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Siehe auch:    Zur Geschichte des Modelldenkens und des Modellbegriffs

 

 

Inhalt

Teil I: Aristoteles

Die Grundhaltungen der Seele

Der Gegenstand der theoretischen Wissenschaften

Der Gegenstand der nichtheoretischen Wissenschaften

Schwankende Einschätzung der poietischen Künste

Teil II: Artes liberales und Artes mechanicae

Von der Erziehung der Söhne der "Freien" zu den Artes liberales

Die "Artes mechanicae"

Mechanik bei den Alten Griechen

Mechanik zur Zeit der Alten Römer

Teil III: Die Voraussetzungen der antiken Wissenschaft

Das geschlossene Weltbild

Die Analogie

Teil IV: Die wissenschaftlichen Methoden der Alten Griechen

Methode 1. Beobachtung und Beschreibung

Methode 2. Sammlung und Organisation des Wissens

Methode 3. Klassifikation

Methode 4. Experiment und Empirie

Methode 5. Darstellung

 

 

Literatur

 

Platon

Leg. = Die Gesetze. Übersetzt von Eduard Eyth. In Platon: Sämtliche Werke. Berlin: Lambert Schneider 1940; 5. Aufl. Köln: Jakob Hegner 1967, Bd. 3, 215-663.

 

Aristoteles

NE = Nikomachische Ethik. Übersetzung und Nachwort von Franz Dirlmeier. Stuttgart: Reclam 1969.

Metaph. = Metaphysik. Übersetzt von Hermann Bonitz. Reinbek: Rowohlt, rororo Klassiker, 1969.

Pol. = Politik. Nach der Übersetzung von Franz Susemihl. Reinbek: Rowohlt, rororo Klassiker, 1965.

De an. = Über die Seele. Übersetzt und mit Erläuterungen herausgegeben von Willy Theiler. Reinbek: Rowohlt, rororo Klassiker, 1968.

Phys. = Physik.

 

Allgemeine Literatur

LdA = Lexikon der Alten Welt. Zürich: Artemis 1965; Taschenbuchausgabe als "dtv-Lexikon der Antike", Abt. Philosophie, Literatur, Wissenschaft, 4 Bde. München: Deutscher Taschenbuch-Verlag 1969-70.

Hermann Glockner: Die europäische Philosophie von den Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart: Reclam 1958.

Fritz Krafft: Geschichte der Naturwissenschaft I. Die Begründung einer Wissenschaft von der Natur durch die Griechen. Freiburg i. Br.: Rombach 1971.

 

 

Teil I: Aristoteles

 

Die Grundhaltungen der Seele

 

"Bis zu Platon und noch in vielen aristotelischen Texten wird Techne als gleichbedeutend mit Episteme (Wissen) angewendet, und zwar sowohl auf theoretische Wissenschaften, wie die Geometrie und die Astronomie, als auch auf praktische Fertigkeiten, wie die Kunst des Schmiedes oder des Bildhauers. Man findet jedoch bei Aristoteles auch eine engere Definition der Techne; sie wird dann als die Kunst, etwas hervorzubringen, der Episteme als dem theoretischen Wissen gegenüber gestellt" (LdA, Techne).

 

In der "Nikomachischen Ethik" (NE VI, 3ff) unterscheidet Aristoteles noch genauer fünf Grundhaltungen der Seele, welche das Erfassen des Richtigen gewährleisten

1. techne (praktisches Können; Sachkunde; Kunst)

2. episteme (wissenschaftliche Erkenntnis; Wissen)

3, phronesis (sittliche, praktische Einsicht; Begreifen)

4. sophia (philosophische Weisheit)

5. nous (intuitiver Verstand; geistiges Erfassen; Vernunft).

 

Allerdings können im Rahmen eines praktischen Könnens Fehler gemacht werden, genauso wie das 6. Vermögen, die blosse Vermutung oder Meinung (doxa), uns täuschen kann. Während es beim praktischen Können aber eine Stufe der Vollendung gibt, ist das bei der sittlichen Einsicht nicht der Fall; dafür führt sie, wie die andern drei Vermögen niemals zum Unrichtigen.

 

Die sechs andern Seelenteile oder -vermögen, von der vegetativen, a-rationalen Seite her gesehen, sind bekanntlich:

 

  • Ernährung, Wachstum und Hinschwinden, Fortpflanzung, wohl auch Ein- und Ausatmen, Schlafen und Wachen;
  • Sinneswahrnehmung (fünf Sinne);
  • Ortsbewegung;
  • Streben (Begierde, Mut, Wille; letzterer vernünftig);
  • Vorstellung (Phantasie);
  • Gedächtnis und Erinnerung.

 

Wenn man also die vor der NE verfasste Schrift "Über die Seele" (De anima) herbeizieht, ist die Sache recht kompliziert. (Die gerne gehörte Behauptung, im Gegensatz zur Dreiteilung Platons - Begierde, Mut, Vernunft - sei Aristoteles mit der Zeit zu einer Zweiteilung der Seele in einen vernünftigen und unvernünftigen Teil gelangt, verkürzt den Sachverhalt zu stark.)

Auch die in der NE entwickelte Entscheidungs-, Handlungs- und Werttheorie klar auseinanderzulegen, bedürfte zeitraubender Analysen. Festgehalten seien aber folgende Grundzüge:

 

1. a. Die "spekulative Denkbewegung", die Episteme, zielt weder auf ein Handeln noch Hervorbringen, sondern auf die Erkenntnis des Wahren und Falschen. Auf der höchsten Stufe der wissenschaftlichen Erkenntnis (die andern Stufe siehe später) lässt das Objekt keine Veränderung zu - es ist immer vorhanden und notwendig, ewig und allgemein.

 

1. b. Das wissenschaftliche Erkennen vollzieht sich durch die zwingenden Schlussverfahren der Induktion und des Syllogismus. Dieses Schliessen bedeutet zugleich ein Lernen und Lehren.

 

1. c. Die Ausgangssätze, von denen jede wissenschaftliche Erkenntnis abgeleitet wird, liefert der intuitive Verstand. Er hat es mit den obersten begrifflichen Setzungen zu tun; freilich leistet er als eine Art "Wahrnehmung" auch seine Dienste für die sittliche Einsicht.

 

2. a. Im Unterschied dazu zielt die "abwägende Reflexion", als zweiter rationaler Seelenteil, auf die Hervorbringung (poiein) oder die Handlung (prattein) - und deren Ursprung ist die Entscheidung zwischen mehreren Möglichkeiten, und zwar so, dass das Objekt des Strebens identisch ist mit dem, was die abwägende Reflexion bejaht (das ist das Richtige oder Gute). Können und Handeln haben es mithin mit dem Veränderlichen zu tun.

 

2. b. Das praktische Können betrifft ein Entstehen; seine Ausübung ist "ein Ausschauhalten, wie etwas entstehen könne, was da sein und auch nicht da sein kann und dessen Seinsgrund im Schaffenden liegt und nicht in dem, was geschaffen wird". "Das Hervorbringen als Vorgang ist kein Selbstzweck, sondern bezogen auf etwas und Gestaltung von etwas", nämlich des Werks (ergon) als Ergebnis. Es wird vom "richtigen Planen" geleitet.

 

2. c. "Dagegen ist das Handeln als Vorgang schon Selbstzweck. Denn wertvolles Handeln ist ein Ziel und das Streben geht in dieser Richtung." Auch es ist mit richtigem Planen verbunden sowie mit sittlicher Einsicht. Diese lenkt das menschliche Handeln und hat im Auge, was für den einzelnen oder die Menschen wertvoll oder nützlich ist. "Einen solchen Blick schreibt man denen zu, die in der Verwaltung des Hauses und des Gemeinwesens tüchtig sind."

 

3. Nun gibt es zwei Arten von Weisheit (sophia). Im Bereich von Handwerk und Kunst (techne) bedeutet sie höchste Vollendung des Könnens. Im Bereich des Erkennens gilt der Weise nicht nur als einer, der weiss, was aus den obersten Ausgangssätzen abgeleitet wird (episteme), er hat auch von diesen obersten Sätzen ein sicheres Wissen (nous).
So ist die philosophische Weisheit in der Verbindung von intuitivem Verstand und diskursiver Erkenntnis Wissenschaft "sozusagen 'in Vollendung'". Im Unterschied zur sittlichen Einsicht, aber auch zur Staats- und Heilkunde - die alle das jeweils Zweckdienliche und Vorteilhafte, und damit je ein "Einzelwohl", im Auge haben - ist die sophia immer dieselbe, eine einzige. Als solche bewirkt sie nicht, aber schafft sie das Glück - das Glück des betrachtenden Denkens.

 

Für diese Auffassung lässt sich nun folgender Hintergrund etwas breiter skizzieren:

 

Kunst (techne) steht der Natur (physis) gegenüber. Für Aristoteles "ist die Natur das Primäre, und die (menschliche) Kunst bildet sich nach ihrem Muster; doch hat die Natur in sich selbst eine Zweckmässigkeit und eine Vernunftgemässheit, die dem menschlichen Verstand erlauben, sie zu begreifen und nachzuahmen" (LdA; vgl. Phys. 2, 194a 21f; 199a 15ff).

In umgekehrter Richtung hatte schon Platon die beiden Bereiche einander angenähert, indem er die natürlichen Dinge nicht als zufällig und ohne Mitwirkung der Vernunft entstanden auffasst, sondern als Werk einer göttlichen Kunst, "und das, was in der stärksten Bedeutung des Wortes 'von Natur' besteht, ist die Seele mit ihren Wirkungskräften, deren eine die Techne ist" (LdA; vgl. Leg., 10, 888 E-892 C).

Demgegenüber bei Aristoteles: "Die sittlichen Werte gewinnen wir erst, indem wir uns tätig bemühen. Bei Kunst und Handwerk ist es genauso. Denn was man erst lernen muss, bevor man es ausführen kann, das lernt man, indem man es ausführt: Baumeister wird man, indem man baut, und Kitharakünstler, indem man das Instrument spielt" (NE II, 1).

 

Der Gegenstand der theoretischen Wissenschaften

 

Was ist nun Gegenstand der wissenschaftlichen Erkenntnis bei Aristoteles? Er unterscheidet in der "Metaphysik" (VI, 1; XI, 7; vgl. auch De an. I, 1) drei auf Denken gegründete und mit Denken verbundene, betrachtende (theoretische) Wissenschaften:

 

1. Die Physik betrachtet dasjenige Seiende, welches das Prinzip der Bewegung und der Ruhe in sich hat. Dazu gehört auch die Beschäftigung mit der belebten Natur, wozu auch die Psychologie gehört, soweit sie die Leistung der Seele im Vollzug der psychophysischen Prozesse sieht wie in "De anima". Darüberhinaus hat der Naturforscher sich auch mit Gesundheit und Krankheit zu befassen (Medizin). Freilich gibt es auch eine Heilkunst.

