Home Zum begriffsscharfen Denken

                     Eine Skizze, Herbst 1972

 

 

Konfuzius sagt:
„Wenn die Worte nicht stimmen,

stimmen die Begriffe nicht.

Wenn die Begriffe nicht stimmen,

wird die Vernunft verwirrt.

Wenn die Vernunft verwirrt ist,

gerät das Volk in Unruhe.

Wenn das Volk unruhig wird,

gerät die Gesellschaft in Unordnung.

Wenn die Gesellschaft in Unordnung gerät,

ist der Staat in Gefahr.“

 

 

 

Begriffsscharfes Denken sei in der Wissenschaft unstreitig eine conditio sine qua non, meint Ludwig Klages (1).

Da erheben sich gleich die Fragen: Denkt er selbst begriffsscharf und betrachtet er sein Tun und seine Werke als Wissenschaft? Die erste Frage ist wohl bei keinem "Forscher und Denker", wie sich Klages des öftern bezeichnet, vollumfänglich zu bejahen, weder bei Philosophen noch bei Physikern oder Juristen und Ökonomen. Den Beweis kann jeder einigermassen mit Genauigkeit und Geduld Begabte erbringen.

 

Ludwig Klages bemüht sich um ein „sprachgeleitetes Denken“

 

Klages, das ist gleich vorweg zu nehmen, hat immerhin einiges, was bisher in Begriffsverwirrungen verstrickt war, leidlich geklärt ohne freilich letzte Begriffsschärfe zu erreichen. Für diese Schwierigkeit hat er ferner manche Besonderheiten der Sprache, des Namengebens und Denkens namhaft machen können.

In seinem Alterswerk schreibt er, dass sein "Gesamtwerk für eine Art Muster sprachgeleiteten Denkens gelten" (2) dürfe, dass er "Forschungsergebnisse" (3) vorlege, und zwar für "parteilose Leser" (4).

Bei der Frage der Verwendung von Fremdwörtern weist er darauf hin, dass er sich nach Kräften um deren Vermeidung bemüht habe. "In wissenschaftlichen Ausführungen" (5) sei dies jedoch nicht vollständig zu erreichen, da ähnlich wie die verschiedenen Berufsarten und Gesellschaftsschichten auch die Wissenschaften über Sonderbezeichnungen verfügten; diese zu verdeutschen sei oft unmöglich oder wenig sinnvoll, da sie internationales Gepräge hätten und im Falle einer Übersetzung entweder in Klammern hintangestellt oder gar durch lange Abhandlungen erklärt werden müssten.

 

Die Schwierigkeit hat historische Wurzeln

 

Auch die zweite Frage ist nicht leicht zu beantworten. Was ist denn Wissenschaft, wie definiert und versteht sie sich? Wohl ebensoviel Bände sind bereits hierüber geschrieben worden wie über die Frage nach Philosophie, Metaphysik, Kunst, Religion, usw. Die Schwierigkeit hat, wie beim begriffsscharfen Denken, ihre sprachlichen und somit historischen Wurzeln.

 

Einer deren wichtigster Äste geht auf die Vorsokratiker sowie Platon und Aristoteles zurück, die nicht nur die Terminologie zu diesem Problemkomplex umfassend aufbereitet haben, sondern auch sachliche und begriffliche Beziehungen in grosser Zahl herstellten., deren Entschlüsselung auch nach bald zweieinhalb Jahrtausenden immer noch nicht zu einem Abschluss gekommen ist.

 

Von den verschiedenen Übersetzungen und Interpretationen des ersten Satzes (von Anaximander) der abendländischen Philosophie wollen wir schon gar nicht sprechen. Werfen wir aber - als Anschauungsbeispiel - einen kurzen Blick in die mit "Metaphysik" (übersetzt von Hermann  Bonitz) und "Nikomachische Ethik" (übersetzt von Franz Dirlmeier) bezeichneten Schriften des Aristoteles (6).

 

Was ist techne, was ist nous?

 

Bereits ganz am Anfang der "Metaphysik" erfahren wir in einer Fussnote des Herausgebers (Hector Carvallo für die Reihe "Rowohlts Klassiker der Literatur und der Wissenschaft“, 1966), dass das griechische Wort techne "hier" wie das lateinische ars Wissenschaft und Kunst zugleich bezeichne.

