Home Überleben durch Bescheidenerwerden?

                     Eine Betrachtung, geschrieben im Juni 1975

 

 

1933 – 1973: Parallelen

 

"Durch seine blinde Funktionsweise ist der gesellschaftliche Mechanismus im Begriff, sämtliche Bedingungen des materiellen und moralischen Wohlstands des Individuums, sämtliche Bedingungen der geistigen und kulturellen Entwicklung zu zerstören. Die Beherrschung dieses Mechanismus ist für uns eine Frage über Leben und Tod.“

 

So harsch formulierte es die französische Philosophin und Mystikerin Simone Weil 1933 [1], in einem Jahr, das sich im Rückblick als ebenso schicksalsschwer herausstellt wie 1973.

 

In diesen beiden Jahren ist es einer kleinen Gruppe entschlossener Politiker gelungen, die Herrschaft an sich zu reissen und das "schlingernde Schiff" (Geoffrey Vickers, 1970 [2]) mit harter Hand in eine neue Richtung zu reissen, die nicht bei allen Passagieren auf Begeisterung stiess.

Simone Weil nennt zwei Faktoren, welche es dem Faschismus leicht machten, die Macht zu ergreifen [3]. Der erste bestand - wie schon Anfang 1932 Trotzki rügte - im taktierenden Abwarten der Sozialdemokratischen und der Kommunistischen Partei Deutschlands. "Unter verschiedenen Vorwänden beharren die zwei grossen Parteien in einer gleicherweise verbrecherischen Passivität. Beide werden von Bürokraten geführt, die stets auf irgendeine bessere Gelegenheit warten, um zu handeln, statt die vorhandene Gelegenheit zu ergreifen, die vielleicht nie wiederkehren wird."

Als zweiten Faktor führt diese streitbare und hellsichtige Frau ins Feld: "Die gegenwärtigen Generationen wurden zunächst durch den Krieg zerstört und demoralisiert; dann brachten Frieden und Prosperität einerseits Luxus und Spekulationsfieber, die alle Bevölkerungsschichten gründlich korrumpierten, anderseits beraubten technische Veränderungen die Arbeiterklasse ihrer entscheidenden Kraft."

 

Es ist wohl derselbe "unbewältigte Wohlstand" (Walter Wittmann, 1972), der von der "Gesellschaft im Überfluss" (John Kenneth Galbraith, 1958) zur "Überdrussgesellschaft" (Roland Nitsche, 1971) führte. Und wenn der russische Atomphysiker Andrej Sacharow 1968 die Gefährdung der modernen Gesellschaft durch den "verkalkten Dogmatismus einer bürokratischen Minderheit" ausgemalt hat, dann ist, die Parallele von 1973 mit 1933 vielleicht nicht zu weit hergeholt.

 

Wechselbäder

 

Was ist denn 1973 geschehen? Das Menetekel "Ölschock" erscheint in Flammenschrift an der Wand des Kartenhauses. Ein Ereignis, das einer Handvoll Staaten erlaubt hat, innerhalb kurzer Zeit ihre Einnahmen und Devisenreserven auf das Zehnfache zu erhöhen.

Doch bei näherem Zusehen zeigt sich, dass diese sogenannte Ölkrise - paradox wie alles Wesentliche - nur Öl in das schon lange schwelende Feuer nationalstaatlicher und -wirtschaftlicher Zänkereien gegossen hat. Das Weltwährungssystem war nämlich schon vorher zerfallen, der Dollar und die Börsenkurse waren abgesackt, manche Rohstoffe knapp geworden oder ihre Preise steil gestiegen, der Jom Kippur-Krieg bereits durch drei vorausgegangene vorbereitet gewesen, und schliesslich hatten Watergate und der Abzug der Amerikaner aus Südvietnam mehr als nur politische Fanale gesetzt.

