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"Der kluge Kapitalist muss heute alle Dinge bezweifeln und seine Ideen beständig auf die Übereinstimmung mit den wechselnden Ereignissen in der politischen Welt überprüfen."

John Maynard Keynes (1927)

 

 

Börsen-Morphologie nach dem «Schwarzen Montag»

 

Innovatives Lernen an den Wertpapiermärkten

 

Erschienen in «Schweizer Bank» 88/3, 20-24

Nachdruck in: Erfolg mit Morphologie, 1993, 120-134.

 

 

Die modernen Börsen und Finanzmärkte sind richtige Märchengärten, bevölkert von zahlreichen Fabeltieren, Leckereien und Kuriositäten. Da gibt es nicht nur die bekannten Bulls and Bears, sondern auch Munis und Bellwether Bonds, CATS, TIGRS, Irish Wolfhounds und Bulldogs, Dolphins oder Flippers und Sharks.

Es gibt High Flyers, WINGS, Skylock Clauses, Balloon Repayments und Golden Parachutes. Da tummeln sich weisse und schwarze Ritter, Megagoths, Agenten und Dealer, Majors, Runners, Langläufer und Raiders mit GUNs, Revolving Facilities und Bullets.

 

Zu dieser Western-Szenerie gehören auch PUFs, Calls and Rollover Dates mit STRIPS, Stripped Bonds und der schönen Sallie Mae, Ginni Mae oder MYRA; unzählige Positionen werden gehalten oder offeriert, ja sogar Risikopositionen übernommen. Ein häufiges Ergebnis sind dabei Out-of-pocket Expenses. Serviert werden bei Club Deals: SNIFs, Vanilla, Kiwi Bonds, Surrogates, SOY, Cocktail Swaps, Equity Sweeteners und Poison Pills. Es gibt Flip-Flops, Cylinder Options, Pyramiding, Mirror Contracts und Mismatches, Round Trips und Skip-day Settlements.

Da wird liquidiert, skalpiert, erdrosselt, exekutiert, eingeschossen und glattgestellt, gestraddlet, gespreadet und geswitcht, syndiziert und faziliert. Und manches läuft unter einer Time Decay Umbrella.

 

Alle diese Ausdrücke sind Hans E. Zahns trefflichem Glossarium «Finanzinnovationen» (Fritz Knapp Verlag, Frankfurt 1986) entnommen. Dieses enthält noch etwa 2000 weitere Begriffe.

Hand aufs Herz: Wer kann behaupten, er finde sich in diesem unheimlichen Dschungel noch zurecht? Was not tut, ist Übersicht. Aber wie kommen wir dazu? Die Morphologie nach Fritz Zwicky bietet dazu Hand.

 

 

«Das System aller möglichen Erfindungen»

 

Wo immer es darum geht, einen wirren Haufen von Gegenständen, Ereignissen oder Möglichkeiten zu ordnen, bietet sich die Verwendung von graphischen Darstellungen, Tabellen oder Schemata an. Freilich ist auch hier die Vielfalt riesengross: Sie reicht von Organigrammen, der Bedürfnispyramide von Maslow und dem Verhaltensgitter von Blake/ Mouton über die Produkt/ Markt-Matrix, Entscheidungstabellen und Funktionendiagramme bis zu Netzplänen und kybernetischen Modellen.

In die dritte Dimension weisen geographische und medizinische Atlanten, perspektivische und Schnittzeichnungen.

 

Zu den einfachsten dreidimensionalen Darstellungen auf dem flachen Papier gehört der Würfel. Fritz Zwicky hat einen solchen erstmals 1946 für das Magazin «Fortune» gezeichnet. Er wollte damit auf systematische Weise alle Maschinen, genauer: Triebwerke, die auf chemischen Reaktionen beruhen, zusammenstellen.

 

Das Bild zeigt eine Art Schrank mit Schubladen (Abb. 1). In jedem Fach findet sich ein Triebwerk. Einige davon sind schon gebaut worden, die meisten aber noch nicht. Daher gibt der morphologische Würfel auch Anlass für die Entdeckung und Konstruktion völlig neuartiger Geräte. Er bildet, wie es in Dürrenmatts «Physikern» (1962) dann hiess, «das System aller möglichen Erfindungen».

 

Der Börsen-Würfel schafft Übersicht

 

Einen Würfel kann man für allerlei, z. B. für die Intelligenz-Struktur (J. P. Guilford 1959), die Unternehmensführung (Hans Ulrich, Walter Krieg 1972) oder für die Börsen und Finanzmärkte, zeichnen.

