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Verbreitung von Technologien oder Der Traum von der rationalen Lenkung?

 

 

Nachdem "Meyers Enzyklopädisches Lexikon" in 25 Bänden 1978 vier Zeilen zur "Sozialtechnologie" und der Grosse Brockhaus (Bd. 10) 1980 gar beide Begriffe, Sozialtechnologie und Sozialtechnik, aufgenommen hat, wären die Voraussetzungen für eine gewisse Bekanntheit dieses Themas gegeben.

Der häufige Gebrauch des Wortes "Sozialtechnologie" im Report der angesehenen "Organisation for Economic Co-operation and Development", kurz OECD, über "Technical Change and Economic Policy" (1980 englisch und französisch, im folgenden Jahr auf Deutsch erschienen) hätte die Sache eigentlich salonfähig machen sollen. Das geschah aber nicht. Weshalb?

 

Zum einen sind die Lexikondefinitionen beinahe unverständlich, zum andern sind die Empfehlungen der OECD unbequem. Darüberhinaus gibt es mehrere Varianten der Wortverbindungen "Sozial" mit Begriffen aus dem technischen Bereich. Und schliesslich rufen Wörter wie "Technologie", "Technik" und "Engineering" häufig Misstrauen, wenn nicht gar Ablehnung hervor.

 

OECD: Gestaltung und Verbreitung von Technologien

 

Was versteht die OECD unter Sozialtechnologie? "Es sind dies diejenigen Techniken, mit deren Hilfe die sozialen Ziele der OECD-Länder erreicht werden sollen, wobei sich viele auf Dienstleistungen, insbesondere öffentliche Dienstleistungen, konzentrieren. Einige greifen jedoch auch in andere Bereiche über."

 

Als Beispiele werden genannt

· öffentlicher Personennahverkehr

· neue Systeme im Bildungswesen, etwa "das Lernsystem in der Ausbildung für Sprach- und sogar geistig behinderte Kinder mit Hilfe einer Kombination aus technischen Hilfsmitteln und Bliss-Symbolen"

· neue Ausrüstungen und Systeme für ältere Leute, "zum Beispiel einfache Veränderungen der Herde ... oder Spezialbetten für Patienten mit chronischen Krankheiten"

· eine "fortschrittliche Handprothese, die heute industriell hergestellt wird" für Thalidomid-Geschädigte.

 

Es geht also offenbar um den Einsatz technischer Hilfsmittel (auch Technologien genannt).

Das wird in den abschliessenden "Schlussfolgerungen und Empfehlungen" unter dem Titel "Sozialtechnologien" etwas erweitert:

 

· "Es gibt eine Gruppe von Produkten und Dienstleistungen, die vielen oder allen Menschen zur Verfügung stehen sollten. Sie umfasst so unterschiedliche Bereiche wie den öffentlichen Verkehr, das Gesundheitswesen, städtische Einrichtungen, das Erziehungswesen, kulturelle Institutionen, die Altenversorgung usw."

 

Weiter wird festgehalten:

· Verbesserungen der Lebensqualität hängen zunehmend vom Fortschritt der Sozialtechnologien ab.

· In allen Sozialtechnologien spielen sowohl Hardwaretechnologien als auch Gesellschaftswissenschaften eine entscheidende Rolle.

· Zwei Veränderungen in unseren Gesellschaften sind besonders zu beachten:

- die gestiegene Nachfrage nach sozialen Dienstleistungen,

- die Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Kosten einschliesslich der Umweltschäden, die durch die Wirtschaftstätigkeit entstehen.

· Zwar sind die sozialen Dienstleistungen zum grossen Teil für neue Arbeitsplätze verantwortlich, aber das Produktivitätswachstum in diesem Bereich ist gering, was wesentlich zur Inflation beiträgt.

 

Daher die Empfehlung: "Mehr Anstrengung und mehr Mittel sollten den Sozialtechnologien gewidmet werden." Dabei muss "die Öffentlichkeit verstärkt an der Gestaltung und Verbreitung von Technologien mitarbeiten", sie muss aber auch "noch viel über Folgewirkungen und Möglichkeiten von Technologien lernen".

 

Öffentliche Mitwirkung, Information und Diskussion werden also gefordert.