In der gleich darunter befindlichen Anmerkung werden als "gleichartig" bezeichnet:

  • Kunst (techne),
  • Wissenschaft (episteme),
  • Einsicht (phronesis),
  • Weisheit (sophia) und
  • Vernunft (nous),

wobei auf die "Nikomachische Ethik" (VI, 3-7) verwiesen wird.

Dirlmeier übersetzt hier die griechischen Wörter mit:

  • praktisches Können (techne),
  • wissenschaftliche Erkenntnis (episteme),
  • sittliche Einsicht (phronesis),
  • philosophische Weisheit (sophia) und
  • intuitiver Verstand (nous).

 

Da zeigen sich doch bereits beträchtliche Verschiedenheiten, ganz abgesehen davon dass Carvallo im Vorwort erklärt, er hätte eigentlich Bonitz' Wiedergabe von nous mit "Denken" lieber durch "Einsehen" ersetzt. Dies ist überdies eine verwunderliche Behauptung, da im "Register der griechischen Begriffe" im Anhang Bonitz' Wiedergabe von nous mit "Vernunft" oder "Geist" angegeben ist.

 

Unvollständige Register

 

Bleiben wir noch bei diesem kurzen (und nota bene ärgerlich unvollständigen - was leider auch zur "Wissenschaft" gehört) Register:

dianoia (Denken, Überlegung), eidenai (Wissen, Erkennen), epaiein (Verstehen), episteme (Wissenschaft, Erkenntnis), euporia (Finsicht), gnosis und gnorizein (Erkenntnis), logismos (Überlegung), noein (denken), noesis (Denken), philosophia (Philosophie), phronesis (Einsicht, Erkenntnis), poietikai (praktische Künste (Wissenschaften), Hervorbringen), praktikai (handelnde Künste (Wissenschaften), Handeln), sophia (Weisheit, Philosophie), theoria (Betrachtung, Spekulation), theoretikai (betrachtende, theoretische Künste (Wissenschaften)).

 

Nicht im Register sind: phronimos (verständig), epistasthai (Wissen), gignoskein (erkennen, Einsicht), theoria (Untersuchung, wissenschaftliche Betrachtung, Denken) noeton (erkennbar), dianoeton (Reflexion), logos (Vernunft, Begründung, usw.), dianoia und theoretike (Denkkraft; erstere auch noch: Vorstellung, denkende Überlegung), noeton und noumenon (das Gedachte).

 

Die Verwirrung beginnt also spätestens hier. Freilich ist sie nicht nur ein reines Übersetzungsproblem, sondern ebensosehr abhängig vom Zusammenhang, in dem diese Termini stehen, und von den näheren Bestimmungen, die Aristoteles ihnen gibt.

 

Aristoteles: Hierarchie der Wissenschaften

 

Fassen wir knapp zusammen: Für Aristoteles gehen Wissenschaft und Kunst aus der Erfahrung (empeiria) hervor. Höchste Wissenschaft ist die Weisheit; sie geht auf die ersten Ursachen (prota aitia) und Prinzipien (prota archai) und wird um ihrer selbst, um des Wissens und Erkennens willen betrieben..

Da diese Wissenschaft - als sophia - von Philosophen ausgeübt wird, heisst sie auch philosophia; weil sie auf das Erste (ta prota) geht, prote philosophia (lat. prima philosophia, Erste - oder eigentliche - Philosophie, systematische Grundwissenschaft); und da sie die göttlichste (theiotaton) und ehrwürdigste Wissenschaft ist, heisst sie auch Theologie.

Ihr als weitere theoretische Wissenschaften leicht untergeordnet sind

  • Mathematik (Astronomie, Arithmetik, Geometrie, Harmonik) und
  • Physik (Naturergründung).

Diesen wiederum untergeordnet sind die

  • praktischen (Ethik, Politik und Oekonomik) und
  • poietischen (Poetik, Rhetorik) Wissenschaften oder Künste.

Die Logik schliesslich, obwohl von späteren Peripatetikern als "Organon" (Werkzeug) oder Propädeutik gefasst, gehört wohl als integrierender Systembestandteil zu den theoretischen Wissenschaften.

