Home Die Geburt des Abendlandes aus dem Geist der Philosophie

 

Von Erich Brock

 

Erschienen in der „Neuen Zürcher Zeitung“ am 4.9.1966

 

Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung der Neuen Zürcher Zeitung

 

 

 

«Anfang der Dinge ist das Unendliche. Woraus aber ihnen die Geburt ist, dahin geht auch ihr Sterben nach der Notwendigkeit. Denn sie zahlen einander Strafe und Buße für ihre Ruchlosigkeit nach der Ordnung der Zeit.»

Diese Worte sind der einzige Satz, den wir aus dem ersten Buch der europäischen Philosophie im Wortlaut noch besitzen. Er redet von dem Heimfall aller Einzelwesen an das unterschiedslose Ureine, aus dem sie entstanden waren. Der Überlieferer Simplicius hebt schon den dichterischen Klang dieser Begriffe und Wörter hervor; sie kommen aus einem mythischen und religiös betonten Bereiche. Es scheint sich also bei Anaximander nur um einen Abkömmling alter morgenländischer Betrachtungsweise zu handeln, die aus unbezwinglichem Heimweh nach dem göttlichen Abgrund hervorgeht, in welchem alles Besondere, alles Sosein und Sichabsetzen, alles Bewußtsein, alles Begehren und Streben, aller Schmerz davon nun spurlos versenkt werden soll.

 

Schauen wir näher zu, so ändert sich das Bild. Es schildert nicht eine reine Erlösung, sondern es hebt dabei eine Strafe hervor; eine Erlösung aber von der Qual der Individuation kann doch nicht einfach eine Strafe sein? Strafe wofür? Für das Unrecht, das die Einzelwesen einander zugefügt haben - nicht einzelnes Unrecht, sondern das notwendige Unrecht, das in der Ausschließlichkeit der Besonderung, in ihrem Herausbrechen aus der Alleinheit in den Gegensatz liegt.

Es ist also eine notwendige Schuld, so wie das Hervorgehen aus der Dumpfheit des Ureinen notwendig ist und darum immer von neuem erfolgt; auch darin zu verharren wäre eine Ruchlosigkeit. Die Tragik ist, daß der Mensch nur entweder in der leeren Helle der Freiheit oder im Dunkel der zusammengeschütteten Fülle sein kann. Daraus entspringt der Kampf, beides zu umfassen.

 

Deutlicher wird das Neue dieser Denkweise bei Heraklit. Seine Lehre beruht auf der Anschauung einer ewigen Atembewegung der Welt, eines Kräftespiels innerhalb der Urpolarität zwischen Einheit und Vielheit, Einfaltung und Ausfaltung. Er nennt die Welt in diesem Sinne den «Weg-hinauf-hinab». Die Bewegungskraft der Begehung dieses Weges ist ein Motiv, das er vom Lebendigen abgezogen hat: die Ermüdung des Lebens bei je der einen seiner Formen, der Vielheit und der Einheit, der Außen- und der Innenwendung, des Mangels und des Überflusses, der Mühsal und der Ruhe. Jede der beiden Seiten dieser Gegensatzpaare ist verhältnismäßig wertvoll und verhältnismäßig wertwidrig, je nach ihrem Alter. Was eine Weile gewährt hat, erschlafft und schlägt darum in sein Gegenteil um.

Dies ist ja in der Tat der Rhythmus alles Lebens, schon bei den Tieren. Keineswegs ist das Absolute, Göttliche je auf der einen Seite befestigt, sondern Gott ist das Übergreifende, das Ganze aus den Gegensätzen, das nicht mehr sagbar ist: Gott ist Tag und Nacht, Winter und Sommer, Krieg und Frieden, ja Gut und Schlecht.

 

Die Pythagoreer nehmen diese Anschauungsweise auf und bilden sie mehr begrifflich aus.

Empedokles malt mit kräftigen Strichen und Farben weiter an dem Bilde: Was die Einzelwesen zusammentreibt, ist die Liebe. Setzt sie sich durch, so verschmelzen sie zu dem bewegungslosen und ungesonderten Ureinen. Aber irgendwo bleibt der Haß keimhaft zurück und dringt gegenüber der ermüdeten Liebe wieder vor. Es kommt zu einem Gleichgewichtszustand zwischen beiden, in welchem es Einzelwesen gibt - Gleichgewicht zwischen Liebe und Haß, Einheit und Vielheit. Darnach dringt der Haß weiter und zerspellt Glas Sein in Atome; bis dann wieder die zum Äußersten zurückgedrängte Liebe vordringt und durch einen abermaligen Gleichgewichtszustand hindurch der ungeschiedenen Einheit zustrebt. Die gegenwärtige Welt ist in der schwebenden Spannung zwischen Einheits- und Sonderungsstreben, zwischen Liebe und Haß.

Auch hier ruht kaum ein religiöser oder rationaler Wertakzent auf der Einheit, sondern alles bleibt relativ. Liebe und Haß haben je ihre positive und ihre negative Rolle im Weltgeschehen, und nur ihr Zusammenspiel ist in höherem Sinne göttlich. «Ausweitung» (diakosmesis) und Rückgang ins Eine, Weltlose ist je an seinem Platze notwendig und letztlich gut.

 

Dies alles bedeutet nicht weniger, als daß auch die Natur, die Welt, das Diesseits bejaht und dem Menschen ernstlich als Aufgabe zum Durchdenken, Durchleben, Durchkämpfen auferlegt wird. Damit tritt das Abendland auf den Plan und stellt sich dem Morgenland, welches seine Weltmüdigkeit auf einmal für immer heilen will, theoretisch und praktisch entgegen.

Aber diese Aufgabe ist überaus schwer; die Gefahr, der wir weithin erlegen sind, ist die, nun die Welt allein absolut zu setzen und sich in ihr, im Gestrüppe der Einzelheiten und ihrer Anforderungen zu verlieren, den Pol der Erfrischung und Erholung davon aus den Augen zu setzen.

Darum war im Abendland von Anfang an die morgenländische Gegenströmung stark und sang immer wieder ihre Sirenenlieder von der «ewigen Ruhe in Gott dem Herrn». Parmenides und Platon waren diese Rhapsoden; die Stoa und das Christentum nahmen ihnen ihre Worte von den Lippen - obschon es der Stoa immer von neuem widerfuhr, die Natur einzulassen, und das Christentum mindestens seinen Christus mit der zweiten Phase der neuplatonischen Dreieinigkeit, derjenigen des Ausgangs in die Welt, vereinerleite. Aber diese beiden Geistesgestalten drängten damit die andere Seite der Zweiheit ins ebenso Einseitige, in einen blinden Aufstand der Natur.

Der erste, der mit Klarheit der Philosophie die Forderung einer theoretischen und praktischen dialektischen Verbindung beider gestellt hat, war Friedrich Schiller. Doch ist das ein ewig unerreichbares Ziel; denn Einheit und Vielheit, Geist und Natur sind beide absolut, dabei ewig maßungleich und dennoch in jedem Atemzug aufeinander angewiesen, nur durch einander sinnvoll.

Darum maß dieses Ziel ewig umworben werden, womöglich in stets engerer Umkreisung, in Streit und Frieden, in Denken und Leben - da hier nicht geradewegs ins Schwarze zu treffen ist. Jede Philosophie aber, die unterhalb dieser bewußten Strebung bleibt, ist bestenfalls eine Vorstufe der Philosophie.

 


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