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Oder: "Individuen … stellen eine gesellschaftliche Sackgasse dar"

 

Nach Joachim K. H. W. Schmidt 1973 - 1983

 

 

Es fing vielversprechend an.

Im November 1973 trafen sich in Loughborough, England, etwa zwei Dutzend Wissenschafter aus acht Ländern zur konstitutiven Sitzung des "Research Committee on Sociotechnics" (RCS) der International Sociological Association (ISA).

 

Der Jurist Joachim K. H. W. Schmidt hielt ein flammendes Plädoyer für die "Gesellschaftsarchitektur".

 

Die Idee einer Gesellschaftsarchitektur

 

Während sich die neuere Soziotechnik mit "Fragen technischer Organisation in der Weise rationaler und administrativer Ordnung" befasst, zielt Gesellschaftsarchitektur "künstlerisch auf menschliche Organisation mittels Konstruktion gesellschaftlicher Institutionen".

 

Als hehres Ideal galt die "Steigerung der Qualität unseres Lebens durch gezielte Entfaltung eines höheren Grades an Menschlichkeit unter den Menschen".

Schmidt wollte zu diesem Behuf das griechisch-abendländische Seinsdenken (Parmenides) durch das Beziehungsdenken ersetzen, die Person höher als Argumente stellen, die Begegnung über die Jagd nach Sicherheit. Er forderte die Übernahme von Aufgaben statt von Rollen und meinte, dies wachse aus einer Solidarität hervor, "die weder hierarchisch noch mechanistisch-egalitär begründet ist, sondern sich auf Fähigkeiten und Bedürfnisse stützt".

 

Wichtig war ihm die Beachtung der Zeit, welche erst die Tiefe des Raumes schafft, Ganzheitlichkeit und Integration statt Fragmentierung und Anhäufung. Er nahm Partei für Sinnlichkeit, Sensibilität und Sinn statt Rationalisierung, re-aktionäre Planung und Kontrolle, wie sie durch Poppers "piecemeal engineering" und Skinners rattomorphes Menschenbild gefordert wurden und Menschen "wie Vieh" behandeln.

 

"Rationalisten sehen ohne zu hören, hören ohne zu tasten, tasten ohne zu riechen, riechen ohne zu schmecken, und dies resultiert dann in ihrer Unzuständigkeit für Fragen, die menschliche Implikationen ihrer Arbeit betreffen." Glück findet sich nur ausserhalb des Raumes der Technologie. Die Technologie hat sich als unfähig erwiesen, den Grad der Menschlichkeit in unseren Gesellschaften zu erhöhen.

 

Einen Hintergrund bildet für Schmidt der Historismus des 19. Jahrhunderts, aus dem Rechtstatsachenforschung, Freirechtsbewegung und "soziologische Jurisprudenz" herausgewachsen sind.

Ein anderer Hintergrund ist die "pattern-recognition", d. h. das Erkennen von Schemata anstelle isolierter Elemente. Schon Kant hat diesbezüglich von einer begrifflich nicht fasslichen Vermittlung intellektueller und sinnlicher Vorstellungen gesprochen. Morphologie und Gestaltpsychologie basieren ebenfalls auf diesem nicht nur rationalen Ansatz.

 

Intuition und Konstruktion sind also gefordert, wobei die Intuition eher ein Hören als Sehen, die Konstruktion eher ein Aufbauen als Verfertigen ist. Daher: Gesellschaftsarchitektur.

Zehn Jahre später schrieb Schmidt: "Die Konstruktion des gesellschaftlichen Bauwerks, in welchem Glieder vieler verschiedener und sich fortlaufend ändernder Traditionen leben, ist eine komplizierte und schwierige Aufgabe, deren Lösung die Entfaltung einer Menge verschiedener Talente erfordert."

 

Den Gebildeten erinnert das an eine 1717 ins Licht der Geschichte eingetretene Vereinigung, deren Mitglieder sich als Bauleute am "Tempel der Humanität" betrachten. Jan K. Lagutt ("Der Grundstein der Freimaurerei", 1971, 19) zitiert deren Credo:

 

"Es ist das Ziel, dem wir entgegenstreben,

der Bau und die Vollendung jenes Tempels,

in welchem jedes Menschenkind,

den Nächsten wie den Fernsten,

aus ganzem Herzen Bruder nennen darf."

 

Aufgaben und Ausbildung des Soziotechnikers

 

Seit seiner Gründung hat das RCS der ISA ein halbes Dutzend Tagungen durchgeführt und Newsletters herausgegeben. Unter anderem wurde auch die Namengebung diskutiert, was im deutschen Arbeitskreis für Soziotechnik seine Fortsetzung fand. Schmidts Begriff "Gesellschaftsarchitektur" wurde als unsoziologisch und "undeutsch" betrachtet, woran auch ein dreijähriger Prozess vor deutschen Gerichten nicht viel änderte.

 

Sei es deshalb, sei es, weil er inzwischen Sekretär des RCS wurde, in der Schrift über "Soziologisches Wissen und Soziotechnik" (Hrsg. Peter Rölke, Braunschweig 1983) ist Schmidt auf die Linie der Technologen eingeschwenkt.

Zwar betrachtet er Mitmenschen immer noch" als autonome und reife Bürger mit dem Ziel einer Selbstbestimmung ihrer Institutionen und legitimen Traditionen". Doch jetzt kommt der "Soziotechniker" zum Zug: "Solche Soziotechniker erarbeiten Bezugsrahmen für beabsichtigten gesellschaftlichen Wandel und suchen nach effektiven Mitteln für deren Realisation, wobei sie sich bei ihrer Arbeit auf erprobte und kunstgerechte Operationen stützen, die jeweilig relevante gesellschaftliche Haltungen beschreiben und erklären."