 

Nach einer in der Weltgeschichte wohl einzigartigen Blütezeit sowohl was Dauer als auch Wertschöpfung und die Verbreitung technischer Errungenschaften im Verein mit der Entstehung - "Befreiung"? - unzähliger neuer Staatsgebilde kommt das böse Erwachen. Zwar haben die ungestüme wirtschaftliche Expansion und das nicht minder explosive Bevölkerungswachstum auch zahlreiche Enttäuschungen im Schlepptau geführt und war es dem "Bürger" bereits seit Mitte der fünfziger Jahre nicht mehr vergönnt gewesen, sein "Glück im Winkel" ungestört zu geniessen, aber dies tat dem "ungezähmten Wonnetaumel" (Horaz) im "Wohlfahrtsstaat" (Gunnar Myrdal, 1958) nur wenig Abbruch. Man versuchte, sich dagegen, so gut es ging, abzuschirmen.

 

Erst gegen Ende der sechziger Jahre half diese "Immunisierungsstrategie" (Hans Albert) nicht mehr weiter: Die weltweite Sexual- und Studentenrevolte, Bürgerrechtsbewegungen und Frauenemanzipation, Beat und Pop durchschlugen die sich langsam auflösende Abwehrfront. Doch nicht nur die Brechung von Tabus und Autoritäten trugen daran Schuld, sondern genausosehr die Anheizung von Genuss und Konsum durch gewisse Kreise sowie die Wechselbäder von "Nachfrageüberhang" und "Überhitzung", "Talsohle" und "Konjunkturdämpfung", "Globalsteuerung" und "Stabilisierung", in welche die offiziellen Stellen den geplagten Bürger tauchten.

 

Gegen die Natur

 

Die Verunsicherung wurde manifest. Nicht zuletzt, weil auch die Wissenschaft, etwa Zukunftsforschung, Städteforschung, Biochemie, Psychopharmakologie und Soziologie manche liebgewordene Vorstellungen des "eindimensionalen Menschen" (Herbert Marcuse, 1964) über den Haufen warfen. Hinzu kam schliesslich nach dem Vorgeplänkel mit den Detergentien und dem DDT (Rachel Carson) die spätestens seit der Torrey-Canyon-Katastrophe (1967), den Fischsterben im Rhein und den Phosphaten in den Waschmitteln sowie der zunehmenden Verschmutzung beliebter Badestrände und Verschandelung von Ferienorten durch Blechlawinen, Plastik, Asphalt, Beton und Bahnen langsam dämmernde Einsicht, dass es der Mensch mit der unwiderruflichen Zerstörung, Vergiftung und Ausbeutung der Natur zu weit getrieben habe.

 

Ziemlich genau 1970, im Jahr des Europäischen Naturschutzes und der Umweltschutzbotschaft Präsident Nixons, machten sich Ernüchterung und Ansätze zur Besinnung breit. So war es nur noch ein kleiner Schritt, sich auf der einen Seite um die "Qualität des Lebens" zu bemühen, auf der andern Seite den "teuflischen Regelkreisen" - dies der deutsche Titel von Jay W. Forresters Studie "World Dynamics", 1971 - und den "Grenzen des Wachstums" (Dennis Meadows,1972) nachzuspüren.

Allerdings war für viele dieser Schock zu gross, so dass sie sich Ende 1972 in die "Nostalgie" retteten bis das folgende Jahr mit noch härteren Schlägen aufwartete. Im Januar 1975 war man sich endlich über das Ausmass des Scherbenhaufens klar, als nämlich der statistische Nachweis vorlag, dass in der Schweiz, in der Bundesrepublik und in England das Bruttosozialprodukt stagnierte, in den USA, Japan und Griechenland gar gefallen war. Wenn dann noch der Präsident des mächtigsten Landes der Welt in seiner "State of the Union"-Botschaft bekannte, "Die Lage ist nicht gut", konnte niemand mehr die Augen vor den unerfreulichen Tatsachen verschliessen.

