches Prinzip, in: Topitsch, Ernst (Hrsg.): Logik der Sozialwissenschaften, 11. Aufl., Königstein/ Ts. 1984, S. 196-225.

Büschges, Günter: Empirische Soziologie und soziale Praxis. Sozialwissenschaften und Berufspraxis, 8. Jg. 3/1985, S. 61-86.

[Büschges, Günter/ Abraham, Martin/ Funk, Walter: Grundzüge der Soziologie, 3. überarb. Aufl., München u. Wien 1998.]

Gawellek, Ulrich: Erkenntnisstand, Probleme und praktischer Nutzen der Arbeitszufriedenheitsforschung, Frankfurt/M. u. a. 1987.

Herbst, P.G.: Socio-technical Design, London 1974.

Ossowski, Stanislaw: Die Besonderheiten der Sozialwissenschaften, Frankfurt/ M. 1973.

Popper, Karl R.: Das Elend des Historizismus, 3. Aufl., Tübingen 1971.

Raub, Werner: Rationale Akteure, institutionelle Regelungen und Interdependenzen, Frankfurt/ M. u.a. 1984.

 

Günter Büschges

 

 

 

Brockhaus: Enzyklopädie,
Bd. 20, 1993 (19. Aufl.), erneut 1998 (20. Aufl.):

 

Sozialtechnologie, engl. Social Engineering,

Bez. für den Ansatz [1998: einen sozialwiss. Denkansatz], analog zur Anwendung technolog. Wissens für den Ausbau des techn. Fortschritts, der das sozialwissenschaftl. [sozialwiss.] Wissen zur Lösung konkreter prakt. Fragestellungen der Gesellschaft nutzbar zu machen versucht.

Das Theorie-, Sach- und Methodenwissen der Sozialwissenschaften soll zur Lösung von Planungs-, Entwicklungs- und Organisationsaufgaben gesellschaftl. Art dienen.

 

Bereits in ihren Anfängen bei A. COMTE war Soziologie mit dem Anspruch betrieben worden, auf wiss. Weise das Wissen bereitstellen zu können, das die Gesellschaft zur Lösung ihrer Probleme braucht.

Die heutige S. ist darauf ausgerichtet, in ihren Abschätzungen die Existenz ungeplanter Nebenfolgen geplanten Verhaltens, die irrationalen Seiten menschl. Sozialverhaltens und unterschiedlich ausgeprägte histor., polit., psycholog., ökonom. und nicht zuletzt zufällige Gegebenheiten entsprechend zu berücksichtigen.

 

[Nur 1993: Dennoch bleibt auch eine sich ihrer Grenzen bewusste S. stets dem Verdacht ausgesetzt, vorhandene soziale oder polit. Probleme unter einem techn. Zugriff zu entschärfen, scheinbar wiss. Vorgaben im Interesse eine bestimmten Gruppe zu machen, ethisch nicht akzeptable Experimente betreiben zu wollen oder an einem eingeschränkten Blick auf die Gesellschaft festzuhalten.]

 

[Lit.] Weder S. noch Aufklärung? Analysen zur Verwendung sozialwiss. Wissens, hg. v. U. BECK u. a. (1989).

 




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