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Fragmentarische Notizen einer Vorlesung von Erich Brock an der Universität Zürich,

Sommersemester 1965

 

 

 

 

Es gibt drei Gesprächstypen:

der erste, niedrigste: die objektiv wertlose Tatsachenmitteilung aus dem eigenen Gesichtskreis und von sich selbst. Es ist wie ein Tauschgeschäft: gelangweiltes Zuhören, bis man selber erzählen kann.

Der zweite Typus: das Gespräch als Mittel zur Verständigung: eine Mitteilung von objektiven Sachverhalten. Es kann hinüberführen zur Dialektik.

Der dritte Typus: Das Gespräch als Spielform (unter Umständen mit bekanntem Material), d. h. gemeinsamem gegenwärtigem Stoff durch das Wie Reiz verleihen; es ist also ein künstlerisches Gespräch, eine Art Tanz, Scheingefecht, kein Herumtändeln. ("Fraubasereien" sind als Manifestationen des Allgemeinen zu verstehen.)

 

Die (äussere) Form (eines Gesprächs, Aphorismus) ist also eine Wohltat, wenn sie nicht zu selbständig ist; sie hebt alles auf das Niveau des erfreulichen Austausches; doch muss bewusst bleiben, dass gegenseitig viel verborgen bleibt.

 

Alles was den Menschen nährt und ausfüllt, grenzt ihn auch wieder ein beengt. Freimachen (Erweiterung, Befreiung) führt ins Leere, entzieht den Lebensstoff. Alles was fruchtbar ist, ist ein Kompromiss.

 

 

Religion: Soll der Mensch alles verlassen, um sich zu befreien, oder fällt er dann ins Leere? Der Fehler der Prediger ist: Sie predigen Abwerfen und Lassen, ohne eine neue Behausung zu zeigen (Gott ist sie nicht). Die Lösung besteht darin: ein Rhythmus von Lassen, Nehmen und Sich-nehmen-lassen, von Ausbrechen und Neueinhausen; also :zwischen zwei Unzulänglichkeiten leben.

 

Es ist anstrengend, das Leben richtig zu leben.

 

Mystik ist nicht rational (durch Kunde) ausdrückbar. Wo die Welt konkret ist, sind die Monaden, da wurde es eng; das ist die Tragik, der Kampf des menschlichen Daseins, der Welt.

 

Individuation heisst Konkretion und Bescheidung.

 

Die Aufgabe ist: der Mensch zwischen zwei Polen. Der Mensch strebt zu Endlichem und Unendlichem.

 

 

Eitelkeit rührt aus einem versteckten Gefühl der Nichtigkeit her. Grosse Eitelkeit wird mit der grössten Begabung fertig. Dagegen gibt es nur ein ruhiges, strenggeprüftes Selbstbewusstsein; man soll sich nicht selbst erniedrigen, sich nicht als "letzten Auswurf" betrachten.

 

Gemeinsames ist in flüchtigen Begegnungen mit anderen Menschen beobachtbar; aber man soll da nicht zuwenig und nicht zuviel einsetzen.

 

Grosse Architekturen (des Lebens) sind selten und problematisch; es heisst: das Leben möblieren, sich kleine Winkel einrichten, in denen man wohnen kann.

 

Es gibt Eitelkeit mit einem primitiven Zug nach Witzelei und Lächerlichmachen.

 

Lachen ist die platteste Form der Aufgedrehtheit.

 

Es gibt eine Geistreichelei der hingestreuten Blümchen (Concetti), z. B. in den Briefen Voitures, Sarrasins (?), eine ins Gestaltlose zerfliessende Ornamentik, wie etwa der Hochaltar des Münsters zu Breisach (und Zwettel).

 

Kleidung ist ein Ausdruck von Höflichkeit (gegen eine Zumutung andern gegenüber).

 

Gegen die Sachlichkeit in der heutigen Baukunst steht: der Mensch hat ein Recht auf Schönes und Erhebendes; das Schmuckbedürfnis ist weder verlogen noch falsch, Bejahendes und Schönes sind immer nötig.

 

Das Gediegene, Wahrheit, Wahrhaftigkeit sind Ausgangspunkt und Bedingung, die Anderen zu beherrschen.

 

Es gibt Wahrheiten, die auszusprechen nicht förderlich ist.