 

Die Begründung für Begriff wie Denkweise der "Technik" ergibt sich aus folgendem: Der gegenwärtige Lebensstandard wäre ohne Technik undenkbar. "Ohne Technik bewegt sich heute nichts mehr: auch das gesellschaftliche Handeln hat heute einen solchen Grad der Komplexität erreicht, dass es ohne Technik nicht mehr steuerbar ist." Daher sind nur besonders ausgebildete Experten, Soziotechniker, fähig, "die sich hier stellenden Aufgaben zu lösen".

 

Dafür hat Schmidt ein "Curriculum" über acht Semester entwickelt, das nicht nur in sämtliche Geistes- wie Naturwissenschaften samt Philosophie und Ethik einführen soll, sondern auch jeweils sechswöchige Praktika auf einem Bauernhof, auf dem Bau, in einer Fabrik, im Gross- und Einzelhandel, im Krankenhaus, in einem Restaurant und an einem Gericht oder in einer Rechtsanwaltspraxis verlangt. Die letzten "sechs Wochen praktischer Arbeit in einem Planungsbüro, um mit den Bedingungen des künftigen Arbeitsplatzes vertraut zu werden".

 

Sind im Verlauf dieses Mammutprogramms "die künstlerisch-praktisch begabten Talente herausgefiltert" worden, "die offen für den Umgang mit Wirklichkeit sind und Spass an ihrer Umformung haben", dann können dieselben darangehen, die Leute zur Akezptierung "rationaler Handhabung öffentlicher Angelegenheiten" zu bringen (30). Denn Soziotechnik zielt nun plötzlich "darauf ab, die gesellschaftlichen Probleme ebenso rational zu lösen, wie die Naturwissenschaften die physikalischen Probleme zu lösen versuchen... In Kenntnis der gesetzlichen Zusammenhänge und der Zwänge, denen die Menschen in ihren gesellschaftlichen Haltungen unterliegen, wird die Zukunft handhabbar" (33).

 

Das Abendland als Museum -das Individuum als Sackgasse

 

Der Soziotechniker - "ein Humanist und Angehöriger der sogenannten Intelligenz" - beklagt, dass viele Zeitgenossen immer noch vorwissenschaftlichen Mythen und Ideologien anhängen: "Vorwissenschaftlicher Verstand glaubt an Gott/ Götter oder an Repräsentanten von Gott/ Göttern und betrachtet die Welt als eine solche jenseits aller menschlichen Vorstellungskraft, die sich unserer Berechnung entzieht" (26).

Der Soziotechniker belehrt uns: "Der Mensch ist eine absolut zufällige Konfiguration und hochgradig durch die Natur determiniert" (34). Das Abendland ist "heute nur noch ein Museum".

"Individuen oder z. B. eine Lobby stellen eine gesellschaftliche Sackgasse dar, Elemente der Blockade gesellschaftliche Fortentwicklung" (38). Denn: "Die Gesellschaft wird als eine Vielheit von Handlungseinheiten betrachtet, als performances ihrer sie konstituierenden Mitglieder" (34).

 

Wohl selten hat sich ein Sinneswandel so drastisch gezeigt.

 

Ob es daran liegt, dass Werte heute "einem relativ schnellen Wandel unterliegen" und "in Abhängigkeit zu den jeweiligen Umständen" stehen, in denen sie artikuliert werden?

 

Die Umstände, von denen Schmidt abhängt, sind z. B. die 300 Mitglieder des RCS aus über 40 Ländern. Diese sind der "Überzeugung", dass sie "eine allgemeine empirische Gesellschaftstheorie" besitzen - "so unvollkommen sie im Augenblick auch noch formuliert sein mag".

Dennoch versteht sich Soziotechnik als moderne Wissenschaft und strikte Methodik, aber in besonderer Weise: "Soziotechnik organisiert sich durch ihren eigenen Gegenstand, der durch die Erforschung des Wollens einer bestimmten Bevölkerung, der Programmierung dieses Wollens, seiner Implementation und der Wertmessung des implementierten Wollens im gesellschaftlichen Umfeld konstituiert wird."

 

"Die soziotechnische Kursberechnung ist zuverlässig, weil sie nicht auf die Erkenntnisse einer einzigen Disziplin gegründet ist. Der Soziotechniker hat gelernt, wie die sogenannten Dinge in einer Vielzahl verschiedener Gebiete menschlichen Handelns zusammenhängen."

Daher kann er Programme für "zu institutionalisierende Handlungseinheiten" schreiben und deren "Implementation in die bestehende soziale Wirklichkeit" fachkundig bewerkstelligen. Das ist die "experimentell-interventionistische Konzeption der Soziotechnik", wie sie von Adam Podgorecki, dem langjährigen Präsidenten des RCS, vorgeschlagen wird.

Soziotechniker dieser Art sind "unabhängige Wissenschafter und akzeptieren keinen Druck seitens möglicher Auftraggeber und Lobbyisten". Ihre Massstäbe leiten sie "ausschliesslich aus der Untersuchung der sozialen Wirklichkeit her".

 

 

Es ist bedauerlich, dass sich die Soziotechnik in diese Richtung gewendet hat. "Gesellschaftsarchitektur" hätte eine humaneren Ansatz geboten.

 

Zusammengestellt 1984

 




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