 

2. Die Mathematik betrachtet demgegenüber das Unbewegliche, das Bleibende, das sich am Stoff befindet. Aristoteles hat sie nie in einer eigenständigen Untersuchung behandelt, dafür in mehreren Schriften die Logik.

 

3. Die Natur als das Notwendige, Ewige und Unveränderliche, als das Seiende schlechthin und insofern es Seiendes ist, bildet den Gegenstand einer den beiden obigen vorausgehenden Wissenschaft: der ersten und allgemeinen Philosophie, auch als Metaphysik oder Theologie (die Betrachtung der göttlichen Dinge, Metaph. XII, 7) gefasst.
Das Beharren der himmlischen Dinge in ewiger (Kreis-)Bewegung ist nichts anderes als Ruhe, denn im Gegensatz zur Ortsbewegung (der Lebewesen), die zwischen den Qualitäten oben und unten stattfindet, sind die himmlischen Dinge immer oben; die ganze Kreisbahn ist ihr "natürlicher Ort".

 

Die genaueste Wissenschaft ist mithin die Metaphysik. Alle andern Wissenschaften sind weniger exakt (NE I, 1).

 

Der Gegenstand der nichttheoretischen Wissenschaften

 

Insgesamt haben aber die betrachtenden Wissenschaften wieder einen Vorzug von andern, nämlich denjenigen des Handelns (prattein) und Hervorbringens (poiein). Laut NE (VI, 6-12) gibt es von den menschlichen Dingen - den Objekten der sittlichen Einsicht -, die stets nur Einzelfälle, "letztlich gegebenes Einzelnes" sind, keine strenge wissenschaftliche Erkenntnis, sondern nur Wahrnehmung im Sinne unmittelbaren, intuitiven Erfassens (nous).

Deshalb ist über das menschliche Handeln und Schaffen, also gerade über das, was den Menschen über die höheren Tiere (als der Materie, dem Körper verhaftetes Naturwesen) hinaushebt, nämlich die geistige Formung (Paidaia), das Suchen nach Werten und das Irren, nur Ungefähres auszumachen.

Dieses Gebiet beruht - trotz oder gerade wegen der Lenkung durch den rationalen Seelenteil - nicht auf natürlicher Notwendigkeit, ist vielmehr voller "Unterschiede und Schwankungen" (NE I, 1). Daher auch der grosse Umfang der NE. (Paradox ist aber gerade deren Komposition und sorgfältige Redaktion im Unterschied zu den naturwissenschaftlichen Schriften wie auch der - Metaphysik; paradox auch die Idealisierung des Menschen, die wenig von dem ethischen Ringen zeigt, wie es etwa Platon viel realistischer, genetisch und historisch, geschildert hat.)

 

Da ausser der Metaphysik alle Wissenschaften je bestimmte Gebiete betreffen, kann man auch die nichttheoretischen aufgliedern, und zwar

  • einerseits in die Ethik, welche vorab Ökonomik (Haushaltskunst, Wirtschaftsführung), Politik (Staatskunst) und Erziehungslehre umfasst,
  • anderseits in die poietischen (werktätigen) Wissenschaften.

 

Hier setzen nun die Schwierigkeiten eines klaren Verständnisses ein. Sowohl die praktischen wie poietischen Wissenschaften (Episteme) sind auch Künste (Techne) - ausser der Ethik als übergreifende Lehre der Charakterbildung.

Nun hat aber Aristoteles nirgendwo ausführlich von der Kriegs- oder Feldherrenkunst (Strategik), Heilkunst und Gymnastik gehandelt. Genauso sind von den poietischen Wissenschaften nur die (fragmentarischen) Schriften über Dichtkunst (Poietike - enthält auch eine Sprachlehre) und Redekunst (Rhetorike) erhalten.

 

Letzteres könnte die Vermutung nahelegen, dass von dem, was wir heute als "Kunst" fassen, für Aristoteles nur gerade die sprachlich-dramatischen Künste als einer wissenschaftlichen Beschreibung zugänglich oder würdig erachtet wurden. Für Musik (vgl. auch Pol. VIII, 5-7) und Tanz ist das noch verständlich, stellten sie doch damals keine eigenständigen Kunstgattungen dar, sondern gehörten als Bestandteile zum Drama.

Wie steht es aber z. B. mit Malerei und Bildhauerei? In einem Kommentar zur "Poetik" aus der DDR heisst es, diese Gattungen seien "in den Augen der antiken Menschen überhaupt keine Kunst, keine Poiesis, sondern eine Techne, eine Fertigkeit, ein Handwerk" gewesen (genauso wie das Musizieren). Zwar habe man auch die Werke der bildenden Kunst geschätzt - so zollt etwa auch Aristoteles in der NE (VI, 7) Phidias und Polyklet höchstes Lob (sophia als Vollendung ihres Könnens) -, doch gehörte die Besprechung der Erzeugnisse von Handwerkern - auch Architekten - nicht in eine Kunstlehre, ein wissenschaftliches Werk.

Anderseits meint Glockner (1958, 156), manches (ev. u. a. Pol. IV, 1) deute darauf hin, "dass Aristoteles eine umfassende Philosophie der Technik beabsichtigte: nicht nur eine Lehre von der sprachlich-dichterischen und musikalischen, sondern auch von der handwerklichen Stoffgestaltung".

 

Schwankende Einschätzung der poietischen Künste

 

Sei dem wie es wolle, die Achtung der poietischen Künste schwankt jedenfalls in der Beurteilung der alten Griechen. Sokrates bereits hatte einen hohen Wert auf das sachverständige Wissen gelegt, welches ein Können, die Beherrschung einer Techne, in sich schliesst. Und auch Aristoteles hat, wiederum in der NE (1, 6), ausdrücklich betont, das menschliche "Gut" liege in der je besten Ausführung einer Leistung, die dem Vermögen des einzelnen entspricht: "Überall da, wo Leistung und Tätigkeit gegeben ist, liegt eben in der Leistung, wie man annehmen darf, der Wert und das Wohlgelungene beschlossen", betreffe das nun einen Flötenkünstler oder Bildhauer, einen Zimmermann oder Schuster!

Daher verwundert nicht, wenn in der "Politik" (I, 7) nicht nur der Herrscher (despotes) über eine Episteme verfügt, sondern auch sein Sklave, nämlich wenn er sich in den "gewöhnlichen Dienstleistungen", aber auch etwa in der Kochkunst hat ausbilden lassen - dies obwohl ihm bald darauf jede Kraft zur Überlegung abgesprochen wird (I, 13).

 

Diese wechselvolle Einschätzung hängt damit zusammen, dass es drei Massstäbe gibt.

  • Für die Wissenschaften bestimmt sich der Rang nach der Strenge (Akribie), nach der Vorzüglichkeit des Gegenstandes und nach dem Nutzen (vgl. auch etwas anders, Metaph. I, 2). Die Verbindung der höchsten Exaktheit mit der Betrachtung der erhabensten Seinsformen (NE VI, 7) bietet die philosophische Weisheit: Der Philosoph ist Betrachter nach der strengsten Wissenschaft, und die himmlischen Dinge zu erkennen ist wegen ihrer Ehrwürdigkeit süsser als alle irdischen.
  • Die Wissenschaften des Handelns sind viel weniger exakt, aber weil sich dieses auf das über aller seelischer Bewegungskraft - dem Kennzeichen der Natur - stehende denkende Prinzip (noetikon) stützt, hat dieser Gegenstand seine eigene Dignität, geht es doch hier um das Edle und Gerechte, Gute, Schöne, Angenehme und Wertvolle. Der auch in der Entscheidung freie Geist erlaubt die Vollendung des Könnens und das Erreichen sittlicher Trefflichkeit, die beide zur aktiven geistigen Schau als vollkommenes Glück (Eudaimonia) hinaufstreben (NE X, 6; De an. III, 5; Pol. VII).
  • Daneben gibt es nun aber ein Wissen, das demjenigen der Schätzbarkeit die grössere Unentbehrlichkeit voraushat, eben das Wissen des Unfreien, der Lohnarbeiter, welches die Sklaven sind, aber auch die Handwerker (technites oder banausos!). Gerade in der "Politik" lässt Aristoteles seiner Geringschätzung über das Handwerk freie Bahn. Die Handwerker vernachlässigen oft aus Liederlichkeit ihre Arbeit und bedürfen einer "Tugend", wie sie der Sklave braucht, nur insoweit als sie Anteil an der Sklavenarbeit haben; die Stellung nämlich des Handwerkers ist die einer begrenzten Sklaverei (Pol. I, 13), und deshalb ist er auch kein Staatsbürger (Pol. III, 5; VII, 9). (Im Jahre 317 v. Chr. zählte Attika eine Sklavenbevölkerung von 400 000 gegenüber 21 000 freien Bürgern!)

 

 

Teil II: Artes liberales und Artes mechanicae

 

Von der Erziehung der Söhne der "Freien" zu den Artes liberales

 

Kein Wunder, dass sich Aristoteles in der Lehre von der richtigen Erziehung (Paideia, Pol. VII, 14ff; VIII) fragt, was die Söhne der "Freien" lernen sollen. Sie sollen sich nur an denjenigen unter den nützlichen Tätigkeiten beteiligen, die sie nicht zu den Banausos "hinabdrücken", denn der handwerksmässige Charakter macht Seele und Verstand der freien Männer untüchtig zur tätigen Ausübung und Anwendung der Tugend. Die handwerklichen Künste und die Lohnarbeit bringen den Körper in eine schlechte Verfassung, berauben das Denken der Musse (schole!) und geben ihm eine "niedrige Richtung."

 

Die klassischen Unterrichtsgebiete waren damals

  • Lesen und Schreiben (grammata),
  • Gymnastik,
  • Zeichnen (graphike) und
  • Musik (vgl. auch Platons "Gesetze", 7. Buch, z. B. speziell: Mengenlehre "unter Spielen und Lustigkeit", 819 Bff).

 

Zu letzterer meldet Aristoteles schon Bedenken an, ist doch die musische Kunst nicht in gleichem Masse nützlich wie die andern drei Gebiete. Dafür leistet sie einen Beitrag zur Gestaltung der Musse, und genau das ist das eigentlich Wichtige für Aristoteles. Nur insoweit soll das Nützliche gelernt werden, als es die Grundlage für Höheres ist. Auch die Musik ist in diesem Sinne nur Lehrstoff für die Jugend, und zwar einzig zum Kennenlernen, zur Charakter- und Geschmacksbildung; Erwachsene sollen sie nur - zum Vergnügen - anhören, denn die eigene Ausübung ist etwas Handwerksmässiges (banauson) und damit eines freien Mannes unwürdig.

 

Das ist also die stets wiederkehrende sozusagen elitäre Haltung von Aristoteles, dass es zwar Menschen geben muss, die als "Lohnarbeiter" etwas beherrschen, aber nur im Dienste anderer, um ihnen die "höheren" Geschäfte zu ermöglichen oder ihnen gar zum Genuss zu verhelfen - wie der Banause, der sich die Ausübung der Musik zur eigentlichen Kunst (Techne) und Aufgabe (ergon) gemacht hat.