 

Überleben

 

Wiederum paradoxerweise hat somit der in Zusammenhang mit dem "Schutz unseres Lebensraumes" wieder aufgetauchte Begriff des "Überlebens" unversehens eine neue Bedeutung erlangt. Meinte man beispielsweise an dem wegweisenden ETH-Symposium im November 1970, der Aktualität der Bedrohung gerecht zu werden, indem man forderte, "dass die zum Überleben des Menschen notwendige Überlebenswissenschaft ein universelles Wissen, ein spezialisiertes ökologisch-ökonomisches Können mit denkbar grösster biopolitischer und technischer Tatkraft vereinen muss" [4], so haben sich die Gewichte urplötzlich auf die Seite der Ökonomie verlagert. Das ohnehin fatal an Charles Darwin erinnernde Schlagwort rückt damit erst recht in die Nähe des "Kampfs ums Dasein", und das betrifft heute tatsächlich das "Bestehen" der anziehenden Konkurrenz auf dem Produktions- wie Beschäftigungssektor.

 

Das heisst, die eben erst in den Mittelpunkt gerückte "Umwelt" muss erneut zurücktreten gegenüber dem nun einsetzenden Gerangel um Exportanteile und Stützungsaktionen, um die Auslastung der (Über-)Kapazitäten und die Erhaltung der Arbeitsplätze. Die Bewältigung von vielfach zweistelligen Inflationsraten, von riesigen Zahlungsbilanzdefiziten und Wechselkursschwankungen, von Konsumrückgang, knapper gewordenen Budgets für Forschungs- und Reform-; Infrastruktur- und Sanierungsvorhaben sowie Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit ist wieselflink auf der Prioritätenskala empor geklettert.

 

Wirtschaftliches Überleben

 

Das "Überleben" von Unternehmen, als primäres Ziel einer jeden ernsthaften Geschäftspolitik vom Streben nach immer neuen Produkten und Markterweiterung, höheren Umsätzen und Erträgen lange Zeit in den Schatten gestellt, wird wieder entdeckt. Genausosehr geht es aber auf einmal wieder auch um das finanzielle "Überleben" zahlreicher Einzelpersonen und Familien.

 

Dabei ergeben sich allerdings eine ganze Reihe neuer circuli vitiosi. So halten etwa die unsicheren Zukunftsaussichten die privaten Haushalte zum Sparen an, was zu geringerer Nachfrage führt. Die dadurch notwendig gewordene Produktionsbremsung stellt Arbeitskraft frei, die somit "abgebaut" werden muss. Es hängt also ein Damoklesschwert über den Arbeitnehmern, so dass sie erst recht zu sparen beginnen. Ähnliche Schlingen ziehen sich etwa via Kapitalknappheit, Investitionsangst und Lagerproblemen, Kostendruck und Preiskontrollen, Rohstoffpreis- und Wechselkursschwankungen auch über den Unternehmen zusammen.

 

Da "der Staat" sich überdies tief in die roten Zahlen hat manövrieren lassen, können von ihm nur unzureichende Konjunkturspritzen erwartet werden. Und substantiell höhere Steuern kann er sinnvollerweise erst einzuziehen beginnen, wenn die Konjunktur eine Erholungstendenz zeigt, was vorderhand nicht der Fall ist.

 

Späte Einsicht

 

Die Forderung nach "Bescheidenerwerden" ist demzufolge eine zwiespältige Angelegenheit. Schon dass sie sich unbeschadet der weltwirtschaftlichen Entwicklung aus den sechziger Jahren über die "Wende von 1973" hinweggerettet hat, sollte uns stutzig machen.

Nicht nur dass etwa die "Leistungsgesellschaft" bei manchen langsam in Verruf geraten war, nein, auch die Appelle an die Vernunft, die Aufrufe zum Masshalten und die Ermahnungen, Verzicht zu üben, wurden doch mit einer unwilligen Bewegung in den Wind geschlagen. Jetzt aber schallt es wie mit einer Stimme, alle müssten den Gürtel enger schnallen. Da kann doch etwas nicht stimmen.