 

Die Erstellung eines «Börsen-Würfels» (Abb. 2 und Abb. 2a) ist der erste Schritt zur Rodung des Märchendschungels. Die drei Dimensionen betreffen:

 

1. die Basis, also das, worüber gehandelt wird,

2. die gehandelten Papiere, Verträge, Rechte usw.,

3. die Länder und Regionen, in denen diese Papiere angeboten und gehandelt werden.

 

Eine derartige Zusammenstellung ergibt einen wuchtigen Aktenschrank mit über 50 Schubladen. So vielfältig ist der Finanzmarkt! Immerhin: Eine recht gute Übersicht lässt sich damit erreichen.

Man hat dann etwa eine Schublade mit Index-Futures oder, gerade darunter, eine Schublade mit Anlagefonds, deren Titel die Zusammensetzung eines Indexes spiegeln. Weiter links unten finden sich die Irish Wolfhounds und Bulldogs in einer Schublade - nur durch einen dünnen Boden von den CATS und TIGRS getrennt.

 

Bei genauerer Betrachtung kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, die Finanz-Innovatoren hätten genau einen solchen Würfel vor Augen gehabt, als sie darangingen, bisherige Lücken (d. h. leere Schubladen) mit neuen Finanzinstrumenten auszufüllen, z. B.:

1970 Aktien-Optionen (BRD; 1973 an der CBOE standardisierte Calls; 1977 Puts; 1978 Amsterdam und London)

1972 Devisen-Terminkontrakt

1975 Optionen auf Devisen-Terminkontrakte

1975 Zins-Terminkontrakt (GNMA; 1977: T -Bonds)

1982 Aktienindex-Terminkontrakt

1985 Terminkontrakte auf den Verbraucherpreis-Index.

 

Differenzieren und Aufräumen

 

Der Börsen-Würfel kann weiter differenziert werden. Wenn man etwa die Zinstitel in kurz- und langfristige unterteilt, erhält man den Geld- und den Kapitalmarkt (wobei zu letzterem auch Beteiligungspapiere und Hypothekarkredite zählen können).

Bei den Termingeschäften kann man den klassischen Terminmarkt (forward market) vom neueren Futures-Markt trennen.

Wichtige Fälle der «Sonderformen» sind Fazilitäten (bei Krediten und Zinstiteln).

Umgekehrt lassen sich verschiedene Schubladen zu Gruppen zusammenfassen, beispielsweise Devisen-, Zins-, Edelmetall- und Index-Futures als Financial Futures.

 

Zur Verbesserung der Ubersicht trägt auch die «Methode Hausfrau» bei. In jedem Fach findet sich ja ein ganzer Haufen unterschiedlichster Finanzinstrumente oder -titel. So können Index-Futures in den USA folgendes betreffen:

- Aktien-Indexe, z. B. S&P 500, NYSE Composite Index, Value Line Composite Average Index

- Währungskorb-Indexe, z. B. dollar trade-weighted index contract

- Verbraucherpreis-Indexe, z. B. CPI futures contract

- Frachtraten-Indexe, z. B. Baltic freight index contract (London)

- Indexe für Kommunalanleihen, z. B. munibond contract

- weitere Indexe, z. B. der Unternehmensgewinne, Neubauvorhaben und des Automobilabsatzes.

 

Weitere Dimensionen, Würfel und Kästen

 

Nun sind die drei für einen Würfel gewählten Dimensionen gewiss nicht die einzig möglichen. Das sah schon Fritz Zwicky 1946, und er überlegte, wie man weitere Dimensionen auf dem Papier darstellen könnte. Er kam auf die geniale Idee, einfach sämtliche möglichen Dimensionen (mit den jeweils variierenden Einteilungen) zeilenweise untereinander zu schreiben. Das gibt den legendären «Morphologischen Kasten». Jedes «Fach in einer Schublade» wird dann durch eine Kette dargestellt (Abb. 3), welche je ein Objekt pro Zeile durch alle Zeilen hindurch verbindet: «Every chain one solution.»

 

Für die Finanzmärkte wären weitere Dimensionen neben (1.) der Basis, (2.) den gehandelten Papieren und (3.) den Ländern:

 

4. Art des Handels: an der Börse, börsenfrei, Graumarkt, Interbanken, Bank-Kunde-Handel, privat

5. Art der Märkte: onshore, offshore, primär, sekundär

6. Art der Titel: Inland-, Ausland-, Euromarkt-Titel

7. Spezifikationen: Offenheit oder Geschlossenheit (Fonds, Kontrakte), reine oder gemischte Fonds, Titel, Kontrakte, Swaps usw.

