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Morphologie als Disziplin

 

Fritz Zwicky: Entdecken, Erfinden, Forschen im morphologischen Weltbild. Verlag Droemer Knaur, München.

 

Seit einigen Jahrzehnten gibt es mannigfache Versuche, universelle Denk- und Forschungsmethoden, die nicht nur für je eine Wissenschaft sondern für jede brauchbar sind, zu entwickeln: Kybernetik, Informations- und Systemtheorie, Grundlagenforschung, Strukturalismus und früher schon Phänomenologie (verstehende Wesensschau) und Morphologie. Unter letzterer lassen sich so verschiedene Bemühungen wie diejenigen von Paracelsus, de Maupertuis, Euler, Goethe, Faraday, J. J. Bachofen, Mendelejew und Fridtjof Nansen, aber auch etwa von A. Portmann zusammenfassen.

 

Fritz Zwickys Forderung nach «Morphologie als einer Disziplin» hat man in seinem urchigen Glarnerdialekt schon oft am Schweizer Radio hören können. Zwicky studierte und doktorierte an der ETH, lebt seit 1925 in den USA und ist heute Professor für Astrophysik am California Institute of Technology und Astronom an den grossen kalifornischen Sternwarten (Mt. Wilson, Mt. Palomar). «Das Bestreben, einen sicheren Weg zu finden», die «für die Grundübel der Welt verantwortlichen Umstände aufzudecken und deren innere Natur zu ergründen, hat den Verfasser zur Entwicklung der Morphologischen Methode und zur Schaffung des Morphologischen Weltbildes geführt». Bei diesem handelt es sich «um das Erschauen und Erkennen von Zusammenhängen in Gesamtheiten von materiellen Objekten (Gegenständen), von Phänomenen (Vorgängen; Naturerscheinungen) und von Ideen und Vorstellungen (Konzepten;. abstrakten Sachverhalten; geistigen Zusammenhängen) sowie der für ein konstruktives Schaffen einzusetzenden menschliche Betätigungen».

 

Zwicky meint, unter dem morphologischen Aspekt liessen sich am ehesten «eine, einige und einheitliche Welt» in einem festgefügten organische Gleichgewicht verwirklichen, die Menschheit au dem Chaos und der atomaren Bedrohung herausführen und die «Verwirrungen des menschlichen Geistes» - Unwissenheit gepaart mit Aberglauben Vorurteilen und Pfuscherei (wofür Zwicky viele betrübliche Beispiele gibt) - überwinden. Die morphologische Methode ist Totalitätsforschung, ein Denken in strukturellen Zusammenhängen auf Grund absoluter Vorurteilslosigkeit. Für den Morphologen hängt alles mit allem zusammen und ist (fast) alles möglich. Die Feststellung der Gesamtheit aller Beziehungen führt zu einer globalen und interdisziplinären Schau und Forschung. Nur dies kann zur Existenzbehauptung und -entfaltung der menschlichen Gemeinschaft und jedes Individuums führen und die Kluft zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit überbrücken. Es geschieht durch die Bildung kompetenter Arbeitsgruppen sowie Erwachsenenaufklärung und damit in gemeinsamer Verantwortung und Zusammenarbeit von Forschern und Bürgern.

 

Kurz: Die morphologische Methode will «komplex Probleme in integraler Weise» behandeln, mit de Ziel einerseits einer Minimisierung des finanzielle und arbeitsmässigen Einsatzes zur Erreichung optimaler Lösungen, anderseits einer besseren Erkenntnis des richtigen, in sich widerspruchsfreien und damit totalen Weltbildes.

 

Der Fortschritt der morphologischen Methode geschieht hierbei durch:

 

1.      Negation von bisherigen Dogmen (Euklidsche Geometrie; absolute Kausalität; Newtonsches Gravitationsgesetz; Unumkehrbarkeit der Zeit) und nachfolgende «integrale Planung und Konstruktion», das heisst Entdeckung und Erfindung neuer Materialien und Phänomene aber auch neuer Probleme;

2.      Infiltration, das heisst Vordringen von Bekanntem (Stützpunkte des Wissens, der Erfahrung, und des Besitzes) in Unbekanntes (was N. Hartmann schon 1925 formulierte). - Zwicky nennt das die «Methode der systematischen, totalen Feldüberdeckung», was besagt, dass man alle Fakten und Faktoren kennen, in allen Richtungen suchen muss, um zur Kenntnis der «Totalität aller Möglichkeiten» zu gelangen;

3.      «Konstruktion und Auswertung des Morphologischen Kastens», der alle möglichen Lösungen enthält.