 

Abgesehen davon, dass diese späte Einsicht der vielgepriesenen humanistisch-abendländischen Tradition kein allzugutes Zeugnis ausstellt, wenn sie doch einzig, wie man in der Schweiz zu sagen pflegt, übers Portemonnaie hervorgerufen wurde, ist sie der erwähnten unglückseligen wirtschaftlichen Verkettungen zufolge "kontraproduktiv", das heisst, sie gereicht zum Schaden aller. Das liegt daran, dass es die Wirtschaft, den Anfeindungen von verschiedensten Seiten zum Trotz, eben "in sich hat": Sie ist nicht nur ein ungestüm drängender Produktionsapparat, ein Staat im Staat, sondern auch Arbeitsplatz für einen Grossteil der Bevölkerung.

Nur dank dem Einkommen aus Handel, Gewerbe, Industrie und Verwaltung ist der "Homo faber" in der - glücklichen - Lage, an den Leistungen ebenderselben zu partizipieren. Der Fortschritt, den der Mensch selber schafft - das Hinterherjagen ist ein unzutreffendes Bild -, lässt ihn an seinen eigenen Früchten teilhaben. Das ist keine idyllische Verklärung etwa des "militärischindustriellen Komplexes", sondern Realität. "Ohne Fleiss keinen Preis!"

Banal, aber elementar.

 

Kein „Retour à la nature“

 

Es gibt deshalb auch kein "Retour à la nature", sosehr diese Vision in vielen Köpfen herumspukt. Die Zeiten eines Franz von Assisi oder Henry David Thoreau sind unwiderruflich vorbei. Die "moderne Industriegesellschaft" (John Kenneth Galbraith, 1967) hat sich auf einen derart hohen Entwicklungsstand geschraubt, dass deren Zerstörung nicht zurück zur Natur, sondern in die Steinzeit (Gösta Ehrensvärdt, 1972) führte. Aber auf Traktoren und Landmaschinen, Transistorradios und Gaskocher möchten nicht einmal die "Berglütli" oder Pioniere von "Longo Mai" verzichten.

 

Auch der Philosoph und Psychologe Ludwig Klages, der als einer der ersten bereits zu Beginn unseres Jahrhunderts "anhand einer furchtbaren Kasuistik der Naturzerstörung durch die Menschheit der Gegenwart den Nachweis zu führen versuchte, dass der Mensch als Träger des Geistes sich mit den Planeten, der ihn gebar, zerworfen habe" [5], wollte nicht darauf verzichten, seine Erkenntnisse gedruckt vorzulegen, was doch das Fällen von Bäumen sowie die Existenz von Fabriken, Maschinen und Transportmittel für die Verarbeitung und Beförderung des Holzes, die Herstellung des Papiers, den Satz und Druck, das Schneiden, Sortieren, Binden und die Verbreitung der Schriften - auf ausgebauten Verkehrswegen - zur Voraussetzung hat.

 

Wirtschaft und Technik, Arbeit und Geld sind also unabdingbare Erfordernisse der Zivilisation und damit auch der Kultur. Das kann sich bei einigen Nachdenken jeder bis ins einzelne ausmalen. Dennoch bleibt ein ungutes Gefühl. Irgendetwas scheint nicht zu stimmen. Was ist es? Ist es die Masslosigkeit, der unersättliche "Wille zur Macht", das Nützlichkeitsdenken, die Borniertheit und Unfähigkeit des Menschen?

Es ist schon seltsam, Maschine und Geschäft sind zwar notwendig, lebensnotwendig sogar, doch beschleicht uns angesichts deren Überhandnehmens grosses Unbehagen.

 

Zerstörung

 

Vielleicht hilft es, wenn wir zu den Erkenntnissen der späten sechziger Jahre zurückgehen. Sie lauteten, auf die knappste Formel gebracht: Der Mensch ist daran, seine Lebensgrundlagen zu zerstören!

 

„Unser Verhältnis zu den andern Menschen und zum Rest der Schöpfung verschlechtert sich unaufhörlich. Diese Gesellschaft besitzt mehr Komfort, Sicherheit und Macht als je eine andere zuvor, die Qualität des Lebens jedoch wird durch den physischen und emotionellen Abfallhaufen, den wir geschaffen haben, herabgewertet.

