Home Descartes möchte das "Wohl aller Menschen" fördern

 

Für die Psychologie: Descartes mechanische Biologie und Psychologie

 

Discours de la méthode pour bien conduire sa raison, et chercher la verité dans les sciences (1637). Nachdruck Paris: Fayard 1987;
dt. übers. von Kuno Fischer (1863), Stuttgart: Reclam 1961; übersetzt von Lüder Gäbe.
Hamburg: Meiner 1960.

Meditationen über die Grundlagen der Philosophie (1641). Mit den sämtlichen Einwänden und Erwiderungen (1642);
unveränderter Nachdruck der Ausgabe 1915, Hamburg: Meiner 1994.

Die Prinzipien der Philosophie (1644);
dt. 1908. Hamburg: Meiner 1992.

Traité de l’homme (postum 1664);
übersetzt
von Karl E. Rothschuh: Über den Menschen (1632) sowie Beschreibung des menschlichen Körpers (1648). Heidelberg: Lambert Schneider 1969.

 

 

... Wir wenden uns der Zeit des Dreissigjährigen Krieges und damit Descartes zu, der von Christian Huygens wie ein Vater verehrt wurde und der wissen wollte, wie denn "die Natur" und "die Maschinen" zu erklären sind und ob sie etwa auf denselben Prinzipien beruhen.

 

Wie Leonardo, Galilei und Kepler war er der Ansieht, das „Buch der Natur“ sei in mathematischen Zeichen geschrieben.

 

Galilei: Die quantitative Methode

 

Galilei beschränkte freilich die Anwendung seines Richtsatzes „Man muss messen, was messbar ist, und messbar machen, was zunächst nicht messbar ist" auf die „Körperwelt“. Die quantitative Methode wandte er auf „Naturprozesse“, nicht aber auf den Menschen an, denn er sagte deutlich: „Wer naturwissenschaftliche Fragen ohne Hilfe der Mathematik lösen will, unternimmt Undurchführbares.“

 

Dieser Satz stellt die eigentliche Begründung der Naturwissenschaften dar, die sich seit Galilei und Kepler, Huygens und Newton denn auch machtvoll entfaltete und sich rasch in Einzeldisziplinen aufspalteten.

Anderseits erhebt sich sogleich die Frage, wieweit Lebewesen, insbesondere der Mensch, Objekte dieser Naturwissenschaften sind und sein können, ob sie sich ebenso in isolierte Beobachtungseinheiten zerstückeln lassen wie die Dinge mit Ausdehnung und Bewegungen in definierten Systemen.

 

Humanismus und Renaissance

 

Dabei hatte der Mensch im italienischen Humanismus und in der Renaissance unzweifelhaft eine zentrale Stellung eingenommen gehabt, nicht nur in der Medizin und Hygiene, sondern auch in der Literatur, Malerei und Rechtssprechung, im Denken überhaupt. Höhepunkte bildeten unter anderem die "Anatomia Mundini", Petrarca, Giotto und Bartolus, später Leonardos anatomische Zeichnungen und Gedanken über die Physiologie, Michelangelo und Raffael, Dürer und Holbein, ferner Erasmus, Morus, Machiavelli, Melanchthon und Paracelsus.

 

Paracelsus: Das dynamische Lebensprinzip

 

Letzterer liess nicht nur dem Hippokratischen Ethos wieder seine volle Geltung zukommen, sondern gewann auch erste Einsichten in funktionelle Zusammenhänge des Organismus.

Er stützte sich nicht nur auf chemische resp. alchemistische Forschungen, sondern auch auf die Befragung von Praktikern, durchkämmte somit "Natur" wie "Volksweisheit' und beschäftigte sich mit Heilmitteln und Chirurgie ebenso wie mit der Behandlung seelischer Erkrankung.

Bedeutsam sollte seine Lehre vom „Archeus“ werden, einem dynamischen Lebensprinzip, dessen richtiges Funktionieren für die Gesundheit des Menschen entscheidend sei.