Der Mensch will und braucht gar nicht nur Wahrheit!

 

Das Ersparen einer unangenehmen Wahrheit heisst: man hält vom andern mehr als eigentlich gerechtfertigt ist; es ist eine Frage des Vertrauens.

Gefahr, bei der Wahrheit trivial zu werden; Lösung: Feder weglegen und Klappe halten.

Wahrheiten verstauben und verschleissen weil sie nur Halbwahrheiten sind, Sie sollten immer im Verhältnis zu ihrem Gegenteil gesehen werden, ausnahmslos.

Immer: beide Seiten haben Recht: Das einzige Unrecht ist, das absolute Recht haben zu wollen.

 

Der Sumpf des Herabziehenden.

 

Schwung und Poesie sind berechtigt.

 

Literatur ist ein wogender Abgrund von Hell und Dunkel. Deshalb herrschen in Frankreich Literatur und bildende Künste vor, gegenüber in Deutschland Musik und Lyrik. Nur die französische Prosa ist auf der Höhe der Literatur (wenn auch sehr ähnlich der deutschen Lyrik).

Es ist eine Armut der französischen Sprache an Wörtern, nicht aber an Nuancen.

 

Das Faselhafte der modernen Lyrik.

 

Die Janusköpfigkeit der englischen Sprache: Geschäftssprache und Lyrik.

 

 

Philosophie: Die Dialektik Geist-Natur als Hauptproblem ist nie zu lösen.

 

Moralismus heisst: zurückführen auf Kategorien, die nicht rein ästhetisch sind: Wahrheit, Gesinnung, Herz, Gemüt,

Vauvenargues: "Die grossen Gedanken kommen aus der. Herzen."

 

Gehalt drängt zur Form, die andererseits nicht für sich selber bestehen kann; die Wahrheit liegt in der Mitte.

Tatsache: Ablösung von Einseitigem (z. B. übersteigerter Barock) durch Gegenströmung, die ebenfalls einseitig.

 

 

Dialog: Zwei Meinungen werden gegeneinander ausgespielt, von denen keine ganz richtig oder falsch ist. Je nach der Zeitlage hat die eine Position der Polarität mehr Kraft.

In der Literatur gibt es keine solchen Dialoge. Platons Dialoge sind eigentlich keine.

 

Alle grossen Gedanken des Geistes beruhen auf Polarität: Druck und Zug; Heraklit; Empedokles: Zweiphasenverhältnis, -ablauf zwischen Liebe (Einheit) und Hass (Vielfalt).

 

Alles menschliche Begreifen bedeutet Schematisieren, d. h. teilweises Unrechttun an der Natur.

 

Man muss die Denkform anpassen, geschmeidig sein, das heisst, die Wirklichkeit annehmen, Alle Wahrheit ist nur relativ erreichbar, sie misst sich an ihrer Fruchtbarkeit.

 

Mass für beides: der Mut, kleine Gegenläufigkeiten zu ignorieren, aber zu sehen.

 

 

Kunst: Nicht das Neue als solches suchen, da der Gehalt an Wirklichkeit, Menschlichkeit sich nicht ändert, Neues kann nur unwesentlich sein. Also: Altes mit Kraft und Überzeugung sagen.

Wertsetzungen Vernichtende haben nicht die Kraft, das menschlich Schlichte zu erleben und zu schaffen.

 

Das Natürliche ausgeschöpft bei der heutigen Kunst; sie ist Künstlichkeit, Nichtkönnerei.

 

Aberwitzige Phantastik in der neuen Architektur; Kirchen, Theater, Einfamilienhäuser.

 

Benn: alt, dagewesen (Simplicissimus 1908), abgedroschene Zynismen.

 

Allein Bemühung und Ernst kann nicht honoriert werden.

Trivialität, Verbrauchtheit gibt es.

Jede Formulierung trifft an einem Punkt ins Schwarze.

 

Das Zeigen von beiden Seiten verwirrt die Geister, nicht aber Kenner.

Alle Aussagen müssen ergänzt werden durch ihr Gegenteil.

 

Klarheit als Hemmnis, die Tiefe zu durchblicken.

Zeitfehler: Der Autor glaubt selbst nicht ganz, was er schreibt, wovon er die Andern überzeugen will.

 

Nur wer Wärme hat, soll Kunst ausüben.