 

Diese verblüffende Geringschätzung von Kunst und Handwerk hat sich interessanterweise über die Jahrtausende gerettet (siehe unten). Nicht durchgesetzt hat sich dagegen die Aristotelische Dreiteilung der Wissenschaften, wohl deshalb weil die vom Platoniker Xenokrates zur gleichen Zeit geschaffene Unterteilung in

  • Physik,
  • Ethik und
  • Logik

das Gewicht der tatsächlichen Übung in der Akademie voraus hatte.

Die Stoiker übernahmen sie und gliederten die Logik in Rhetorik und Dialektik; letztere wiederum in die Lehre vom Zeichen resp. Bezeichnenden (Grammatik) und die Lehre vom Bezeichneten resp. Gedanken (die eigentliche formale Logik).

Bei Aristoteles dagegen war die Logik ein integrierender Systembestandteil der theoretischen Philosophie gewesen, nicht Propädeutik (Einleitung) oder Werkzeug, obwohl spätere Peripatetiker seine logischen Schriften zum "Organon" zusammenfassten und Epikur die Logik - zu der er noch präziser als die Stoiker eine Lehre von den Wahrheitskriterien beisteuerte - als Kanonik, als Richtschnur für Erkennen und Denken, bezeichnete.

 

Seltsamerweise griffen die Römer wieder auf Aristoteles zurück. Das Studium der "Artes liberales" (ars entspricht techne) stellte den Inhalt der nicht auf Erwerb ausgerichteten höheren Bildung in Rom dar und umfasste vier bis elf Disziplinen, die "einem Freien anstehen" - daher "Freie Künste".

Im 5. Jahrhundert n. Chr. wurde von Capella und Cassiodor ihre Siebenzahl fixiert (nachdem schon der Römer Varro im 1. Jahrhundert v. Chr. in seinen einflussreichen "Disciplinae" die Sieben Freien Künste plus Medizin und Architektur zusammengefasst hatte).

Später wurden die mathematischen Fächer zu einer Vierergruppe (Boethius), die literarischen zu einer Dreiergruppe (9. Jh.) zusammengefasst.

 

Trivium (scientiae sermonicales):

Grammatik

Dialektik (Logik)

Rhetorik (mit Politik und Ethik!)

 

Quadivium (disciplinae reales):

Arithmetik

Geometrie

Musiktheorie (Harmonik)

Astronomie.

 

Diese Sieben Freien Künste (auch: Artes ingenuae oder bonae) bildeten auch die Grundlagen des Unterrichts in den mittelalterlichen Kloster- und Lateinschulen und wurden dann seit dem 12./ 13. Jahrhundert an der Artistenfakultät der Universitäten gelehrt, wobei sie die Propädeutik für die "höheren" Fakultäten - Theologie, Recht, Medizin - bildeten. (Heute erfüllt diese Aufgabe das Gymnasium.)

Den gleichen Rang wie diese erhielten sie erst im Zeitalter des Humanismus als philosophische Fakultät, womit die hellenistische und römische "universale Bildung" (enkyklios paideia) wieder zu ihrem Recht kam.

 

Die "Artes mechanicae"

 

Trotz der unbestreitbaren Leistungen sowohl der Griechen wie Römer in den "Artes mechanicae", wurden diese unbeirrt als "banausoi technai" oder "artes vulgares et sordidae" verachtet, was sich bis auf den heutigen Tag erhalten hat, kommen sie doch weder in den philosophischen Wörterbüchern von Schmidt/ Schischkoff, Johannes Hoffmeister, Klaus/ Buhr und Müller/ Halder noch im "Kleinen Pauly" (1964ff) und "Lexikon der antiken Welt" (1965; LdA) vor. (Ausnahmen in jüngster Zeit bilden "Meyers Enzyklopädisches Lexikon", II, 1971, 655ff und Joachim Ritters "Historisches Wörterbuch der Philosophie", I, 1971.)

 

Dabei waren diese Handwerks- oder Eigenkünste immerhin im 12. und 13. Jahrhundert den andern Wissenschaften theoretisch gleichgestellt worden - Fritz Krafft meint sogar: in die Artes liberales aufgenommen worden; LdA, Naturwissenschaft D) - und hatte Johannes Scotus Eriugena bereits im 9. Jahrhundert analog zu den Sieben Freien ebensoviele Künste zusammengestellt, welche Technik und Arbeit betrafen.

  • Handwerk (opificium)
  • Kriegskunst und Waffenschmieden (armatura)
  • Seefahrt, Handel, Erdkunde (navigatio)
  • Landbau und Hauswirtschaft (agricultura)
  • Jagd und Tier(heil)kunde (venatio)
  • Heilkunde (medicina)
  • sog. Hofkünste (theatrica).

 

Nach andern Angaben handelt es sich bei den Artes mechanicae um Architektur, Weberei, Malerei und Schnitzerei.

 

Als dritte Gruppe wurden schliesslich die Artes illiberales oder incertae, magicae gefasst, zu denen Magie, Mantik und Gaunertum (Betteln, Betrug) zählten.

 

Literatur zu den artes mechanicae:

 

Peter Sternagel: Die artes mechanicae im Mittelalter. Diss. Univ. München 1965; Kallmünz (Opf.): Lassleben 1966.

Ria Jansen-Sieben (Hrsg.): Artes mechanicae en Europe médiévale. Actes du colloque du 15 octobre 1987. Brüssel 1989.

Laetitia Boehm: Artes mechanicae und artes liberales im Mittelalter. In Karl Rudolf Schnith, Roland Pauler (Hrsg.): Festschrift für Eduard Hlawitschka zum 65. Geburtstag. Kallmütz (Opf.): Lassleben 1993, 419-444.

Andreas Epe: Wissensliteratur im angelsächsischen England. Diss. Univ. Münster 1994; Münster, Westf.: Tebbert 1995.

Thomas Frenz: Die Ausbildung in den "artes mechanicae" im Mittelalter. In Max Liedtke (Hrsg.): Berufliche Bildung. Geschichte, Gegenwart, Zukunft. Bad Heilbrunn, Obb.: Klinkhardt 1997, 101-112.

Helmut Flachenecker: Handwerkliche Lehre und Artes mechanicae. In Uta Lindgren (Hrsg.): Europäische Technik im Mittelalter 800 bis 1200. Tradition und Innovation. Berlin: Mann 1996, 493-502; 4. Aufl. 2001.

Dietrich Kurze: Lob und Tadel der artes mechanicae unter besonderer Berücksichtigung des Speculum vitae humane des Rodrigo Sánchez de Arévalo (1467). In Knut Schulz (Hrsg.): Handwerk in Europa. Vom Spätmittelalter bis zur frühen Neuzeit. München: Oldenbourg 1999, 109-153.

Michael Jansen, Frank Pohle (Hrsg.): Die Künste am Hofe Karls des Grossen. Ausstellungsbegleiter. Aachen: Mainz 2000.

Piet Lombaerde (Hrsg.): Hans Vredemann and the artes mechanicae related. Turnhout: Brepols 2005.

 

 

Mechanik bei den Alten Griechen

 

Mit ein Grund für diese Seltsamheit mag sein, und damit sind wir erneut bei den alten Griechen, dass mechane ursprünglich "List" bedeutet, unabhängig davon ob man sich dabei irgendwelcher Werkzeuge bediente oder nicht.

Der erste "Mechaniker" war demnach der listenreiche Odysseus. Im 5. Jahrhundert v. Chr. verengte sich die Bedeutung auf die "geschickte Anwendung von Werkzeugen", das Produkt davon (z. B. Schiff) oder das angewandte Werkzeug selbst, resp. eine Verbindung von mehreren: die "Maschine" (vorab Kriegsmaschinen).

"Dieser sprachliche Befund legt die Annahme nahe, dass die technische Mechanik sich erst bei den Griechen des 6. und 5. Jahrhunderts v. Chr. zu einer ersten Blüte entwickelte, während sie sich vorher wie Assyrer und Ägypter, für die es erhaltene Reliefs zeigen, nur einfacher Werkzeuge bedienten" (LdA).

 

Bekannte Leistungen sind etwa die Brücken über den Bosporus und der Tunnel auf der Insel Samos. Im Vordergrund stand stets die kriegstechnische Seite.

 

Der erste, der mechanische Probleme mathematisch behandelte, war der Pythagoräer Archytas von Tarent (1. H. 4. Jh. v. Chr.), der nicht nur als Stratege erfolgreich war, sondern auch als Musiktheoretiker (Akustik, Harmonik, Arithmetik); sogar einen ersten Automaten soll er konstruiert haben.

 

Es war in dieser Zeit, dass sich die Auffassung durchsetzte, die Mechanik beschäftige sich im Unterschied zur Naturwissenschaft mit künstlichen, ja widernatürlichen Vorgängen und bewirke ein unnatürliches Verhalten der Dinge, das von minderer Art sei. Sogar in der attischen Tragödie erhielt das aufrichtige, "natürliche" Verhalten den Vorzug gegenüber dem Ränkespiel (mechanemata - vgl. auch der Deus ex machina). Immerhin bleibt die Mechanik seitdem Teilgebiet der Mathematik.

 

Das älteste Lehrbuch sind die "Mechanischen Probleme". Sie enthalten Gedankengut von Archytas und gehen mindestens in ihrem Kern auf Aristoteles zurück. Hauptthema sind die Hebel (Waage, Rolle), deren Wirkungen auf Kreisbewegungen zurückgeführt werden. Bewiesen hat das Hebelgesetz aber erst Archimedes.

 

Eine "Hypomnemata mechanika" schrieb Ktesibos von Alexandria (1. H. 3. Jh. v. Chr.), der sich vor allem als Erfinder von Wasserorgel (Hydraulis), Feuerspritzen und Geschützen (u. a. das Aerotonon) hervorgetan hat, welche alle auf dem Prinzip des Komprimierens von Luft beruhten. Auch eine Wasseruhr konstruierte er mit derselben Sorgfalt.

 

Archimedes (287-212) war es dann, der die Mechanik - analog zu Euklids "Elementen" (Stoichaia) - axiomatisierte, dafür aber die dynamischen Gesichtspunkte aufgab. In seinen Werken beschreibt er nicht nur seine technischen Konstruktionen wie den Flaschenzug, die endlose Schraube zum Wasserschöpfen, Kriegsgeräte, Himmelsgloben resp. Planetarien (Peri sphairopoiias) und ein Instrument zum Messen des scheinbaren Durchmessers der Sonne (im "Sandrechner"), sondern auch seine theoretischen Kenntnisse.

Das "Archimedische Prinzip" findet sich in der Schrift "Über schwimmende Körper". Es beruht wie viele andere Ergebnisse auf der Untersuchung von Schwerpunkten und (indifferentem) Gleichgewicht, die ihm auch als Hilfsmittel bei der Inhaltsbestimmung geometrischer Figuren und Körper dienten.