 

Das ergibt ein weiteres Feld für kombinatorische Spielereien. Damit nicht genug! Ähnliche Würfel resp. Kästen liessen sich auch für die vielen am Börsengeschehen beteiligten Personen und Institutionen aufstellen, für die vielfältigen Regelungen und Klauseln, für die Strategien und Verhaltensweisen sowie für die Kosten, Erträge und Ergebnisse.

Bei diesen lehrreichen Sammel- und Sortierungsarbeiten kann man sich ganz schön verweilen. Allerdings: Letzte Klarheit und Präzision kann selten erreicht werden. Überdies: Finanzmärkte sind nicht alles. Es gibt ungezählte andere Möglichkeiten, Geld zu verdienen oder sich zu beschaffen, Vermögen anzulegen und zu verlieren. Wer hätte da nicht schon von einer umfassenden Übersicht geträumt! Der morphologische Kasten bietet sie (Abb. 4).

 

Wirkungsketten: global und persönlich

 

Nun hat Fritz Zwicky ein Dutzend weiterer morphologischer Methoden oder Instrumente entwickelt. Mit etwas Phantasie und Scharfsinn kann man sie alle auf die Börsengeschäfte anwenden.

Als Beispiel diene die Wirkungskette. Zwicky hat sie 1945 für die Auswirkungen des Abwurfs von Atombomben ausgearbeitet; sie lässt sich auch für die Auswirkungen des Börsen-Crash vom 19. Oktober 1987 verwenden. Ihr Bild ist ähnlich dem sogenannten Entscheidungsbaum: Von einem beliebigen Ausgangspunkt aus können mehrere Möglichkeiten von Ereignissen verfolgt werden, wobei für jedes die Wahrscheinlichkeit des Eintretens und sein Gewicht (die Schwere) geschätzt werden müssen.

 

Diese Folgeabschätzungen sind mühselig, aber notwendig und lehrreich. Dabei werden eine Unmenge Zusammenhänge sichtbar. Schliesslich wussten schon die alten Griechen, dass alles mit allem zusammenhängt. Das moderne Systemdenken beruht ebenfalls auf dieser Einsicht: Jedes dramatische Ereignis am einen Ende des Weltsystems hat vielfältige Auswirkungen in allen Bereichen bis zum andern Ende.

 

Wer eine solche Wirkungskette (Abb. 5) für sich ganz persönlich verwenden will, modifiziert sie in ein Flussdiagramm, wie es ebenfalls aus Operations Research und Informatik bekannt ist.

Nehmen wir an, wir hätten durch die Ereignisse an den Börsen Geld verloren. Dafür gibt es zunächst einmal einen Trost: Es ist vielen so ergangen. Der Grund ist altbekannt; auf englisch fasst man ihn in die Formel: «The Disposition To Sell Winners Too Early and Ride Loosers Too Long.» Das hat mannigfache psychologische Ursachen: anderweitige Interessen; Trägheit; Langsamkeit des Lernens; Abneigung, Verluste zu «realisieren»; sich vertrösten auf später, usw.

 

Nun hat aber jeder grosse Verlust, jeder Schock auch seine guten Seiten. Er kann zur Besinnung anregen. Die Chancen für innovatives Lernen sind nach dem Börsen-Crash so gross wie schon lange nicht mehr.

 

Sämtliche Anlagen oder Werte sind risikobehaftet

 

Wie ginge das vor sich? Jeder Kapitalanleger muss sich zwei Fragen stellen:

 

1. Will ich aus den Ereignissen etwas lernen? Ja oder nein?

2. Will ich fortan mein Geld aktiv verwalten? Ja oder nein?

 

Im Falle negativer Antworten aus dem Widerstreit der Gefühle ist das Ergebnis deutlich:

 

1. Wenn ich den Kopf in den Sand stecke, besteht das Risiko weiterer Verluste. Verlustreparationen gelingen ohnehin selten.

2. Auch bei «sichereren» Anlagen ist das Risiko nie ganz zu eliminieren. So kann etwa die Rezession Überraschungen für Immobilienfonds bringen und die Inflation Kapital oder Renten aus Lebensversicherungen empfindlich schmälern.

 

Schon diese schlichte Betrachtung zeigt, was die Erfahrung längst lehrte: Es gibt keine völlig sicheren Kapitalanlagen. Das wussten bereits die alten Griechen: «Alles fliesst.» Sogar Edelmetalle, Edelsteine und Schmuck, Sammlungen oder Kunstwerke, Mobilien und Immobilien, Warenlager und Patente haben nur einen Marktwert.