 

Archaisch heisst ungestaltet; es ist aber Substanz im Hintergrund.

Mit zunehmender Differenzierung und Subtilität verschwindet aber die Substanz, (Heutige Kunst: es ist nur das, was es ist; es ist nichts dahinter).

 

Alles Bejahende ist schwieriger als das Verneinende.

 

Der Machttrieb des Menschen ist eigentlich, substanziell.

 

Was man nicht erwerben kann, macht man herunter, Die 'sauren Trauben' vereitern und vergiften den Menschen.

 

Der Mensch kann andern nichts vormachten, wenn er es selbst nicht glaubt, nicht überzeugt ist davon.

 

Es gibt auch falsche instinktive Einschätzungen (Selbsttäuschung).

Einige sind immer, alle nur einige Zeit hinters Licht führbar.

 

Wichtig ist, das Leben auszuhalten und möglicherweise ein bisschen glücklich zu sein, Es ist der Versuch, das Ausgeschlossensein, Enterbtsein auszuhalten. Mut und Wille, sich nicht einengen zu lassen.

 

Handeln ist nur durch partielle Blindheit möglich.

Mit Mut und Kraft kann man auch Irrtümer zum Guten wandeln.

 

Der Mensch kann vielleicht nur absolut sein, wenn er sich entzweischneidet und die eine Hälfte fortwirft - wenn er etwas ganz Wesentliches und Grosses tun will. Ein bisschen Fanatismus ist da vonnöten.

 

Dïe Natur hat Gehalt, Bedeutsamkeit, Wesenhaftigkeit.

Die Triebe sind nicht ein Urwald der Natur, der zu roden sei, sondern Kapital der Lebensbeglückung, das man lange erhalten, nicht ausbeuten soll.

 

Ekel hat man nicht gegenüber etwas an sich Schlechtem, sondern gegenüber Übermass, Zumutung. Beruht auf (Reaktions-)Schwäche, Übersättigung (Verherrlichung der Schwäche im Christentum).

Schwäche erwünscht; gesättigte Natur gibt dem Geist Freiheit.

Der starke Mensch empfindet keinen Ekel.

 

Die eigentliche Kraft liegt im Nervensystem, nicht in den Muskeln. Der Nervenschwache kann Schönes nicht erleben dafür Negatives umso intensiver und aus den Dingen heraussehen.

 

Wenn der Mensch bestimmte Seiten sieht, wenden ihm die Gegenstände auch diese Seiten zu. Es liegt in den Dingen: d. h. je mehr man ihnen zumutet, darin sieht, desto grösser ist das Vertrauen.

 

Wir müssen die Menschen umerziehen, dass sie das Gute (= sozial Nützliche) angenehm (= natürlich) empfinden.

 

Ekel in rasantem Sinne ist Schwäche, aber darin sehr grosse Differenziertheit; der Schwache sieht Einzelheiten aus Dingen, da er nichts in sich hat; das ergibt die Depressivität der Schwachen.

 

Das Naturgeschehen macht Starkes stärker, Schwaches schwächer. Weltsinn auf dem Niveau des Menschen, im individuellen Charakter: dass Naturschwacher Kraft aus Wille, Geist, Gläubigkeit gewinnt.

 

Das Leben hat Kunstfähigkeit in sich: Kunst als Vehikel zu weitergeschwungenen Unternehmungen.

 

Kraft ist etwas aufbauend Wirkendes. Starke Menschen pflegen Negatives nicht zu beachten oder es in Folgerichtigkeit und Differenzierung nicht voll zu erfassen. Kein Mensch kommt ohne Verdrängung aus, kann nicht ein positives Weltbild haben, ohne nicht vieles nicht zu sehen.

 

 

Leben: Richtiges sehen, den Mittelweg. Das Negative sehen, aber es nicht zum Prinzip werden lassen. Theoretisch ist die Frage lösbar, praktisch ist ein Mittelweg zu suchen.

 

"Der Mensch, der alles Böse kennt und Negatives erfahren hat, kommt vom Zaungasttum zu Kraft und Mut."

 

Ruinierend: Hass, den man nie zur Handlung werden lassen kann.

Wer hasst, soll weg-, vorübergehen (Nietzsche).

 

Schwacher, der formal kunstfähig: "Ihm gab ein Gott zu sagen, was er leidet."