 

Weshalb die Erste Philosophie schliesslich als "Metaphysik" gilt, liegt daran, dass der erste systematische Ordner der Aristotelischen Schriften, Andronikos von Rhodos (1. Jh. v. Chr.), die 14 "Bücher" welche vorwiegend von ihr handeln, nach die Schriften über die Natur, also ta meta ta physika, stellte. Diese Anordnung ist freilich keineswegs zufällig, wie es mit vielen anderen auch Klages (7) annimmt, sondern wie Hermann Glockner (8) schreibt, die "Metaphysik" ist nach der Physik entstanden (9) und kam wohl im peripatetischen Unterricht nach der Physik zum Vortrag, dies auch deswegen, weil sie tiefer führt als die Physik (10).

 

Wenn wir jetzt noch die Anmerkung von Dirlmeier zur NE VI, 7 anfügen, wonach Weisheit (sophia) traditionsgemäss hohes Können in Handwerk und Kunst  (bildende Künste, Dichtung) und höchste Erkenntnis umfasst, dann ist unser Katalog vollständig.

 

Über die unabsehbaren Auswirkungen der Aristotelischen Schriften bis heute wollen wir keine Worte verlieren; die Aristotelische Begriffsbestimmung, Systematik und Denkschulung prägte wie keine zweite die Auffassungen von Philosophie, Wissenschaft, Psychologie, Kunst, Morallehre und Staatstheorie des Abendlandes.

 

Philosophie und Wissenschaft contra Dichtung

 

Aristoteles war uns nur Beispiel für die Problematik begriffsscharfen Denkens. Dass solches in Philosophie wie Wissenschaft anzustreben ist, wird niemand ernstlich bestreiten; Dichtung jedoch "lebt" von anderem. Wird Homer unzweifelhaft als Dichter angesehen; so kann man den Epiker Hesiod schon als Philosophen bezeichnen. "Bei ihm, in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts v. Chr., löst sich von der mächtigen Tradition der homerischen Dichtung die Philosophie als etwas völlig Neues“ (11).

 

Manche Vorsokratiker waren wandernde Rhapsoden, und Parmenides Lehre ist als "episches Langgedicht" (12) erhalten.

Platon schliesslich, ein leidenschaftlicher Liebhaber der Musik, schrieb in Form von "Dialogen" und nahm, obwohl ein gewandter Analytiker, für die Kernstücke seiner Ideenlehre Zuflucht zum Mythos ("Höhlengleichnis", „Seelenlehre", "Weltschöpfung", "7. Brief").

In Platon verschmelzen also, wenn man so will, Dichtung und Wissenschaft, Philosophie und Religion, Mathematik und Psychologie, Metaphysik und Mythos.

 

 

Literatur

 

NE = Nikomachische Ethik. Übersetzung und Nachwort von Franz Dirlmeier. Stuttgart: Reclam 1969.

Metaph. = Metaphysik. Übersetzt von Hermann Bonitz. Reinbek: Rowohlt, rororo Klassiker, 1969.

 

Anmerkungen

 

1 Ludwig Klages: Die Sprache als Quell der Seelenkunde. Stuttgart: Hirzel 1948, 38.

2 a. a. O., V.

3 a. a. O., 60.

4 a. a. O., 365.

5 a. a. O., 339.

6 Es gibt von beiden noch je vier andere Übersetzungen ins Deutsche.

7 Ludwig Klages: Die Sprache als Quell der Seelenkunde. 1948, 236.

8 Hermann Glockner: Die europäische Philosophie von den Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart: Reclam 1958, 159.

9 Vgl. Werner Jaeger: Studien zur Entstehungsgeschichte der Metaphysik des Aristoteles. Berlin: Weidmann 1912.

10 Johannes Hirschberger: Kleine Philosophiegeschichte. Freiburg im Breisgau: Herder-Bücherei, Bd. 103, 1961, 39.

11 Olof Gigon: Der Ursprung der griechischen Philosophie von Hesiod bis Parmenides. Basel: Schwabe 1945; 2. Aufl. 1968, 13f.

12 a. a. O., 244.

 



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