In einer an den Mathematiker Eratosthenes gerichteten "Methodenlehre" (Ephodos) beschrieb er als heuristisches Verfahren die Zerlegung von Flächen und Körpern in schmale Streifen resp. Schichten und deren gedankliche Aufhängung an Hebelarmen geeigneter Länge. Zum strengen Beweis der damit gewonnenen Sätze (Theoreme) verwandte er dann die Exhaustionsmethode.

 

Das erste "Handbuch der Mechanik" (Mechanike syntaxis) verfasste Philon von Byzanz (2. H. 3. Jh. v. Chr.). Zwar stark auf die Kriegstechnik ausgerichtet, erörtert er neben den theoretischen und praktischen Voraussetzungen auch das mathematische Rüstzeug für einen Mechaniker. Als Gebiete nennt er:

  • Hebel und hebelartige Werkzeuge
  • Bau von Hafenanlagen
  • Bau von Geschützen
  • Druckluftmaschinen (pneumatika)
  • Automatentheater (automatopoietika)
  • Festungsbau
  • Verteidigungs- und Belagerungstechnik
  • allgemeine Kriegslisten!

 

Erstaunlicherweise wurde das Werk des Archimedes nicht weitergeführt, wie denn überhaupt die- Entwicklung der Technik nach seinem Tod ziemlich abrupt zum Stillstand kam (man hatte ja schliesslich Sklaven).

 

Mechanik zur Zeit der Alten Römern

 

Nur ab und zu finden wieder kurze Aufschwünge statt. In erster Linie ist hier der römische Architekt und Heeresingenieur Vitruvius zu nennen, dessen Alterswerk "De architectura" etwa 23 v. Chr. erschien. Es enthält 10 Bücher über Stadtplanung, Baumaterialien, verschiedene Bautypen und Innenausstattung, aber auch über Wasserleitungen, Zeitmessung und Maschinenbau.

Wichtig für ihn waren die Proportionentheorie und Anregungen des kurz vorher gestorbenen Varro. Auf seine eigene Zeit hat er so gut wie gar nicht gewirkt; erst die Renaissance greift auf ihn, vorab was die Theorie betraf, zurück.

 

Stützte sich Vitruvius in allen technischen Angaben auf eigene Erfahrung, so war Heron von Alexandria (2. H. 1. Jh. n. Chr.?) der grosse Sammler, der altes Material auswählte und für Nichtfachleute lehrbuchartig verarbeitete.

Allerdings wurden dann auch seine Schriften von Nachfolgern ständig umgeformt und erweitert. Dennoch sind sie nicht nur für die Mechanik, sondern auch etwa für die Geometrie von grossem Interesse, da sie praktische Anweisungen geben, die bis auf die alten Ägypter und Babylonier zurückgehen. Neu gegenüber Philon sind optische Schriften (dioptra, katoptrika). Vielen Verbesserungen früherer Mechanismen (z. B. Automaten, Wasserorgeln, Zahnradmechanismen, Siphon) und eigenen Erfindungen wie der "Dampfmaschine" stehen zahlreiche Schreibtisch-Konstruktionen gegenüber. Gemäss dem Zeitgeist sah er diese Apparaturen aber mehr als Spielerei an, die der Ergötzung des Publikums dienen sollten (vgl. der Musiker bei Aristoteles).

 

Von Bedeutung vor allem für die Mathematikgeschichte sind Diophantos von Alexandria (um 250 n. Chr.), dessen "Arithmetica" bereits zahlentheoretische und algebraische Probleme behandelt, und zwar erstmals abgelöst von der Geometrie, sowie Pappos von Alexandria (um 300 n. Chr.), da wir von zahlreichen Ergebnissen früherer Mathematiker nur durch seine "Synagoge" (Collectio) Kenntnis haben. Er hat auch die bis auf Philon zurückgehende Einteilung der Mechanik wieder aufgenommen und erneut deutlich gemacht, dass zu den Voraussetzungen für die praktischen Ausführungen stets auch die theoretisch-mathematische Behandlung der Probleme gehört. Zu den theoretischen Grundlagen zählen Geometrie, Arithmetik, Astronomie und Physik (die physikoi logoi), zu den praktischen Erfahrung in den handwerklichen Techniken (cheirurgikon). Dasselbe gilt auch für die Medizin, ja für alle Techne.

 

Soweit es sich nicht um das Heben von Lasten (auch Wasser), Geschütze und dergleichen, sondern um die Nachahmung der Sternbewegungen durch mechanische Vorrichtungen handelte (Himmelsgloben, Planetarien), bewegte sich die Mechanik wie die Poiesis, vorab die Poetik, stets im Bereich der Mimesis, der "nachahmenden Darstellung", die keine Kopie oder Imitation der himmlischen oder irdischen Wirklichkeit bilden soll, sondern eine typisierende Verdeutlichung.

Sie können nicht zur Naturerkenntnis beitragen. Es sind Demonstrationsgeräte; als heuristische oder Beweismittel bleiben sie dem griechischen Denken fremd. Dies zeigt sich auch bei den ersten "Experimenten", zu denen neben den akustischen Untersuchungen der Pythagoräer (Harmonik, Arithmetik) auch die Versuche mit dem Stechheber (Klepsydra - seit Empedokles, ca. 450 v. Chr.) gehörten, die zu einer heftigen Auseinandersetzung um das Vakuum führten. Die Wirkung der pneumatischen Apparaturen erklärte man mit dem Bestreben der Natur, diesen künstlich (gewaltsam) erzeugten, widernatürlichen Zustand - daher der "horror vacui" - wieder auszugleichen.

 

 

Teil III: Die Voraussetzungen der antiken Wissenschaft

 

Das geschlossene Weltbild

 

Das führt uns mitten in die Hauptproblematik der antiken Wissenschaft. Fritz Krafft hat deren Voraussetzungen, Fragestellungen und Methoden eindringlich beschrieben. Zu den Voraussetzungen gehören:

1. die Fähigkeit zur Abstraktion, d. h. mehrere Dinge oder Vorgänge nach den ihnen gemeinsamen Merkmalen zu betrachten;

2. das Vorhandensein eines auf Erfahrung, beruhenden und deshalb reproduzierbaren Wissens, wie das für die Astronomie und Mathematik Babylonier wie Ägypter in umfangreichen Beobachtungsdaten und Rechenregeln vorgelegt hatten;

3. die Auffassung der Welt als einer Einheit (Kosmos), die von der Erkenntnis, dass andere Völker von denselben Göttern regiert werden (nur unter anderen Namen), zur Vorstellung - eine weitere Abstraktion - führte, ein einziger Gott sei alle Dinge oder wirke in allen Dingen.
Und nun kann der Geist des Menschen als Abbild oder Teilhaber des göttlichen (reinen) Geistes dessen Wirkungen in der Natur erkennen - da Gleiches Gleiches erkennt. Diese rationale Gottesvorstellung gewährleistet auch den Glauben an die Einfachheit der Natur - Gott tut nichts Überflüssiges - sowie an die örtlich und zeitlich unbegrenzte Geltung des an ihr Erkannten, den "Gesetzen" oder "Prinzipien".

 

So war die griechische Naturphilosophie hauptsächlich auf den Kosmos als Ganzen gerichtet und entfaltete sich in der Kosmogonie und der Beschäftigung mit den himmlischen Dingen. Von der Frage nach dem Anfang (Chaos) führt der Weg über das Werden und die Veränderung zur (vom Geist Zeus' nach einem bestimmten Plan, einer ewigen Idee) geordneten Fülle der Erscheinungen, eben dem Kosmos als Wohlordnung.

 

Nur im Rahmen eines solchen geschlossenen und umfassenden Weltbildes ist dann die Heraushebung einzelner Aspekte, d. h. die Aufgliederung in Einzelbereiche möglich (vgl. oben bei Aristoteles), wobei dem Reich des Ewigen, Himmlischen das hierarchisch geschichtete Reich des Sublunaren, das des Vergänglichen, Irdischen, sinnlich Wahrnehmbaren entgegenstand, welch letzteres in verschiedenen Graden an ersterem teilhat.

 

Die Analogie

 

So wurde gegen Ende des 5. Jahrhunderts v. Chr. die empirische Betrachtung auch des "Niedrigeren" möglich, worin die Medizin voranging. Und zwar bediente sie sich hauptsächlich der Analogie: physiologische Vorgänge in Pflanzen und Tieren wurden zur Verdeutlichung und Erklärung solcher im Menschen herangezogen. Naturwissenschaftliche "Experimente" dienten also gerade nicht der Beobachtung und Deutung eines Befundes, sondern der Veranschaulichung eines analog dem wohl zufällig Beobachteten gedeuteten nicht sichtbaren Vorgangs meist im menschlichen Körper. Deshalb müssen diese verdeutlichenden Hilfsmittel - wie etwa die Klepsydra - allgemein bekannt sein.

Diese "Wie wenn"-Demonstrationen zeigen aber nicht den Ablauf eines Vorgangs, sondern nur den Anfangs- oder Endpunkt. Das entspricht der griechischen Auffassung, erkennbar sei eigentlich nur das Seiende, Unveränderliche, weshalb sich sogar die Mechanik auf die Statik (den Endzustand) konzentrierte. Die Auflösung der Bewegung in statische Quanten widerspricht dem antiken Bewegungsbegriff als nur qualitativ fassbare Zustandsänderung.

 

Nach der platonischen Auffassung ist die erkennbare "Natur" im strengen Sinne nur ein intelligibler Bereich, für den keine Verifizierung an den Phänomenen möglich ist; es bleibt bei deduktiv-spekulativen Ableitungen.

Für Aristoteles jedoch ist eine Verifizierung an der Erfahrung möglich. Wenn er aber trotz der Praktizierung der Beobachtung (v. a. in der Biologie) und der induktiven Methode zu unrichtigen Ergebnissen gelangte, so liegt das einerseits daran, dass er noch für viele Gebiete eine grosse Tradition "synthetisch" verarbeitete, anderseits eine Scheu vor dem "künstlichen" Eingriff in natürliche Vorgänge zeigte, da Naturwissenschaft das natürliche Verhalten der Dinge und das darin zum Ausdruck kommende Göttliche erkennen will.

 

Der Eingriff als blosse Techne reisst das Ding aus seiner natürlichen Umgebung (dem Kosmos) und isoliert einzelne idealisierte Eigenschaften. Umgekehrt ist Mathematik ein reines Gedankengebäude, bildet einen eigenen Seinsbereich, und mathematische Prinzipien können deshalb nicht zur Erklärung oder Begründung sinnlich wahrnehmbarer Vorgänge und Dinge herbeigezogen werden, höchstens als approximatives Hilfsmittel der Beschreibung (Hypothesen).

Exakte mathematische Naturwissenschaft ist nur als Beschreibung eines ideellen Bereichs möglich. Soweit die griechische Wissenschaft Phänomene erklärt, bleibt sie also bewusst qualitativ.