 

Zwicky erläutert ausführlich den Einsatz seiner Methode bei der Konstruktion von Polyedern und Sternwarten (Teleskopen), bei der Beschaffung und Verbreitung wissenschaftlicher Publikationen - wo er Grosses geleistet hat (durch das «Committee for Aid to War Stricken Scientific Libraries») -, bei der Feststellung von Energiearten und -umwandlungen samt den Geräten dazu, für chemische Treibstoffe, Astronomie und Weltraumfahrt - Zwicky entdeckte 1933/1936 bis 1941/50 die Supernovae sowie weitere Stern- und Galaxienarten, woraus unter anderem 1961-1968 ein sechsbändiger Katalog über Galaxien und Galaxienhaufen resultierte, und schoss am 16. Oktober 1957 als erster mit einer hochfliegenden Rakete ein Teilchen für immer in das Weltall. In dem Kunterbunt von Möglichkeiten fehlt auch nicht die Beachtung etwa des «Smog» über Los Angeles, von Briefmarken, des Rechts im Raumzeitalter und der Betriebsorganisation.

 

Man könnte nun befürchten, so bestechend dieses Denken in Allgemeinheiten sei und so nützlich es zu sein vermöge, es bleibe dennoch viel zu sehr im Allgemeinen. Doch Zwicky hat damit immerhin über ein Dutzend Patente für Strahltriebwerke und chemische Treibstoffe erlangt, zwei wichtige Bücher, «Morphological Astronomy» (1957) und «Morphology of Propulsive Power» (1962), geschrieben und das Photoelektronenteleskop erfunden. Allerdings: Der Nachweis fruchtbarer und weittragender interdisziplinärer Zusammenarbeit steht noch aus. Ebenfalls vermag Zwicky sich nicht ganz überzeugend gegen die Vorwürfe zu verteidigen, die Morphologische Methode sei nichts Neues oder bestehe eigentlich aus wissenschaftlich-methodischen Selbstverständlichkeiten.

 

Dass, wie der Klappentext zweimal betont, Zwickys Buch eines sei, «wie es nur alle hundert Jahre einmal geschrieben wird», ist wohl übertrieben. Jedenfalls aber basiert Zwickys fast jugendlicher Enthusiasmus - der Reformer muss Optimist sein und «Rezepte» geben, was leicht verdächtig erscheint - auf einer echten Besorgnis über die Zustände im heutigen wissenschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Betrieb. Seine Gedanken sind nicht diejenigen eines Philosophen oder Psychologen sondern eines typischen Naturwissenschaftlers guten Willens, der von den Grundüberzeugungen ausgeht: «Jedes Individuum ein Genie» und «Integration menschlicher Erkenntnisse zum Zwecke der Verwirklichung der schöpferischen Kräfte des Menschen». In diesem Sinn ist Zwickys Schrift, mit einem unpassenden aber treffenden Ausdruck bedacht, ein liebenswertes Buch.

 

Rezension, erschienen am 25. 6. 1969 in den "Basler Nachrichten"

 

 

 

Genies spucken nicht durch Schlüssellöcher

 

Fritz Zwicky: Jeder ein Genie. Verlag Lang, Bern und Frankfurt.

 

Gerne belächelt man den in den USA zu Ehren gelangten Glarner Astrophysiker Zwicky (73) ob seines Enthusiasmus, seiner ungeschminkten Sprache und seiner «Unart», stets von sich, seinen Erfahrungen, Leistungen und berühmten Freunden zu schreiben. Fünf Jahre nach seinem «Entdecken, Erfinden, Forschen» (Droemer, München - soeben als Taschenbuch erschienen) ist nun ein weiterer Band über seine morphologische Methode herausgekommen.