Wir wissen, dass das Leben durch die gegenwärtigen sozialen Konditionen beeinträchtigt wird, und haben dennoch teil an einem System, das die Erde und die menschlichen Bindungen zerstört."

 

So etwa wetterte der New Yorker Mikrobiologe René Dubos in seinem Buch "Der entfesselte Fortschritt“, das 1969 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde. Und er doppelte nach:

"Das aggressive Streben nach Geld und Prestige, die Zerstörung landschaftlicher Schönheit und historischer Wahrzeichen, die Vergeudung von Naturprodukten, die durch eine gedankenlose Technologie verursachte Bedrohung der Gesundheit - all diese Merkmale tragen zur Entmenschlichung des Lebens bei ... Der Preis für die Macht, symbolisiert durch Superfernstrassen und gigantische Fabrikanlagen ist eine Entweihung der Natur und des menschlichen Lebens" [6].

 

Was ist an diesen Feststellungen bemerkenswert? Dass sie mehr als ein halbes Jahrhundert nach Klages' Aufruf "Mensch und Erde" (1913 [7]), also nach zwei Weltkriegen und zahlreichen weiteren "bewaffneten Konflikten, nach Zwischenkriegszeiten und Aufschwüngen des Wohlstands getroffen wurden, werden mussten? Oder dass, wie Klages als Kassandra nur in weiser Voraussicht gewarnt hatte, "Abläufe parasitären Charakters aufzehrende Abläufe sind, denen früher oder später der 'Stoff' ausgeht", womit der "letzte Erfolg die absolute Zerstörung ist" - denn "Wille ist immer erneuter Lebensmord und sein Symbol der Selbstmord" [8]?

 

Entmenschlichung

 

Gewiss, der Kulturpessimismus hat eine lange Geschichte, und die Warnungen von Philosophen, Dichtern und Wissenschaftern haben seit dem Einsetzen der industriellen Revolution stetig zugenommen, doch man nahm sie nicht ernst. Die Kritiker und Mahner wurden als Aussenseiter belächelt oder gar totgeschwiegen und ihre Anhänger, etwa Heimatschützer und Naturfreunde, Pazifisten und Seelenerzieher als Sonderlinge angesehen.

 

Aggressivität und Fortschritt standen auf den Fahnen der Planer und Technokraten. Und daran scheint sich, trotz den paar letzten Jahren der "Einkehr", nichts geändert zu haben: Der erst jüngst beendete Krieg in Indochina kostete allein die USA - ausser Menschenleben - 110 bis 150 Milliarden Dollar, und die "Folgekosten" werden nochmals soviel ausmachen.

Alle Staaten der Erde haben 1974 zusammen 210 Milliarden Dollar für Rüstung ausgegeben (und dabei konnte z .B. der "Overkill" zwischen USA und UdSSR vom Faktor 50 auf 100 verdoppelt werden). Der Unicef, das Kinderhilfswerk der "Vereinten Nationen", verfügte dem gegenüber über ein Budget von etwa 100 Millionen Dollar - also rund 2000 Mal weniger. Hat Dubos mit seiner "Entmenschlichung des Lebens" solches im kritischen Visier?

 

Wenn wir dann noch vernehmen, "Experten haben ausgerechnet, dass die Welt in den nächsten 10 Jahren weit über 1000 Milliarden Dollar in die Erdölversorgung investieren muss" (Inserat der BP), dann kann man sich des Eindrucks der Masslosigkeit kaum mehr entziehen. Doch, "missgönnt den Erdölgesellschaften ihre Gewinne nicht", warnt die Chase Manhattan Bank, "sie werden sie dringend gebrauchen, um den Ölbedarf der Welt zu befriedigen und ausreichende Ölquellen zu erschliessen".

Da die Ölgesellschaften in den letzten vier Jahren aber um 60 Milliarden verdient haben, müssen sie in Zukunft noch weit höhere Gewinne erzielen (Die Zeit, 4.4.1975), zumal sich der Weltenergiebedarf bis 1985 noch fast verdoppeln soll (NZZ, 14./15.6.1975). Wohin soll das führen?