 

Obwohl zumindest eine Richtung der Hippokratischen Medizin streng induktiv, also von genauen Einzelbeobachtungen am Einzelbett ausging - im Unterschied zur Anwendung starrer Schemata -, erwiesen sich doch zahlreiche Übertragungen z. B. der Tieranatomie auf den Menschen als dem Fortschritt ungemein hinderlich, indem sie zu ebenso lange wie zäh tradierten Irrlehren führten (z. B. Uterus). Dazu verhalfen auch voreilige Induktionsschlüsse, die Analogien zum Beweis, statt zur blossen Deutung heranzogen.

 

Erst Herophilos von Chalkedon (um 300 v. Chr.) hat die "Epoche" (das Ansichhalten in unklaren Fragen) zur Richtschnur gemacht und den Grundsatz aufgestellt: "Die Phänomene sollen als das Erste, Vordringlichste beschrieben werden, selbst wenn sie nicht das Erste sind."

 

Doch hielt sich das Analogieverfahren auch bei den nachfolgenden "Empirikern" neben der eigenen Beobachtung und der Benutzung fremder Beobachtungen (historia). Immerhin bietet das Erfassen analoger Funktionen (resp. Leistungen) in der Biologie (z. B. von Vogelfedern und Fischschuppen resp. Flügeln und Flossen) Ansatzpunkte zu einer vergleichenden Morphologie und Klassifikation.

Wichtig ist seit Aristoteles für die Analogie aber stets, dass sie sich auf den Bereich (resp. Stufe) einer bestimmten "Lebensform" beschränken muss (obwohl er selbst auch den Nagel mit dem Huf, die Hand mit der Schere verglichen hat).

 

Das war aber nicht immer so gesehen worden, sondern es ist der Endpunkt einer langen Entwicklung, die bei den Homerischen Gleichnissen einsetzt und meist die verschiedensten Bereiche zusammenbringt.

So ruht etwa bei Thales die Erde auf dem Urwasser wie ein Schiff auf dem Meer. In der Sokratik wird das kosmische Handeln der Gottheit mit der Techne eines Handwerker (Demiurg) verglichen: Beide formen ihren Stoff hinblickend auf ein unvergängliches Urbild. Aristoteles setzt an die Stelle des göttlichen Welthandwerkers das Wirken der Natur, das dem zielgerichteten methodischen Vorgehen handwerklicher Arbeit entspricht - daher die Teleologie.

 

Die, wie man gerne sagt, "strukturelle Parallelisierung grosser Seinsbereiche" geht auf Heraklit (Kosmos - Staat) und Demokrit (Kosmos - Mensch) zurück und findet ihre eindrücklichste Darstellung in den Platonischen Dreiergruppen:

 

  • Begierde - Mut - Vernunft (für die Seele),
  • Leber - Herz - Kopf (für den Körper),
  • Lebensfürsorge - bewaffneter Schutz - Regierung (als die Aufgaben der drei Stände im Staat),
  • Bauern - Krieger - Staatslenker resp. Philosophen (als die drei Menschentypen) und
  • Selbstzucht - Tapferkeit - Einsicht (als die ihnen zukommenden Tugenden).

 

Auf diesem Hintergrund können wir nun versuchen, die verschiedenen Methoden, welche die alten Griechen verwendet haben, zusammenzustellen:

 

 

Teil IV: Die wissenschaftlichen Methoden der Alten Griechen

 

Methode 1. Beobachtung und Beschreibung

 

Die sorgfältige Sammlung astronomischer Beobachtungsdaten der Ägypter und vor allem Babylonier haben die Griechen kaum weitergeführt, ihre Stärke lag hier in der "Spekulation", insbesondere einer geometrischen Auffassung der Himmelsbewegungen (Kugel, Kreis, Proportionen). Hier sind hauptsächlich die Pythagoräer, die recht guten Beobachter Anaxagoras (5. Jh.) und Eudoxos (4. Jh.) sowie Aristarch (3. Jh. - heliozentrische Theorie) und der ungemein geduldige Beobachter Hipparch (2. Jh. - Sternkatalog, Präzession) zu nennen.

 

Die ernsthaften Beobachtungen in der Zoologie setzen mit Aristoteles ein (die wichtigen Bücher von Demokrit sind verloren). So erforschte er etwa bei einem Aufenthalt auf Lesbos die Pflanzen- und Tierwelt, vor allem auch des Meeres. Besondere Beachtung fanden seine Studien über die Aitiologie der Körperteile, Fortpflanzung und Embryonalentwicklung. An 48 Tieren soll er Sektionen durchgeführt haben.

Trotz seiner Behauptung, die Beobachtung müsse der Theorie vorausgehen, ist es aber gut möglich, dass er selbst umgekehrt vorgegangen ist: Seine aitiologischen Bücher könnten vor den beschreibenden geschrieben sein.

Interessant sind jedenfalls Ansätze zur Tierpsychologie und zu den Lebensbedingungen (Umwelt, Lebensformen- und weisen). Hauptziel der zoologischen Untersuchungen war allerdings weniger die Beschreibung als die Feststellung von Unterschieden und Ähnlichkeiten der Arten.

 

Seines Schülers Theophrasts Charakterschilderungen haben bis heute ihren Reiz bewahrt. Seine Pflanzenkunde registriert auch die geographische Verbreitung, Umwelteinflüsse sowie die medizinische Verwendung. Der neuen Praxis zufolge benutzte er dafür auch die Werke von Vorgängern und Zeitgenossen, vorab für Wurzeln, Feldfrüchte und Arzneipflanzen.

 

Die ersten Tier-Sektionen soll bereits der pythagoräische Arzt Alkmeon von Kroton vorgenommen haben, wobei er zu zahlreichen richtigen Erkenntnissen über das Gehirn gelangte. Sektionen am Menschen dagegen blieben stets Ausnahmen (Herophilos, um 300 v. Chr., Erasistratos, 3. Jh. v. Chr.), obwohl sie zu beachtlichen Erkenntnissen in der deskriptiven (morphologischen) Anatomie und Physiologie führten.

 

Kennzeichnend für die antike Medizin blieb so stets die Verknüpfung von philosophischer Spekulation (Säfte- und Pneumalehre), religiöser Magie und Empirie, die teils induktiv, teils deduktiv vorging - Anlass zu mannigfachen Schulbildungen und -streitigkeiten. Von Hippokrates (um 400 v. Chr.) ist wenig Gesichertes bekannt, und sein Name wurde von den verschiedensten Nachfolgern missbraucht. Immerhin kann man als speziell hippokratisch

  • die Betonung klimatischer Faktoren,
  • von Epidemien,
  • der Prognostik (Beobachtung aller Anzeichen, Schlüsse über den Verlauf und das Auftreten einer Krankheit - was auch vorbeugende Massnahmen, "Diätetik", erlaubt) und
  • die Berücksichtigung des jeweiligen Einzelfalles in allen seinen Besonderheiten (unter möglichster Vermeidung von Verallgemeinerungen) bezeichnen.
  • Wichtig ist ferner die genaue Aufzeichnung der Krankengeschichte.

 

Selbstverständlich erforderte die Wund- und Unfallchirurgie (die bis auf die alten Ägypter zurückgeht) sowohl scharfe Beobachtungsgabe als auch Handgeschick. Umgekehrt dürften auch bei der (bis auf Mesopotamien zurückgehenden) medikamentösen Therapie durch "Volksheilmittel", Wurzeln und Kräuter, Beobachtungen eine wichtige Rolle gespielt haben. Freilich war die Magie nie weit.

 

Ähnliches dürfte für die Landwirtschaft gelten, insbesondere was den "richtigen Zeitpunkt" für bestimmte Arbeiten betraf (z. B. Mondkalender). Beobachtungen an kranken Tieren führten dann zur Veterinärmedizin, die Suche und Bearbeitung von Heilkräutern (Rhizotomen = Wurzelschneider) zur Pharmakologie und zusammen mit Beobachtungen über giftige Tiere (samt Gegengiften) zur Toxikologie. Neben dieser unverkennbaren Nähe zur Medizin bestanden selbstverständlich ebenso enge Beziehungen zur Biologie und Ökonomie.

Bienenkundler werden schon von Platon erwähnt. Schriften über Ackerbau und Obstzucht von Aristoteles (Pol. I, 11), eine Autorität für Baumzucht von Theophrast. Xenophon (4. Jh. v. Chr.), der selbst 20 Jahre ein Landgut bei Olympia bewirtschaftete, schrieb das erste erhaltene Buch über die Verwaltung und Mehrung des Besitzes ("Oikonomikos").

Das umfangreichste landwirtschaftliche Lehrbuch des Altertums stammt vom Karthager Mago (2. Jh. v. Chr.). Es wurde ins Lateinische und Griechische übersetzt und war von nachhaltigem Einfluss auf die ungemein zahlreichen römischen Schriftsteller, die sich mit Landwirtschaft befassten:

  • Varro: Rerum rusticarum libri, 37 v. Chr.;
  • Vergil: Georgica, 29 v. Chr.;
  • Columella: De re rustica, 64 n. Chr.).
  • Cato ("De agricultura", ca. 160 v. Chr.) und
  • die Sasernae (Ende 2. Jh. v. Chr.) gaben bereits Kochrezepte.
  • Unter dem Namen Apicius Caelius wurde sogar im 3. oder 4. Jahrhundert n. Chr. ein zehnbändiges Kochbuch ("De re coquinaria") kompiliert.

 

Methode 2. Sammlung und Organisation des Wissens

 

Nicht zu verachten in jeglichem Wissenschaftsbetrieb ist die Tradition. Mit der Darstellung der Abfolge der Göttergenerationen und Schöpfungsmythen machte Hesiod um 700 v. Chr. in seiner "Theogonie" den Anfang, und im praktischen Teil der "Erga" legte er in Einzelanweisungen dar, wie man arbeiten und gerecht leben soll. (Seine landwirtschaftlichen Ratschläge stammen dabei aus eigener Erfahrung.)

 

Der erste systematische Sammler war wiederum Aristoteles, der nicht nur die Theorien der Vorsokratiker, sondern z. B. auch 158 Staatsverfassungen zusammentrug. Deutlich zeigt sich jedoch bei ihm die Zweischneidigkeit der Verwendung älteren Wissens und früherer Vorstellungen: einerseits erlaubten sie eine Profilierung seiner eigenen Ansicht, anderseits beeinflussen sie, grösstenteils unbewusst, eben doch noch sein eigenes Denken.

 

Aristoteles verfügte über die erste umfangreiche Privatbibliothek, von der wir wissen. Doch sammelte er nicht nur Bücher, sondern auch Lehr- und Anschauungsmaterial. Einerseits unterstützte ihn hierin Alexander, indem dieser die Gärtner, Viehzüchter, Jäger und Fischer in allen Gegenden seines Reiches anwies, von sämtlichen vorkommenden Pflanzen und Tieren ein Exemplar an Aristoteles zu senden, anderseits organisierte er selber im "Lykeion" einen eigentlichen Lehr- und Forschungsbetrieb, wobei er viele Aufgaben zur Behandlung seinen Schülern zuwies und sie zu Forschungsreisen, Erkundigungen und Exzerpierung von Fachliteratur veranlasste.

