HomeDie philosophische Haltung

 

 

Gewiss leben wir heute in einer verwirrlichen und turbulenten Zeit, für die im bisherigen Lauf der Geschichte nicht manche Präzedenzfälle vorzufinden sind. Doch hilft es wenig, die gegenwärtige Unsicherheit der politischen und gesellschaftlichen Lage und die Orientierungslosigkeit des Einzelnen zu beklagen oder resigniert festzustellen, dass die technische und wirtschaftliche Entwicklung den Menschen überrannt und ihn mit der Eröffnung globaler Verhältnisse und Konkurrenzkämpfe, die unsere betuliche Abkapselung zerbrechen, beinahe zu einer manipulierten "Nummer" herabgewürdigt habe. Und wenn auch heute in der Tat kein Problem, wohin man auch schaut, als auch nur einigermassen gelöst betrachtet werden kann, obwohl mehr oder minder eifrig an jedem gearbeitet wird, so muss man doch fragen: Wie können wir uns dieser Verluste von bisher einigermassen gültigen Werten, der Hektik und des Ansturms von Reizen, Information und künstlichen Produkten noch erwehren und uns aufrecht halten? Zeigt sich neben dem Einsatz von Automaten und Computern noch eine menschliche Möglichkeit, dieser stellenweise geradezu fatalen Gegebenheiten, welche uns immer mehr beunruhigen und ernüchtern, Herr zu werden?

 

Die Antwort lautet: Ja, wenn man annimmt, dass es letzten Endes um die Bewältigung der Technik und ihrer ungezählten Hilfsmittel geht. Es hiesse dann schlicht: Auf eine zweckmässige Ausarbeitung und einen sinnvollen Einsatz dieser Mittel, das heisst eine sachentsprechende Verwendung kommt es an, vom Produzenten wie vom Benützer - seien es nun Küchengeräte, Verkehrsmittel, Massenmedien, Genussmittel oder Medikamente. Dass hierbei sogleich die uralten Probleme vom "richtigen Mass" und von der Verantwortung auftauchen, ist bekannt: aus einem Überangebot das Zweckdienliche auswählen und Verantwortung üben, sich selbst, den Mitmenschen und der Sache gegenüber. Das bedingt jedoch eine gewisse Aktivität, ein Überlegen und einen Widerstand - eine sich selbst gegenüber kritische Opposition - gegen den hoch wogenden Strom.

 

Es liegt beinahe auf der Hand: Not täte eine Haltung. Nennen wir sie ruhig einmal eine philosophische, im weitesten Sinne. Glück, Befreiung und Erfüllung sind aktive Taten - abgesehen von einer gewissen Begnadung - und beruhen auf ständigem Wachsein allem gegenüber, auf Offenheit und Beweglichkeit auf dem Grunde eines Kerns fester und in Freiheit persönlich hochgehaltener Werte. Philosophie bedeutet nur in einer Randerscheinung "Schule, Gedankenakrobatik und Träumen im Elfenbeinturm", daneben aber ist sie für alle, universal, in der Welt und sich auf sie und das Leben beziehend. "Im Philosophieren kommt der Mensch zu sich selber, indem er der Wirklichkeit teilhaftig wird" (Karl Jaspers). Philosophie als eminent menschliches Tun entspringt dabei dem Staunen, der Erschütterung, dem Zweifeln und Rätseln; sie ist ein ewigdauerndes Fragen, Suchen und Streben nach Vergewisserung, Erkenntnis, Wesen und Sinn, nach dem Allgemeinen und Ganzen, nach Freiheit und Wahrheit. Alle echten Probleme sind aber unlösbar, doch fruchtbar, wenn wir um ihre Bezwingung ringen. Philosophie heisst dann "auf dem Wege sein", und dieser Weg ist selbst schon das Ziel.

 

Zwar bemeistern wir in Ansätzen Natur und Atom, können über Geräte und Menschen verfügen, letztere mit Erziehung und Propaganda bis zu einem gewissen Grad steuern, unsere Gedanken von einer Wiesenblume hin zur Transzendenz lenken, uns unsäglich bang, einsam und geknechtet, boden-, schutzlos und verloren und doch verbunden in der Unendlichkeit eines Ewigen fühlen, doch die Rätselhaftigkeit und unsere Ratlosigkeit bleiben. Aus der Einsicht nun - die, wie vieles, beileibe keine Intelligenzleistung darstellt - in die Winzigkeit und Endlichkeit des Menschen, seines Strebens und seiner Werke erwachsen Ehrfurcht vor und Liebe zu deren Würde und der letztlichen Unausdeutbarkeit von allem sowie die bedachtsame und schlichte Übernahme der Pflicht: da zu sein, das zu vollführen, weswegen wir da sind, und fortzuleben - da das Leben einen Sinn hat, haben muss.

 

Der philosophische Halt, den uns zu geben und bewusst zu halten wir gerade heute als wünschenswert erachten, rührt von einem Leben in Möglichkeiten her, im so oder so sein und sich verhalten und die Sachen (als) so oder so verstehen können. Hieraus entspringt die Forderung nach Redlichkeit und Wahrhaftigkeit: Wissen wir im Innersten, dass alles im Fluss, ein Wellenspiel und wechselseitig bezüglich (relativ) ist und alle unsere Äußerungen, Gedanken, Maximen und Theorien bestenfalls die eine Hälfte des nie erreichbaren Ganzen ausmachen, dann vermögen wir unsere Rolle und einige Verantwortung auf uns zu nehmen, uns einzurichten in dem, was da ist, Gutes zu tun und darin stark zu werden. Im Spüren und Wissen, dass der Mensch das sich widersprechende und sich selbst fragliche Wesen ist, und in einer von den bereits durch Platon aufgewiesenen "Tugenden" (vor allem: Besonnenheit, Mut und Mässigung, ergänzt von - heute besonders wichtig - Natürlichkeit und Anstand) getragenen Gelassenheit gegenüber allem, können wir uns und unserer Umwelt das Beste abgewinnen und unseren Mann beziehungsweise unsere Frau stellen, gemäss deren beider (je besonderen) Wesen und Stellung.