 

Wissen um die Grösse des Menschen und die Schwäche (Pascal).

 

Vauvenargues: "Die Unglücklichen haben immer unrecht", bedeutet die elementare Empfindung: Der Glückliche hat recht, Auch die vom Schicksal Geschlagenen - sind nicht brutal genug, glücklich zu sein,

Es ist eine abschüssige Position, mit Unglück zu spielen, sich damit zu drapieren,

Preisung des Guten der Freude,

 

Vauvenargues:  "Wir haben nicht das Recht, diejenigen elend (schlecht; unglücklich) zu machen, die wir nicht gut (glücklich) machen können."

 

Man muss Augen haben für Dinge, die nicht mehr gesagt werden können (Leiden etc.).

 

Eine Entscheidung zu fällen, kann wohl niemand auf sich nehmen.

Das Leben selbst können wir uns nicht vom Leibe halten, das sind wir selbst.

Man kann nicht bei jeder Zumutung der Existenz existieren.

 

Nicht nur Mut und Glaube ist nötig, sondern man muss sich auch fühlen als theoretisches Wesen mit Vernunftwürde. Man kann verzweifeln aus Vernunftgründen.

 

Der Mensch muss à tout prix Ja sagen, auch wenn er innerlich zerbricht.

 

 

Gegensatz: Erbötigen contra Triumphieren (ruft Reaktion des Schicksals hervor).

 

Warum-Fragen ist erlaubt, man kriegt nur keine Antwort.

Pietistische Tröstungen sind falsch, trügerisch.

Religiöser Mensch (in Lage wie Vauvenargues) sucht Macht.

Magischer Gedanke: Der Mensch soll hören und ausführen, dann hat er seine Ruhe, sonst wird er gepeinigt.

"Glaube, der Berge versetzt" ist im Grunde atheistisch.

Menschlich: "Lass den Kelch vorübergehen, aber nur, wenn Du willst."

 

Vauvenargues: Naivität des Strebens nach dem Grossen.

 

Unbeugbarer Mut, der einen doch zum Ziel kommen lässt.

Verurteilung, das Leben zu geniessen.

Tod: Erinnerung an: zu leben. Aber das ist ein Leben aus Angst, ergibt Hektik (des Geniessens).

 

Abquälen ob Augenblick intensiv gelebt ist, zerstört gerade seine Präsenz (Mitreissendes ist dann gerade nicht anwesend).

 

 Wichtig: Sich einrichten, mit dem, was da ist.

 

Schwer: Im Hier und Jetzt zu leben ohne Hektik, ohne Drücken und Pressen. Es gibt nur den Hintergrund, dass nicht alles davon abhängt.

 

Goethe: Nach Drüben ist die Aussicht vorhanden.

 

Letztes Lebensproblem: Leben von weither, fernher gebettet sein, das aber diesseitiges Leben nicht verzehren darf.

 

Platon: Grösster Verderber: Vorderwelt zerstört zugunsten eines Hintergrundes, den er nicht zu geben vermochte.

später Aristoteles: Die Erscheinungen retten (vor der Vernunft, die alles verzehrt). Schade, dass Aristoteles nicht grösseren Einfluss hatte. Nietzsche hat als Erster seine Gedanken aufgegriffen und Platon gebrandmarkt.

 

Alles Gewalt (auch in Natur) = nur Halbwahrheit.

Vernunft = Ausgleich, Harmonie, mittlere Angemessenheit von Mittel und Zweck.

 

"Kampf ums Dasein" unter Menschen bedeutet Sozialdarwinismus.

Rechtes, Gutes, Gerechtes (allerdings nicht genau auszumachen) setzt sich auf die Dauer immer durch.

(Hegel: Alles Wirkliche ist vernünftig. Was sich durchsetzt, ist das Bessere.)

 

Schlachten = gegenseitiges Geltendmachen von Ideen (Cousin).

 

(Vauvenargues: Selbstbezeugungen: Kapituliert vor schlimmen Lebensumständen.

Aus Chaos menschlichen Leidens, Verachtung und Grundlosigkeit so souverän ein geistiges Werk geschaffen, - Mut der Verzweiflung, der mehr ist als Verzweiflung,)

 

Man muss versuchen, zu lavieren und zu denken, irgendeinen Sinn hat ja die ganze Geschichte.

 


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