 

Erfolgsraserei

 

Muss man da tatsächlich nochmals an Klages' bittere Worte erinnert werden? "Entledigt der Lebenshülle und spottend des Mutterschosses, entledigt am Ende sogar des Widerstands der Naturgewalten (ausgenommen die eine: den Tod!) erzeugt und bezeugt sich frohlockend das nackte Ich; allein das Frohlocken erstirbt, noch ehe es Stimme gewann. Denn nun enthüllt sich ...: dass der vermeinte Besitzer des Willens in Wahrheit der Besessene des Willens geworden, Fanatiker des Rekordwahns, Marionette am Drahte der Machtsucht, Narr der Erfolgsraserei, Rennmaschine, gehetzt und getrieben vom Irrsinn an das Idol der - grössten Zahl!“ [9].

 

Gretchenfragen

 

Die Gretchenfrage ist nicht mehr zu umgehen: Wie hast Du's mit dem Überleben?

 

  • Sind ein unaufhaltsames Wettrüsten und ein hundertfacher Overkill, weltweite Erdölexploration und gigantische Gewinne wirklich sowohl Bedingung als auch Garantie dafür?
  • Sind wir alle, wie Simone Weil meinte, so "gründlich korrumpiert", dass wir in "verbrecherischer Passivität" nur noch hilflos zusehen, wie finstere Strategien und weltumspannende Multis unser Geschick bestimmen?
  • Was heisst da überhaupt "überleben"?
  • Gewiss, am vorhandenen Kriegsmaterial ist nicht mehr zu rütteln, auch nicht daran, dass er Weltenergiebedarf fast zur Hälfte von Erdöl und zu einem Fünftel von Erdgas getragen wird, doch müssen wir das einfach als unumstösslich gegeben hinnehmen?
  • Ist ein Überleben im Schatten solcher Bedrohungen und Abhängigkeiten noch menschenwürdig?
  • Wo bleiben da die Rechte des Individuums, der Gesellschaft, aber auch der Umwelt?
  • Steht somit unsere gesamte Zivilisation auf tönernen Füssen in öligen Sümpfen?
  • Ist es eine Maschinerie, die so lange unaufhaltsam .weiterläuft, bis sie zusammenbricht?

 

Es sieht so aus, als sei die Beherrschung dieses Mechanismus für uns wirklich "zu einer Frage über Leben und Tod geworden" (Simone Weil).

 

  • Wer aber wäre in der Lage, diesen Mechanismus zu beherrschen und auf welchem Weg könnte dies gelingen?
  • Ist "Bescheidenerwerden" das geeignete Rezept dafür?
  • Wer will, kann und darf in welchen Bereichen bescheidener werden?

 

 

Anmerkungen

 

1 Simone Weil: Freiheit und Unterdrückung. München: Rogner & Bernhard 1975, S. 133.

2 Geoffrey Vickers: Freedom in a Rocking Boat. Penguin Books, 1970;
dt.: Freiheit im kybernetischen Zeitalter. Stuttgart: Seewald 1975.

3 Simone Weil: Freiheit und Unterdrückung. München: Rogner & Bernhard 1975, S. 25 und 134.

4 Prof. Hans Mislin in "Schutz unseres Lebensraumes", Frauenfeld: Huber 1971, S. 27.

5 Ludwig Klages: Der Geist als Widersacher der Seele. 1929-32; 5. Aufl. Bonn: Verlag Bouvier Herbert Grundmann 1972, "Vorwort für die Zeitgenossen", S. XIX.

6 René Dubos: Der entfesselte Fortschritt. Bergisch Gladbach: Gustav Lübbe 1972, S. 16 und 14 (engl.: "So Human an Animal", 1969).

7 Ludwig Klages im gleichnamigen Sammelband "Mensch und Erde", 1920; 7. Aufl, Stuttgart: Kröner 1973, S. 1-25.

8 Siehe 4., S. 767 und 665.

9 Siehe 4., S. 665.

 



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