 

Das ist in gutem Sinn ein ebenso herzerfrischendes wie naives Werk. Eine vernünftige, freie, gesunde und schöne Welt muss her, und hiefür hätte jeder Mensch sein eigenes Genie zu entdecken und zu entfalten, auf dass er als ein «ganzer Mensch» lebe. Ausbeutertum, Selbstsucht, Heuchelei, Dummheit und andere Verirrungen des menschlichen Geistes haben bisher alles verpfuscht. «Die USA gehen rapide dem Verderben entgegen, weil beide, die Verlogenheit der eingesessenen amerikanischen Hierarchien sowie auch die Millionen von Versagern unter der Jugend darauf hinarbeiten. Die Schweiz anderseits leidet an einer zunehmenden Verblödung der führenden Schichten und an einer tölpelhaften Nachahmung amerikanischer Vorbilder durch die Versager unter den Jungen und besonders den Studenten.. Da die USA und die Schweiz prinzipiell in der besten Lage wären, um wirkungsvoll am Aufbau einer neuen, gesunden Welt mitzuarbeiten, liegt es mir besonders daran, in diesem Buch schonungslos die grössten Schwächen dieser beiden Länder aufzudecken.»

 

Genie bedeutet nicht Anhäufung «enzyklopädischen Unrats in den Gehirnen verblendeter Streber», sondern «Einzigartigkeit, Unvergleichlichkeit und Unersetzbarkeit» in der «Einheit des Stils in allen Lebensäusserungen eines Individuums». «Genie ist eine angeborene Art, die Welt zu sehen, zu erleben, und das Erlebte zu verarbeiten und der Welt zurückzugeben.»

 

Zwickys schlichte und direkte Formulierungen sind ein Unikum in der heutigen Bücher- und Geisteswelt; wir haben heute eben eine vornehmere Sprache, reden von «Gleichheit der Bildungschancen», «Wesensfindung», «Selbstexploration», «Bewusstsein III», «Individuation» usw. Dabei ist Zwicky keineswegs ein Ungebildeter. Wer nennt denn heute noch Nansen, J. J. Bachofen, Spitteler, Schweijk, J. K. Kappeler, Dufour, Eugen Huber oder Robert Grimm und den Koch Rumpelmeier, und weiss, dass schon Dostojewski das Spezialistentum karikierte als die Fähigkeit, aus sieben Meter Entfernung durch ein Schlüsselloch zu spucken?

 

Das ist ein Buch zum Staunen und Schmunzeln, ein fast surrealistisches Chrüsimüsi voll befreienden Humors, Entrüstung, Gift und Ehrlichkeit. Zwicky verrät, dass der Verlag Droemer den Titel seines nächsten Buches, «Das dümmste Volk (nämlich die Schweizer»), bereits rechtlich hat schützen lassen. Einen Hinweis auf seine Denkart gibt auch der Titel des zweiten geplanten Berichts, «Operation Einzelgänger» («Operation Lone Wolf»). Zwicky ist kein Zyniker und kein Stänkerer, vielmehr ein Mensch, dessen Geist für Ordnung und Universalität plädiert, dessen Herz für Pestalozzi, Einstein und Gottlieb Duttweiler schlägt, und der mit Wärme den einfachen oder unbedeutenden Mann liebt. Die ersten Beispiele von Genies sind Kustoden, also Abwarte und Hauswarte, Wächter und Förster, «Mängelschnüffler» und Sicherheitsingenieure, ferner gute Zuhörer, unbekümmerte Gelassene, Sekretärinnen und Hetären sowie Dienstleistende aller Art.

 

Zwickys schnurrige Erzählungen gäben Stoff für ein Wissenschaftskabarett. Mag der Verfasser jedoch noch so poltern, er verströmt auch holden Optimismus: Allem Übel soll und kann Einhalt geboten werden durch morphologische Analyse und Konstruktion. Nur das kann eine einheitliche und harmonische Welt schaffen. Morphologen sollten die Leitung der Welt übernehmen. Auch die Volkswahl eines Morphologen zum Bundespräsidenten wäre angezeigt. Zwicky als neuer Regent Helvetiens?

 

Rezension, erschienen am 24. 11. 1971 in den "Basler Nachrichten"

 




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