Seine Auffassung schliesslich, dass der Mensch ein Spiegelbild der gesamten Schöpfung sei, als Mikrokosmos also eine Wiederholung des Makrokosmos, führt uns wieder zu Descartes.

 

Descartes möchte das „Wohl aller Menschen“ befördern

 

Er ging davon aus, dass die Welt von "Zank, Streit, Kriegen" verheert sei und deshalb durch eine Verbesserung der Welterkenntnis, von Technik und Medizin Remedur geschaffen werden müsse. Er verfocht damit ein praktisches Programm, nämlich die Anwendung der von ihm entdeckten Prinzipien, um „nach Möglichkeit das gemeine Wohl aller Menschen zu befördern“. Statt der spekulativen Philosophie der Scholastik verficht er eine "praktische“, die hilft, die Menschen zu "maîtres et possesseurs de la nature" zu machen.

Man müsse endlich mit der Möglichkeit, die Natur in den Dienst des Menschen zu zwingen, ernst machen.

Der Schlüssel dazu sei der methodische Zweifel, die Aufgabe alles bisherigen Wissens, das nur ein Glauben gewesen sei und sich nicht bewährt habe.

 

"Dieses ist nicht allein wegen der Erfindung einer unendlichen Zahl von Maschinen zu wünschen, die uns ohne alle Mühe die Früchte der Erde und alle auf ihr befindlichen Annehmlichkeiten geniessen lassen, sondern auch und hauptsächlich wegen der Erhaltung der Gesundheit, die wahrscheinlich das oberste Gut und die Grundlage aller anderen Güter dieses Lebens ist; sogar der Geist hängt ja so stark vom Temperament und vom Zustand der körperlichen Organe ab, dass ich glaube, wenn man ein Mittel finden könnte, das die Menschen gemeinhin klüger und geschickter macht, als sie bislang gewesen sind, müsste man es nirgendwo anders als in der Heilkunde suchen."

 

Ein Programm, das auch nach 350 Jahren noch recht "modern" anmutet.

 

Descartes selbst war in der Konstruktion von Maschinen nicht erfolgreich, er überliess das auch lieber den Nachfahren. Dagegen befasste er sich jahrzehntelang mit Anatomie, wobei er sich vor allem auf die Forschungen und Atlanten von Andreas Vesalius (um 1550) stützen konnte (Leonardos Studien blieben der Fachwelt weitgehend unbekannt).

 

Mit seinem Interesse an Physiologie hatte er sich einer eben entstandenen neuen Wissenschaft zugewandt (Santoro, Fabrizzi, van Helmont), und ihm ist es zu verdanken, dass Harveys Entdeckung des Blutkreislaufs (1616; 1628) sich gegen die Schulmedizin durchsetzte.

 

Es braucht eine universale Methode – Descartes “mechanistische” Biologie

 

Descartes "mechanistische" Biologie resultiert aus dem erwähnten Wunsch, den durch Krankheiten und Alterungsprozesse gefährdeten Organismus in den Griff zu bekommen, so wie ein Uhrmacher den Mechanismus der Uhr. Diese Beherrschung der Natur kann nur durch die Anwendung einer universalen Methode statthaben.

Descartes glaubte, eine solche gefunden zu haben, mit der sich ein neues und sicheres Wissen begründen liesse und die auf alle möglichen Gegenstände angewendet werden kann.

Hiefür bedarf es der Einhaltung von vier Regeln:

1.      Nur evident Wahres anerkennen;

2.      Rückgang auf einfachste Teile, Elemente;

3.      Stufenweiser und lückenloser Aufbau einer Gesamtordnung;

4.      Streben nach Vollständigkeit und Überblick.

 

Was nun Descartes als einziges „klar und deutlich" zu erkennen glaubt, sind

·        Dinge, die denken (Menschen),

·        und solche, die es nicht tun (Körper),

·        sowie der vollkommene Gott, der beide erschaffen hat, der den Menschen das Denk- oder Erkenntnisvermögen geschenkt hat und den ausgedehnten Substanzen Gestalt verlieh und sie in geordneter Bewegung erhält.