Ist der Markt in Krisenzeiten eng und lustlos, muss man seine «Werte» mit erklecklichen Abschlägen verkaufen, wenn man Liquidität braucht. Und das kann infolge von Schicksalsschlägen oder Fehlerwartungen jederzeit der Fall sein. Es ist also besser, etwas lernen zu wollen, damit man sein Vermögen möglichst gut erhalten kann.

 

Beobachtungen am 4er-Raster

 

Das Lernen lässt sich nicht leicht in ein Schema pressen. Doch kann man nach Fritz Zwickys «Methode der Extreme» und einem darauf basierenden 4er-Raster anfangen. Die Extreme der beiden Dimensionen sind Vergangenheit und Zukunft sowie «die andern» und «ich resp. wir» (z. B. das Unternehmen). Wer ehrlich und offen über die Bücher gehen will, stellt sich daher vier Fragen (Abb. 6):

 

1. Was ist eigentlich geschehen? Dabei sollte man versuchen, dies als Ereignisse in vernetzten Systemen zu sehen, wobei auch die Psychologie ein wichtiger Faktor ist. Ferner sind Auffälligkeiten zu suchen, die als Angelpunkte gelten.

2. Wie habe ich mich verhalten? Was habe ich, was hat unsere Investoren-Gruppe, unser Unternehmen falsch gedacht und gemacht?

3. Was sind die Folgen für die Weltwirtschaft, für die Unternehmen, für mich selber? Dabei können Wirkungsketten verwendet werden. Eine optimistische und eine pessimistische Variante sind in aller Breite auszumalen.

4. Wie soll die künftige Strategie für mich persönlich oder für das Unternehmen aussehen? Dabei ist insbesondere auf Frühwarnsysteme und die Ausarbeitung echter Alternativen Gewicht zu legen.

 

Das gibt viel Stoff zum Überlegen.

Frage 2 ist brisant. Bereits nach dem Crash von 1962 gaben bei Umfragen in Deutschland nicht einmal 20 % der Wertpapierbesitzer zu, sie hätten etwas falsch gemacht. Das hängt damit zusammen, dass ein Viertel der Anleger über Jahre hinaus überhaupt nichts mit ihren Wertpapieren taten; die Hälfte kaufte ab und zu mal etwas, und nur ein Viertel hatte sowohl gekauft als auch verkauft. Richtig an der Börse «gearbeitet» hatten kaum 5 % der Anleger. (Ähnliche Verhältnisse herrschten auch in den USA; sie gelten wohl noch heute). Von diesen wenigen Aktiven gab die Mehrheit Fehler zu. Daraus lässt sich auf unterschiedliche Lebenshaltungen schliessen.

 

Versucht man, alle übrigen Einsichten, wie subjektiv sie auch sein mögen, umfassend zusammenzustellen, so kann man dies ebenfalls anhand eines 4er-Rasters tun (Abb. 7). Er betrifft Beobachtungen und Folgerungen, und zwar jeweilen eher intuitiv/emotional oder analytisch/konstruktiv. Jeder der 16 Punkte verdient dasselbe Gewicht.

 

Aus alledem ergeben sich Hinweise auf das aktive Vermögens-Management (Abb. 8). Es besteht aus den gleichen Punkten wie ein Unternehmens-Management. Denn: Die Verwaltung eines Vermögens, auch des eigenen, ist eine echte Unternehmeraufgabe, mit ähnlichen Freuden und Leiden in mannigfaltigen Fährnissen. Lichtblicke ergeben sich durch das Wahrnehmen von Chancen, und das heisst: sammeln und ordnen, lernen und aktiv sein.

 

 

Zitate

 

1927 formulierte der berühmte Ökonom John Maynard Keynes eine weitere bedenkenswerte Weisheit:

 

"Die Idee ..., dass eine aktive Politik die Übernahme grösserer Risiken bedingt als eine Politik der Inaktivität, ist genau das Gegenteil der Wahrheit. Der inaktive Kapitalist, der eine starre Haltung gegenüber seinen Beständen einnimmt und sich gegen einen Meinungswechsel sträubt, nur weil sich die Tatsachen und Umstände verändert haben, wird auf die Dauer bedenkliche Einbusse erleiden."

 

 

Samuel Rezneck: Business Depressions and Financial Panics. New York: Greenwood 1968, S. 107f.:

 

"While it lasted, however, the depression of 1857 did provide the occasion for a general public debate, centering around two questions: 'What caused it? ... What lessons did it teach?' ... Peculiarly suitable as a theme for the penitential mood induced by depression was a condemnation of extravagant and wasteful living, a national habit nurtured by the preceding prosperity."

 

 




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