Es sieht so aus, als sei nicht einmal dieser OECD-Bericht diskutiert worden.

 

Sozialtechnologie als Schimpfwort

 

Ein ganz anderes Verständnis von Sozialtechnologie war zehn Jahre vor dem OECD-Bericht in Deutschland Mode - und zwar als Schimpfwort.

Den Hintergrund dafür bildeten die Auseinandersetzungen in der Gilde der Sozialwissenschafter darüber, ob und wie "die Gesellschaft" gelenkt, gesteuert oder kontrolliert werden könne.

 

Grundlagen dafür waren unter anderem folgende Bücher:

·David Easton: The Political System.1953; und: A Systems Analysis of Political Life.1964.

·Karl W. Deutsch: The Nerves of Government. 1963, dt.: Politische Kybernetik. 1969.

· Georg Klaus: Kybernetik und Gesellschaft. 1964.

·Gabriel A. Almond, G. Bingham Powell, Jr.: Comparative Politics. 1966.

· Amitai Etzioni: The Active Society.1968, dt.: Die aktive Gesellschaft. 1975.

 

Die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs aufgekommenen Vorstellungen von Gesellschaft und Staat als Systeme und die Möglichkeiten einer Anwendung kybernetischer Erkenntnisse darauf lösten damals Hoffnungen und Befürchtungen aus. In Deutschland mischten vor allem die Forscher Wolf-Dieter Narr, Frieder Naschold, Dieter Senghaas sowie Niklas Luhmann und Jürgen Habermas mit.

 

1962 brach der sogenannte "Werturteilsstreit" zwischen Hans Albert (einem Schüler von Gerhard Weisser und Popularisator von K. R. Popper) und Erwin K. Scheuch einerseits, Theodor W. Adorno, Jürgen Habermas und anderen anderseits, aus.

Teile der Auseinandersetzung dokumentierten sich im "Positivismusstreit" (1969), in der "Technokratiediskussion" (1970) und in vier Bänden der Suhrkamp-Reihe "Theorie-Diskussion" unter dem Titel: "Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie" (1971-75). Auf den 1000 Seiten Text findet sich freilich keine Definition von "Sozialtechnologie", noch ist viel davon die Rede.

Wie man aber dem ersten, fünf Beiträge von Luhmann und Habermas enthaltenden Band entnehmen kann, handelt es sich eben um eine Geisteshaltung. Habermas nimmt Luhmanns Entwurf einer "Systemtheorie der Gesellschaft" aufs Korn und bezichtigt ihn eines Rückzugs in den Elfenbeinturm (141-145).

 

Schon 1963 (in "Theorie und Praxis") hatte Habermas den Ansatz der Sozialtechnologen und damit auch Luhmanns folgendermassen kritisiert:

· Er "beruht auf der fragwürdigen These, dass die Menschen im Masse der Verwendung von Sozialtechniken ihre Geschicke rational lenken, ja diese, im Masse der kybernetischen Steuerung noch des Einsatzes dieser Techniken, rational lenken lassen können" (372).

 

1971 bezeichnet nun Habermas die Theorie Luhmanns

· "als Hochform eines technokratischen Bewusstseins..., das heute praktische Fragen als technische von vornherein zu definieren und damit öffentlicher und ungezwungener Diskussion zu entziehen gestattet".

 

Sozialkybernetik und Systemtheorie meinen also, man könne mittels Wissenschaft die politisch und gesellschaftlich notwendigen Entscheidungen "rationalisieren". Dem stellt Habermas "kommunikatives Handeln und Diskurs" gegenüber, also genau das, was der OECD-Bericht ein Jahrzehnt später forderte: Der Bürger muss an den Entscheidungsvorgängen, die ihn betreffen, beteiligt werden.

 

Dies ist der Ansatz einer "kritischen Theorie der Gesellschaft". Er hat es bereits in den 1960er Jahren gar nicht leicht gehabt, war doch die Begeisterung über Kybernetik und Systemdenken damals gross.

Und nach anfänglichem Zögern hatte schliesslich Mitte des Jahrzehnts auch in Deutschland - lange nach den USA und Frankreich - eine richtige "Planungs-Euphorie" Politiker und Wirtschaftslenker erfasst.

 

Zusammengestellt im Dezember 1984

 




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