 

Da nun Gott immer und in allem auf die selbe Weise wirkt, kann man diese „wahren Prinzipien der Natur" in allem feststellen. Die Natur ist durch und durch rational konstruiert und enthält nichts dem menschlichen Geist prinzipiell Verborgenes.

 

Wieweit allerdings diese "mechanische" Welt blosse Fabel oder Realität sei, darüber äussert sich Descartes unterschiedlich. In einem Brief gibt er zu, dass seine Auffassung eine „Annahme" sei, mit deren Hilfe jedenfalls "bei der Erkenntnis der Wahrheit ein bisschen weiter zu kommen" sei.

 

Analogien aus der Technik: Die „Animalgeister“ fliessen durch das Nervensystem

 

Auch den Geheimnissen der organischen Natur ist auf diese Weise auf die Spur zu kommen. Nicht mehr die Seele gilt als bewegendes Prinzip der Organismen, sondern es sind (von Gott erlassene) Gesetze, die sie steuern, als wären sie Automaten.

 

Für diese Analogie konnte sich Descartes auf Errungenschaften der Technik wie Orgel, Mühle und Uhr stützen. Er soll in seiner Jugend selbst einen Seiltänzerautomaten und eine künstliche Taube mit vertikal angesetzten Tragschrauben entworfen haben.

Freilich sind Uhren geschlossene Systeme, die zwar in Gang bleiben und sich selbst regulieren, doch muss man sie "aufziehen". Eine Orgel ist da schon offener, und die Tastatur erlaubt eine Fülle von "Umweltreizen".

 

Noch näher kamen jedoch Descartes Intentionen die hydraulischen Kunstfiguren und Anlagen in den Schlosspärken.

Dem Wasser, das durch Röhren fliesst, entsprechen im Organismus die "Animalgeister", welche durch das Nervensystem transportiert werden und an den Endungen der motorischen Nerven die Muskeln „aufblähen", so dass die Bewegungen der Glieder entstehen.

Dem Wasserverteiler entspricht die Steuerungszentrale im Gehirn, die legendäre Zirbeldrüse, dem Röhrenmeister die vernünftigen Seele. "Quelle" der Animalgeister ist das Herz.

Die Regulierung beispielsweise bei der Atmung erfolgt, indem diese Geister zwischen den antagonistischen Muskeln hin und her strömen: Noch ehe alle im einen Muskel sind, haben die Muskelhäute eine solche Dehnung erreicht, dass sie die Geister wieder zurücktreiben, worauf diese durch eine zweite Röhre, die sich öffnet, in den andern Muskel fliessen, bis auch dieser die Maximaldehnung erreicht.

 

Auch dies mutet seltsam modern an, wenn wir etwa statt von Animalgeistern von Information sprechen und das Herz als Programmspeicher, das Gehirn als Steuerwerk betrachten.

Interessant ist auch, dass die Regulierung der Atemmuskulatur einen eigenen Kreis bildet, der nicht über die Steuerzentrale läuft, sondern allein durch Dehnung und Erschlaffung der "Muskelhäute" bewirkt wird.

 

Der Mensch hat eine vernünftige Seele

 

Nun erwähnt Descartes aber dennoch eine Seele. Sie kommt nur dem menschlichen Organismus zu. Es ist die denkende Seele, die erkennt, will und Sprache besitzt.

 

Descartes hat also den Tieren nicht etwa die Seele schlechthin abgesprochen, denn er verzichtet ja auch beim Menschen auf die aristotelisch-scholastische anima vegetativa und sensitiva, sondern die Vernunft. Diese macht die Weltoffenheit des Menschen aus.

 

Da die Organe eines Organismus für jede Tätigkeit einer besonderen Disposition bedürfen, ist es „moralisch unmöglich, in einer Maschine genügend Dispositionen zu vereinigen, die sie in allen Lebenslagen so handeln lassen, wie unsere Vernunft uns handeln lässt“.

 

Literatur

 

Rainer Specht: René Descartes. Reinbek: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1966 (rororo Bildmonographien Nr. 117).

 

(Geschrieben im Februar 1974)

 



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