 

Noch systematischer im Sammeln, vor allem was die Geschichte der Naturphilosophie betrifft, war sein Nachfolger Theophrast, der auch in vielen Schriften sehr sorgfältig die Schwierigkeiten und ungelösten Fragen in den Werken seines Meisters herausarbeitete und zahlreiche Ergänzungen beisteuerte.

 

Noch mehr als die Naturwissenschaft beruht freilich die Geschichtsschreibung auf der Sammlung. Wie umstritten Leben, Person und Werk von Homer (8. Jh.) auch sein mögen, die historische und dichterische Leistung verdient auch heute noch grösste Bewunderung, sowohl was die Schilderung der frühgriechischen Zivilisation (und Götterwelt) als auch die virtuose Beherrschung der epischen Techniken betrifft (Gleichnisse; Verknüpfung einzelner Episoden; Einschub von Episoden zur Exposition, zur exemplarischen Darstellung und zum Kontrast).

Viel mehr als die Homerischen Werke spiegeln freilich die "Erga" von Hesiod das harte Alltagsleben, die materiellen Sorgen des kleinen Bauern und Händlers. Sie sind ebenso wertvoll wie die genealogischen Sammlungen der Götter in der "Theogonie" und den "Katalogen" (Ehoien).

 

Als "Vater der Geschichtsschreibung" tritt im 5. Jahrhundert Herodot auf. Sein Wunsch, zu sehen (Theorie) und zu erkunden (Historie) führte ihn nach Skythenland, Ägyptern (Assuan) und Babylon. Nach längerem Wirken in Athen siedelte er nach Unteritalien über. Sein Werk nannte er "Darlegung der Forschung" (histories apodeixis).

Da sein Ziel war, die grossen Leistungen von Griechen wie "Barbaren" vor der Vergessenheit zu bewahren und die Ursache ihrer Kriege zu ergründen, beschränkte er sich auf die noch fassbare Vergangenheit, dafür weitete er seine Darstellung auf den ganzen damals erkundbaren Kulturraum aus und brachte ein reichhaltiges geographisches wie ethnographisches Material zu Tage. Konnte er sich hiefür vor allem auf die Werke von Hekataios von Milet (6. Jh.) stützen - die zweibändige "Erdbeschreibung" von "Europa" und "Asien" (sowie Ägypten und Libyen) sowie die "Genealogien", die ihrerseits bereits auf ausgedehnten Reisen sowie älteren Quellen (sog. Periploi, Küstenbeschreibungen - bis nach Britannien und zur Westküste Afrikas!) beruhten -, so war er für die historischen Partien seines streng komponierten Werks auf mündliche Überlieferungen und die Befragung von Gewährsleuten angewiesen, wobei durchaus entgegengesetzte Standpunkte zur Darstellung kommen - gemäss dem Leitprinzip: "Zu berichten, was berichtet wird" (legein ta legomena).

 

Stand bei Herodot "das Menschliche" (ta anthropeia) bei den Griechen wie ihren Gegnern im Mittelpunkt, das was der einzelne erlebt und erleidet, seine Tapferkeit wie Unzulänglichkeit, so treten bei Thukydides die politischen und militärischen Notwendigkeiten, die Gesetze der Macht viel stärker hervor.

Sein Ziel ist, hinter den vordergründigen Anschuldigungen und Differenzen - im Peloponnesischen Krieg - die tieferen Ursachen aufzudecken, die politischen Kräfte erkennbar und die historischen Abläufe verstehbar zu machen. Als Begründer der strengen Historiographie legt er so das Schwergewicht auf

  • Genauigkeit (akribeia),
  • Beschränkung auf das Wesentliche - also keine Ausschmückung durch Anekdotisches, Mythisches und Kulturgeschichtliches -,
  • Chronologie und
  • kritische Beurteilung von mündlichen Zeugnissen.

Das bedingt also eine Konzentration auf die selbst erlebte Gegenwart, auf "tatsächliche Gegebenheiten". Als "letzte Ursachen" werden menschliche Antriebe und Qualitäten herausgearbeitet, die in typische Konstellationen und Handlungen münden, ohne dass daraus aber Gesetze abzuleiten wären: Die Verflechtung von Unberechenbarkeit, Spontaneität und Zwang erlaubt nur die Feststellung von Wahrscheinlichkeiten.

 

Thukydides' Werk wurde vom Sokratesschüler Xenophon fortgesetzt, dessen Augenzeugenberichte ("Anabasis", um 400 v. Chr.; "Hellenika") durch ihre Farbigkeit von grosser Anschaulichkeit sind. Allerdings legt er keinen Wert auf grössere Zusammenhänge und Ursachenforschung. In andern Schriften - z. B. über Sokrates und Kyros - verliess er den historischen Boden und gelangte zu charakterlichen und politischen Idealisierungen.

 

Bemerkenswert ist, dass bereits in der 2. Hälfte des 4. Jahrhunderts eine historische Aufarbeitung von wissenschaftlichen Disziplinen einsetzte. Neben Aristoteles und Theophrast wären etwa für die Geometrie Xenokrates, für die Medizin Menon, und für Geometrie, Arithmetik und Astronomie Eudemos zu nennen.

 

Das um 300 v. Chr. von Ptolemaios I. gegründete Museion in Alexandria war dann zugleich Bibliothek und Forschungsstätte. Weniger der Lehre als der Sammlung und Aufarbeitung des griechischen klassischen Erbes verpflichtet, konnten sich hier Gelehrte "aus aller Welt" ihren wissenschaftlichen Neigungen widmen.

 

Mit der Bibliothek von Pergamon (ca. 230 v. Chr. gegründet) wetteiferte Alexandria im Sammeln von Buch-Abschriften und Originalhandschriften, wobei freilich Alexandria obenaufschwang.

Die rasch sichtbare Fülle des Materials führte dazu, dass sich die Wissenschaft von nun an in einzelne Fachgebiete aufspaltete und von Forschern, die sich als Wissenschafter, nicht Philosophen verstanden, betrieben wurde. Einerseits verlagerte sich so das Interesse einerseits von der Synthese als Zusammenschau auf die Analyse, auf die analytische Untersuchung einzelner Erscheinungen und Seinsbereiche, anderseits von der theoretischen Betrachtung auf die Fragen sowohl der Methodik als auch der praktischen Anwendung.

 

Der erste Leiter des Museions war Zenodot, wie viele spätere ein Grieche. Er begründete die philologische Methode (Die Grammatik geht bis auf den Sophisten Protagoras (5. Jh.) zurück). Sein Nachfolger Apollonios "von Rhodos" wandte sich gegen seine Homererklärung und wurde vor allem durch seine Dichtung "Argonautika" berühmt. Der nächste Leiter des Museion war Eratosthenes, der sich als wohl vielseitigster Gelehrter des Hellenismus um die Geographie wie Historie ("Chronographie"), um Mathematik wie Philologie und Ethik verdient gemacht hat.

 

Diese trotz aller Fachgelehrsamkeit doch jedes Spezialistentum übergreifende Tätigkeit der alexandrinischen Forscher zeigt sich auch bei ihren Nachfolgern. Hatte sich der Mathematiker Euklid schon um 300 v. Chr. mit astronomischen und optischen Problemen befasst gehabt, so war das dann auch bei Archimedes und Apollonios von Perge, erst recht aber bei Aristarch von Samos und Hipparch der Fall. Ebenso eng war die Verbindung von Philologie und Grammatik mit der Historie (Zenodot) und Geographie (Kallimachos, Apollonios von Rhodos, Eratosthenes und Rhianos von Kreta).

Erst Aristophanes von Byzanz und sein Schüler Aristarch von Samothrake, beides ebenfalls Leiter des Museion, beschränkten sich mehr auf die Grammatik. Ihre Editionen und Kommentare der Klassikertexte sind bis heute von grösster Bedeutung.

 

Von Kallimachos stammen neben zahlreichen Dichtungen der Bibliothekskatalog "Verzeichnisse (pinakes) derer, die in allen Gebieten der Bildung hervorgetreten sind, und dessen, was sie geschrieben haben" sowie das erste Sachlexikon "Ethnische Benennungen". Aristophanes verfasste das erste Wörterbuch ("Lexeis").

 

Der dritte Schwerpunkt lag auf der Medizin, wo neben Anatomie (Praxagoras von Kos, Herophilos, Eudemos) und Physiologie (Erasistratos) auch Pharmakologie (Philinos von Kos, Serapion) und Toxikologie (Apollodoros) begründet wurden.

 

Selbstverständlich übernahmen die Römer sowohl das hellenistische wie klassische griechische Erbe, taten sich jedoch weniger als Neuerer hervor, denn als ungemein fleissige Sammler, Eklektiker, Synthetiker und Systematiker, wobei die pädagogische Absicht nicht gering zu veranschlagen ist.

Ihre eigenständigsten Leistungen bestehen in der Landwirtschaft (siehe Cato, Varro), Feldmess- und Ingenieurkunst (siehe Vitruv und Frontinus), in der wissenschaftlichen Bearbeitung des Rechts (seit Antistius Labeo) und der Geschichtsschreibung (initiiert von Fabius Pictor, dem Griechen Polybios, 2. Jh. v. Chr., der u. a. methodologische Fragen eingehend erörterte, und dem etwas älteren Tusculaner Cato).

 

Interessant ist eine Hochblüte zahlreicher Wissenschaften im 2. Jahrhundert n. Chr.: Es entstanden Tacitus' "Historien" und "Annalen", Suetons Biographien, Appians "Römische Geschichte", des Juristen Gaius "Institutionen" und Papinianus' "Quaestiones", des Arztes Soranos' "Gynäkologie", Rufus' "Vademecum" und das Riesenwerk von Galen sowie der "Almagest" (ursprünglich "Megiste Syntaxis"), die "Optik" und die Weltkarten des Astronomen Ptolemaios - und, nicht zu vergessen, die Satiren von Juvenal und Lukian.

Ein Jahrhundert früher hatte Plinius der Ältere in 37 Büchern eine geradezu enzyklopädische Naturkunde ("Naturalis historia") zusammengestellt, die bis ins 19. Jahrhundert in den höheren Schulen verwendet wurde - so lange also wie Galens Werke in der ärztlichen Ausbildung!

 

Methode 3. Klassifikation

 

Eng verbunden mit dem Sammeln ist das Klassifizieren, wozu vor allem Abstraktion und Analogie vonnöten sind. Auch hierin ist Aristoteles - nach Anregungen von Platon ("Dihärese") und dessen Neffen Speusipp - vorangegangen. Seiner Tiersystematik schloss Theophrast die Pflanzensystematik an.

 

Interessant ist auch die "scala naturae", der Schichtungsgedanke, der durch den Anteil an "Lebenswärme" bestimmt ist: Die niedrigen Gattungen sind wesenhaft "unvollkommen" - obwohl im Prinzip jede Pflanze und jedes Tier von Natur aus zur Vollkommenheit in seiner spezifischen Form und Funktion und zur Fortpflanzung seiner eigenen Gattung heranwächst.