 

Diese feste Haltung, nun noch etwas näher betrachtet, ist eine solche der "energischen Ruhe" (der praktischen und theoretischen dialektischen Verbindung und Bewegung), wie es Friedrich Schiller trefflich formulierte, eine gespannte Harmonie (Fügung) zwischen den unausweichlich vorhandenen und ihr Recht ständig geltend machenden Polaritäten, das heisst Entgegensetzungen von Sicherheit-Unsicherheit, Anspannung und Entspannung, Ermüdung und Erfrischung, Ausfaltung-Einfaltung, Jetzt und Zukunft, die, in ein gegen-, mit- und füreinander, gleichsam als unaufhörliche Atembewegung den Motor für den Vorgang des Lebens und der "Welt" abgeben. Es ist nämlich so - und dieses Wissen baut die philosophische Haltung zu einem Gutteil auf -, dass die fundamentalsten Gegebenheiten ein Rhythmus von Polaritäten sind: Es ist ein Riss, der bis auf den untersten Grund der Welt geht: eines (zum Beispiel Liebe oder Natur) kann nicht ohne das andere (Hass, Geist) gedacht werden, jedes gewinnt Macht und Grenzen am andern, aber das eine ist nicht vom andern aus zu begreifen; die beiden Pole sind unvereinbar, aber einander doch bedingend, ja stärkend und emportreibend; sie alternieren und sind gegenläufig (covariant).

 

Es gibt unzählbare dieser voneinander je grundverschiedenen Doppelpoligkeiten. Sie stellen zur Hauptsache sogenannte "archetypische Bilder" dar, tief auf dem Grund unserer Seele verankerte naturgegebene Widerparte, die sich in kämpferischer Wechselwirkung eröffnen, so, dass in gegenseitiger Ausschliessung und Ergänzung beide, als absolut massungleich, nur durcheinander sinnvoll sind. Je nach Frageweise oder Blickrichtung tritt aber nur das eine oder andere hervor; versucht man dahinter zurückzutreten oder darüber hinauszugehen, zeigt sich eine fast unüberbrückbare Distinktion: Einheit ist nie erkennbar, nur schau- und fühlbar im Zusammenhang und -halt der Wirklichkeit - etwa in Gestalt und Harmonie oder Organismus und Biotop, in den einander gegenseitig umgreifenden Bezirken: Natur, Religion, Kunstwerk, Liebe und Persönlichkeit. Desungeachtet sind Konvergenz der Entgegensetzungen, Freiheit, Wahrheit, Bewusstheit, Liebe und das Gute als absolute, nicht beweisbare Postulate der Vernunft unentbehrliche Ideen - ihre Absolutsetzung im Fanatismus jedoch ist negativ, entleerend, zerstörerisch.

 

Im Bewusstsein der Zweiheitlichkeit und der Vielzahl von Perspektiven halten wir uns in der "goldenen Mitte", im labilen inneren Gleichgewicht - wenn nicht, stellt dies die Natur von selbst wieder her, analog den physiologischen (antagonistischen) Regelmechanismen in der Homöostase und Kompensation - und befleissigen uns der richtigen Mischung der Pole und Extreme in und um uns. Platon veranschaulicht dies so: Der Mensch muss die beiden Pferde (zum Beispiel Gefühl und Vernunft) vor seinem Lebenswagen aufeinander einspielen.

 

Dass es anstrengend ist, das Leben richtig zu leben, ist klar, besonders wenn man auf dem schmalen Pfad zwischen den Übertreibungen zu gehen und unablässig inmitten von Unzulänglichkeiten zu lavieren versuchen muss. Doch leider ist es nun einmal so: Absolute Sicherheit ist nicht und nirgends zu finden noch zu erreichen.

 

Dies alles mag gelehrt klingen oder nicht, es ist im Kleinen und im Konkreten sehr wohl ausführbar: Bemühen wir uns in Konflikten und Ärgernissen um die vielgerühmte "liebenswürdige Bestimmtheit", Sorgfalt und Gerechtigkeit, anerkennen wir ("tapfer und weise") unsere und unserer Mitmenschen mannigfaltigen Verpflichtungen und bringen unsern Partnern, Vorgesetzten und Untergebenen die ihnen gebührende Achtung und Wertschätzung entgegen. Nicht blinder Menschenfreundlichkeit oder Selbstzügelung im Zeitalter der Mechanisierung, Quantität und Schnelligkeit soll damit das Wort geredet werden, auch nicht faulen Kompromissen und billigen Oberflächlichkeiten, sondern dem Dienst an der Sache, die jeder zu erledigen hat - sei sie noch so klein oder bedeutend -, gepaart mit etwas Höflichkeit, Gefühl (In-sich-hinein-Horchen) und Phantasie - im Wissen um all unser Ungenügen und im Vertrauen auf das uns dennoch bergende und tragende Wunderbare, das ewig gegenwärtig und doch nur zu erahnen ist, uns aber ständig weiterbringt und unserem bescheidenen Erdenleben Sinn schenkt.

 

 

Leicht gekürzte, aber sonst unveränderte Fassung eines Aufsatzes, erschienen am 28. April 1968 in den "Basler Nachrichten".

 




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