 

Methode 4. Experiment und Empirie

 

Die einzigen ernsthaften echten Experimente wurden merkwürdigerweise im Geschützbau unternommen. Von Dionysius wird berichtet, dass er um 400 v. Chr. von weitherum die besten Ingenieure (auch Pythagoräer) nach Syrakus berufen habe, um von ihnen wirksame Waffen zur Abwehr der Karthager konstruieren zu lassen. Diese Maschinen wurden auch später nach aufwendigen Experimenten weiter verbessert. Kennzeichnend hiefür wird wohl das Versuch- und Irrtum-Verfahren gewesen sein.

 

Ähnlich wird es in der Chemie gewesen sein. Als vorwiegend chemische Technik beruhte sie auf der Auswertung von empirisch, d. h. durch Zufall oder Probieren, gewonnenen Kenntnissen chemischer Reaktionen, meist unabhängig und unbeeinflusst von gleichzeitig vorhandenen Theorien wie etwa der "Elementenlehre" (Platon: "Timaios"; Aristoteles: "Meteorologie", Theophrast: "Über die Steine"). Geheimhaltung der Rezepte wurde schon damals gross geschrieben.

 

Das Schwergewicht der analytischen Bestimmungsmethoden lag auf der Unterscheidung von wertvollen Stoffen (Gold, Silber, Edelsteine, Farbstoffe) von ihren Fälschungen, wobei sich gerade für letztere eine reichhaltige Technik herausbildete. Dabei wurde die Substanz, die andere Metalle golden oder silbern färbt, "maza" (lat. massa) genannt; sie wurde in der im 2. oder 3. Jahrhundert n. Chr. entstandenen Alchemie zentral, und zwar als "Stein der Weisen", der die Transmutation bewirkt.

Da die Suche nach diesem "Stein der Weisen" vor keinem natürlichen Stoff halt machte, gelang den Alchemisten - als erster fassbar: Zosimos von Panopolis, 4. Jahrhundert n. Chr., Verfasser einer 28bändigen "Chemeutika" - manche Entdeckung.

 

Die wichtigsten Verfahren wie Erhitzen (Verhütten, Gilben), Mischen (Legieren) und Destillieren wurden im Laufe der Zeit ständig verbessert.

 

Von Bedeutung waren die Mineralien schon recht früh in der Pharmakologie und Toxikologie (Nikandros von Kolophon, 2. Jh. v. Chr.; Dioskurides und Plinius, 1. Jh. n. Chr.).

 

Sowohl Mechanik - neben dem Geschützbau auch Hebemechanismen, pneumatische und "automatische" Apparaturen - wie Chemie zeigen deutlich die Einschätzung der Empirie bei den alten Griechen. "Empeiria" bedeutet eine durch den Gebrauch oder unmittelbaren Umgang mit dem Gegenstand erworbene "gewöhnliche" Kenntnis der Tatsachen, die nach Platon im Unterschied zur Techne und Phronesis kein Wissen um deren Gründe und Ursachen beinhaltet.

 

Aristoteles nennt am Anfang seiner Metaphysik als Voraussetzungen der Erfahrung Sinneswahrnehmung und Erinnerung (Gedächtnis). "Wissenschaft aber und Kunst gehen für die Menschen aus der Erfahrung hervor."

 

Dabei sind mehrere Stufen zu unterscheiden:

 

1.     Die Sinneswahrnehmungen "geben die bestimmteste Erkenntnis des Einzelnen".

2.     "Die Vielheit der Erinnerungen an denselben Gegenstand erlangt die Bedeutung einer einzigen Erfahrung." Die Erfahrung betrifft also je einzelne Fälle.

3. a. "Die Kunst entsteht dann, wenn sich aus vielen durch die Erfahrung gegebenen Gedanken (Beobachtungen) eine allgemeine Annahme (Urteil) über das Ähnliche (Gleichartige) bildet." Die Kunst ist also die Erkenntnis des Allgemeinen. (So nimmt etwa die ärztliche Kunst an, ein Heilmittel helfe nicht nur diesem und jenem - was die Erfahrung zeigt - sondern allen, die an einer genau definierten Krankheit leiden.)

3. b. In der Praxis kann nun der Erfahrene oft besser das Richtige treffen als derjenige, der ohne Erfahrung nur den Begriff (logos) besitzt, d. h. das Allgemeine weiss, das darin enthaltene Einzelne aber nicht kennt. Umgekehrt gilt aber der Künstler für weiser, weil wissender, als der Erfahrene, weil letzterer nur das Dass, nicht aber das Warum und die Ursache kennt.
Wir haben hier also gegenüber früher im Bereich der Techne noch eine Unterteilung in "nur" Erfahrene - Handwerker - und "leitende" Künstler. Während die Handwerker nur durch Gewöhnung (éthos) etwas hervorbringen, sind die leitenden Künstler im Besitz des Begriffs und kennen die Ursachen. Darüberhinaus können sie ihren Gegenstand lehren.

4. a. Als nun im Verlaufe der Geschichte - Aristoteles operiert hier also historisch - die verschiedenen Künste sowohl die Bereiche des Notwendigen (der Bedürfnisse) als auch die des Vergnügens (Genusses) abgedeckt hatten, da wurden die Wissenschaften gefunden, die sich auf keinen der beiden Bereiche bezogen.
Und dafür brauchte es einerseits Musse, anderseits die in der "Nikomachischen Ethik" beschriebene Verbindung von intuitiver Einsicht (nous, welcher die obersten, sicheren Ausgangssätze liefert) und diskursiver Erkenntnis (episteme als Ableitung in zwingenden Schlussverfahren - näheres siehe früher und weiter hinten).

4. b. Wie die Kunst bezüglich Weisheit über der Erfahrung steht, so stehen dann auch die theoretischen (betrachtenden) Wissenschaften über den poietischen. Die höchste Wissenschaft aber ist als Weisheit (sophia) die Kenntnis der ersten Ursachen (Gründe) und Prinzipien, des Allgemeinsten.
In einem Satz: Das für uns Erste ist das Einzelne, an dem alles Handeln und Geschehen vor sich geht, das an sich (d. h. von der Seite der Natur aus) Erste ist das Allgemeine und das Prinzip; es ist "der Natur nach" deutlicher und kenntlicher (Phys. 1, 1).

 

Wenig mit dieser Auffassung von Empirie hat die Ärzteschule der "Empiriker" zu tun. Ihr Begründer, Philinos von Kos, wandte sich sogar gegen seinen Lehrmeister Herophilos, der doch immerhin als Pionier des medizinischen Empirismus gelten darf. Wie sein Nachfolger Serapion schätzte er die Anatomie gering ein und bevorzugte Pharmakologie und Hippokrates-Exegese.

Ganz ähnlich haben auch die "Methodiker" weniger Methodenfragen behandelt als sich einer starr systematisierten Lehre bedient. Diese Kommunitätenlehre wurde vor allem von Themison (z. Zt. des Augustus) und Thessalos (z. Zt. Neros) verfochten und beruht auf den drei status: strictus, laxus, medius. Diese sollen am Kranken selbst evident werden und allem zugrundeliegen.

Ganz auf die praktische Anwendung gerichtet, lehren sie ebenfalls Anatomie und Physiologie ab!

 

Methode 5. Darstellung

 

Im Unterschied zur allein exakt - durch Mathematik oder Metaphysik - fassbaren intelligiblen oder Ideenwelt, die, wie im Falle der himmlischen Dinge, in der Astronomie in ihrer Entstehung (Anaxagoras) sowie den Bewegungen und Positionen "erklärt" werden konnte, gab es für die veränderlichen Dinge der sublunaren Welt nur "plausible Darstellungen" (eikos logos).

 

Wahrscheinlichkeiten

 

Der Begriff "Eikos" stammt aus der Rhetorik und bestimmt das psychologische Moment der "Wahrscheinlichkeit" in der rhetorischen Beweisführung.

Als einer der ersten verwendete der athenische Redner Antiphon dieses Verfahren z. B. in Mordprozessen, indem er dem äusseren Beweismaterial die Darlegung der inneren Wahrscheinlichkeit der Tatzusammenhänge - eben ta eiko ta - entgegenstellte.

In der Geschichtsschreibung hat solche Wahrscheinlichkeiten Thukydides herausgearbeitet.

 

Wie kann man Mannigfaltigkeit und Bewegung fassen?

 

Es sind drei Probleme, welche die wissenschaftliche Erfassung der "Wirklichkeit" so schwierig machen:

  • die Vielheit, Mannigfaltigkeit und Veränderlichkeit der Dinge;
  • die Kompliziertheit der Vorgänge, Entwicklungen und menschlichen Handlungen;
  • die Verborgenheit der Ursachen, Prinzipien und Motive.

 

Am schärfsten legte sich wohl schon den Vorsokratikern das Werden und die Bewegung einer rationalen Fassbarkeit der Welt in die Quere. Lange Zeit fiel es ihnen schwer, überhaupt das "Zeugnis der Sinne" zu akzeptieren.

Heraklit meinte etwa, es könne gar keine Wissenschaft vom sinnlich Wahrnehmbaren geben, da dies sich in beständigem Fluss befinde. Stets versuchte man deshalb, den Wandel auf Statik zu reduzieren und zusammen mit der Vielheit und Verschiedenheit auf ein Prinzip der Einheit und Unveränderlichkeit zurückzuführen, sei das nun Logos (Heraklit), Sein (Parmenides) oder Nous (Anaxagoras).

 

Zwar verlegte die Zeit des Sokrates das Erkenntnisinteresse vom Weltganzen auf den Menschen, doch blieb der Wunsch, das hinter der Mannigfaltigkeit der Dinge und dem Wechsel der Erscheinungen stehende Gemeinsame oder Allgemeine zu finden.

 

So wurden bei Platon die Ideen zugleich zur wirklichen Ursache des unveränderlichen "Wesens" der Dinge wie zur festen Grundlage der Erkenntnis. Man muss den Gegenstand "an sich" zu betrachten suchen und von den Varianten, welche die sinnliche Wahrnehmung bietet, absehen. Was z. B. alle schönen Dinge schön macht, ist das Schöne; es ist die wirkliche Ursache ihrer Schönheit. Die Dinge haben daran in höherem oder geringerem Masse teil (methexis); sie sind körperliche und zeitliche Abbilder, unvollständige Nachahmungen urbildlicher Werte und Dinge.

An den konkreten Dingen muss man als das wahre Wesen, ihr wirkliches Sein erkennen, und das ist nur durch das Denken möglich.

 

Die Suche nach den Ursachen

 

Bei Aristoteles übernimmt die geistige Betrachtung (theoria) diese Aufgabe. Auch er hat noch die Bewegungen gewissermassen eingefroren: Es sind nur Aktualisierungen der Potenz: Das Werden ist nicht mehr wie bei Platon ein unabsehbarer und urbegreifbarer Strom, sondern das jeweils Zur-Verwirklichung-Gelangen dessen, was schon die Möglichkeit dazu besass. Dafür muss die Formursache von Platon (das eine, ewige, unwandelbare Gute) durch die Zweckursache ergänzt werden, und hiefür braucht es einen "ersten unkörperlichen und unbeweglichen Beweger". Er ist ewige Ursache der Bewegung, reine Wirkung und reine aktuelle Substanz. Als solche steht er über, ja jenseits des Reichs der ewigen Himmelsdinge und des Reichs der Natur und Geschichte. Deshalb ist die höchste Wissenschaft, die erste Philosophie Theologie, und der ihr zugeordnete vollkommenste Wert ist die Eudaimonia, die vollkommenste Lebensform der bios theoretikos.

 

Befasst sich die Metaphysik demnach stets mit dem Höchsten und Vollkommensten, so die übrige Wissenschaft mit den beiden unteren Reichen, wobei sie nach Ursache und Wirkung, Zweck und Mittel sowie Stoff und Form fragt.

Doch sind die ersten Ursachen nicht aufzufinden; das bleibt der Metaphysik vorbehalten. Dem absoluten Wissen (von der Idee oder den Wesen) als Leistung des reinen Denkens steht die wandelbare Meinung entgegen. (Daher bedeutet "Pistis" nicht nur Glaube oder Überzeugung, sondern auch das Mittel der Überzeugung, den Beweis.)

Also bewegen sich alle Wissenschaften ausser der ersten im Bereich des Vorläufigen, Unvollkommenen, Unbeständigen, der nur eine plausible Darstellung erlaubt. Sogenannte "Experimente" dienen nicht dazu, näheren Aufschluss über die Ursachen zu finden, sondern wie erwähnt, der Veranschaulichung. Genauso ist die Mathematik nur ein Hilfsmittel zur Beschreibung.

 

Argumentieren

 

Interessanterweise wurde ungefähr zur gleichen Zeit - in der Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. - das Argumentieren und Beweisen sowohl in der Mathematik wie Rhetorik zum zentralen Gegenstand. Pythagoräer, Eleaten und Sophisten gingen hier voran.

 

Liegt die Schwierigkeit in der Mathematik in der Sicherung des Ausgangspunktes der Beweiskette, so in der Rhetorik im Auffinden der Hauptgesichtspunkte für die Argumentation, in Aristoteles' Rhetorik "heuresis" genannt. Aus diesem "Anfang" ergeben sich dann für die Rhetorik die zwei Möglichkeiten des Argumentierens,

  • einerseits die Verwendung althergebrachter "untechnischer" Beweise, also von Dokumenten wie Gesetze, Verträge, Zeugenaussagen,
  • anderseits der Einsatz aller, von der Rhetorik - als Techne - erschlossener Wahrscheinlichkeitsargumente (wie das schon Antiphon praktizierte). Von grosser Bedeutung sind dabei sowohl die Stoffgliederung (taxis; Disposition) wie die sprachliche Formulierung (lexis, hermeneia; Stil).

Für die Mathematik ergeben sich die Möglichkeiten des direkten und indirekten Beweises.

 

Thesis und Stasis

 

Nun ist die Sicherung der Grundlagen auch für alle Naturwissenschaften von Belang. Wie bei der Rhetorik geht es um Thesis und Stasis. Die rhetorische Thesis betrifft die allgemeine Charakterisierung des Rechtsproblems (quaestio generalis, z. B.: "Ist der Muttermörder zu bestrafen?"), gewonnen durch Abstraktion aus der Hypothesis, dem Spezialfall (quaestio specialis: "Ist Orestes zu bestrafen?").

Die Prothesis (oder diairesis, propositio) bedeutet die Präzisierung des Sachverhalts. Sie geht auf in der Stasis als Untersuchung des juristischen Ansatzpunktes, der Ausgangsstellung, und zwar entweder für die Anklage (kataphasis) oder Verteidigung (apophasis), was das Ziel der Argumentation bestimmt.

 

In der Mitte des 2. Jahrhunderts v. Chr. unterschied Hermagoras von Temnos vier Staseis:

 

1. Klärung der Tatfrage (stochasmos, coniectura; ei estin, an sit)

2. juristische Definition des Tatbestandes (horos, constitutio definitiva; ti estin, quid sit)

3. ethische Beurteilung der Tat (poiotes, constitutio generalis; poion ti estin, quale sit)

4. Anfechtung der Zuständigkeit des Gerichts (metalepsis, constitutio translativa; pros ti estin, ad aliquid).

 

Aristoteles: Beweisen

 

Neben den Theseis und Staseis umfasst nun aber die Heuresis auch die Pisteis, die Beweise (argumentationes), wozu neben der strengen, logisch-rationalen Beweisführung (syllogismos, ratiocinatio) die weniger strenge "Überlegung" (enthymema), das Beispiel (paradeigma, exemplum) und das Indiz (semeion, signum) treten.

Alle diese Beweismittel werden durch praktische Anweisungen erschlossen, die als eine Art von Gedankenreservoir in Form von Sammlungen ausgewählter und übersichtlich angeordneter Topoi (loci) zur Verfügung gestellt werden.

 

Umklammert wird das Ganze von Prooiomion (Einleitung, exordium) und Epilogos (Schluss, conclusio), während die "Erzählung" des Hergangs (dihegesis, narratio) den verbindenden roten Faden bildet.

 

Seit der Entwicklung der Rhetorik zur Techne resp. Kunst wurde die Bedeutung der "kunstlosen" (atechnoi), also unmittelbaren Beweise immer mehr zurückgedrängt, was erklären mag, dass auch im Bereich der Naturwissenschaft das grössere Gewicht auf die "künstliche" Beweisführung gelegt wurde. Das heisst aber nicht, dass das "Vorliegende" völlig als unbedeutend abgetan wurde, wie das aus Olof Gigons Schilderung der Reflexionen des Aristoteles über die Methode des Forschens hervorgeht (LdA, "Aristoteles", C3f).

 

Hauptgesichtspunkte dabei sind:

 

1. a. "Klärung des Sprachgebrauchs, Festlegung und Differenzierung der verschiedenen möglichen Bedeutungen der Hauptbegriffe (Metaph. 4), auch scharfe Trennung zwischen eigentlichen und metaphorischem Sprachgebrauch."

1. b. Zentral ist hierbei die Definition, welche, ausgehend von der Sokratik, nach Gattung (genos), spezifischer Differenz (diaphora) und Art (eidos; species) jedem Wesen seinen Ort gibt.
Diese Aristotelische Dreiteilung geht auf die Platonische Dihärese zurück, bei welcher man von einem obersten, allgemeinsten und "seinshaltigsten" Begriff (der allgemeinsten Gattung) durch fortgesetzte sachgerechte Zweiteilung (Dichotomie) zum untersten und konkretesten Begriff gelangt, der sich nicht mehr aufteilen lässt (die unaufteilbare Art, atomon eidos).
Stärker noch als Platon legt Aristoteles Gewicht auf die Unterschiede (Differenzen), welche auf Gegensätzen (enantiotes) beruhen.

1. c. Hinzu kommt, dass jedes Seiende unter eine Kategorie, eine Weise des Aussagens fällt.

 

2. Das Beweisverfahren selbst hat Aristoteles in drei Stufen aufgegliedert.
Die erste betrifft die Evidenz der Phänomene selbst. "Was in der Natur durch gesunde Sinnesorgane wahrgenommen wird, ist grundsätzlich real, bedarf zwar der Interpretation, kann aber nicht einfach beiseite geschoben werden; ebenso muss die Ethik berücksichtigen, was sich geschichtlich als Consens aller oder doch der meisten und weisesten Menschen erweist" (LdA; vgl. z. B. Metaph. IV, 5; NE VI, 9, 12).

 

3. a. "Weiter als die Evidenz führt die in der Sokratik ausgebildete Induktion (epagoge); ein zunächst undurchsichtiger Tatbestand wird erhellt durch Parallelisierung mit einer Reihe durchsichtiger Tatbestände."

3. b. Allgemeiner gefasst wäre aber Induktion "jedes Denkverfahren, durch das man vom Besonderen zum Allgemeinen aufsteigt, gleichgültig, ob es sich um die Bildung eines allgemeinen Begriffs, ausgehend von der sinnlichen Erfahrung, oder um den Übergang von einer partikulären Aussage zu einem allgemeinen Gesetz handle. Die Strenge des Verfahrens geht von der einfachen Beifügung von Beispielen bis zum Schluss, der sich auf die erschöpfende Untersuchung aller Einzelfälle gründet."

3. c. Die Schwierigkeit besteht nun darin, dass diese Einzelfälle Gegenstand der Wahrnehmung und des Meinens sind. Das Gebiet der Wissenschaft aber ist das Allgemeine (Metaph. III, 6), das Wesenswas des Gegenstandes (Metaph. VII, 6), und dieses liegt, im Gegensatz zu den Sinnendingen, in gewisser Weise in der Seele selbst (De an. 417b 23).
Induktion muss demnach der Weg sein, von Sätzen resp. Urteilen über Einzelfälle - die mit Zufälligkeiten behaftet, also nicht notwendig sind - zu allgemeinen Urteilen zu gelangen, die besagen, "dass etwas allen oder keinem zukommt".
"Das allgemeine Urteil ist Gegenstand des Gedankens, das besondere geht in die Sinneswahrnehmung zurück."
Gegenüber dem besonderen hat das allgemeine Urteil zwei Vorteile:
1. lassen sich aus ihm andere ableiten, und
2. gibt es die Ursache an, weshalb ein Ding ist.
Die Frage aber bleibt, wie kommen wir von Aussen nach Innen, vom Einzelnen zum Allgemeinen. Es erfordert einen Sprung. Das beschäftigt die empirischen Wissenschaften bis auf den heutigen Tag: Man müsste alle Einzelfälle kennen, um legitim schliessen zu können, "denn die Induktion geschieht durch alle hindurch" sagt Aristoteles. Da wir aber nie alle Fälle kennen können, brauchen wir das Experiment, das sorgfältig jede "zufällige" Einwirkung ausschliesst.
Ist auf diese Weise ein Allgemeines gefunden, so kann man eine Prüfung durch Deduktion ansetzen, und dafür gibt es genaue Regeln, die in der "formalen Logik" festgelegt sind.

 

4. "Zwingende Einsicht ergibt sich erst durch den Syllogismos, das rationale Schlussverfahren der wissenschaftlichen Logik." Im Gegensatz zum Erfahrungsschluss kann man ihn Vernunftschluss nennen, da er sich ganz im Bereich des Denkens abspielt. Definiert ist er als "Rede (logos), in welcher, wenn etwas gesetzt wird, etwas von diesem Gesetzten Verschiedenes notwendig dadurch folgt, dass dieses ist". Es bedarf also keiner Bestimmung von aussen her.

 

 

(Januar 1976)

 




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