Home Über die zeitgenössische Architektur

 

Von Erich Brock

 

Erschienen in „Die Tat“, Zürich, 26.10.1971

 

 

Um zu einer Beurteilung der heutigen Baukunst zu gelangen, muss man zunächst zwei Faktoren, weiche für dieselbe weithin massgebend sind, aus der Hauptbetrachtung ausscheiden, die sonst sehr weit führen würde.

 

Der erste ist der demographische Zwang, unter welchem das Bauen heute steht. Nachdem in unser übervölkertes Land eine Million Fremder hereingeholt worden ist, und in heute unwiderruflicher Weise, besteht die fraglose Notwendigkeit, dieselben zu behausen, ärztlich zu betreuen, ihre Kinder zu schulen und was sonst noch sogenannte Infrastrukturen erfordert. Unsere Bauten könnten ziemlich schön sein, und doch würde man denken, es wäre schöner, wenn sie nicht in dieser Massenhaftigkeit und Weitgestreutheit dastünden. So könnte es sich, wenn diese «ziemliche Schönheit» heute nicht zutrifft, nur darum handeln, die relative Schönheit vielleicht doch noch zu erreichen, damit die Schadenwirkung des heutigen Bauwesens gemildert werden könnten.

 

 

Der zweite jener randständigen Faktoren ist die Einordnung dieses Bauwesens in die moderne Kunst überhaupt. Es teilt mit ihr viele grundlegende Züge, so dass der bald sich bestätigende Verdacht entsteht, dass beiderseits dieselbe Grundeinstellung besteht und verursachend ist. Gemeinsam ist vor allem folgendes: Die mehr oder minder radikale Ablehnung der modernen Kunst ist fünfzig Jahre nach ihrer breiteren Entstehung noch immer viel zu verbreitet, als dass es möglich wäre, den alten (schon gleich in seiner Allgemeinheit unzutreffenden) Kehrreim noch ernst zu nehmen, alles Schöpferische und Neue in der Geistesgeschichte sei zuerst abgelehnt worden.

So bleibt den militanten «Modernen» hier nicht viel anderes als eine Art Terror, der weithin durch Presse, «Fachleute» und alle, die eben um jeden Preis modern sein wollen, ausgeübt wird: Man erstickt durch Diffamierung und selbstsicheren Hohn alle Gegnerschaft schon in den Herzen derer, die sich auflehnen wollen, geschweige denn in ihren äusserlichen Kundgebungen.

 

Nicht unterdrücken können wir hier eine kleine, aber aufschlussreiche Anmerkung zu der Methode, lauthals zu verkünden, dass der Streit um die moderne Kunst längst entschieden sei und anderes nicht mehr in Frage komme. Im Jahre 1860 gaben Johannes Brahms, Josef Joachim und zwei andere, damals bekannte Musiker eine Erklärung heraus, worin sie gegen die Verbreitung der Meinung protestierten, als stimmten im Grunde alle ernststrebenden Musiker mit der sogenannten neudeutschen Schule (Liszt, und Wagner) überein und es sei der Streit um die sogenannte Zukunftsmusik zugunsten derselben bereits entschieden. Die Gegenpartei unterschob den Unterzeichnern mit beleidigenden Wendungen, sie protestierten gegen jeden Geist in der neuen Musik. «Nach Vernichtung dieses ihnen sehr unangenehmen Dinges stellen sie dagegen allen gleichartigen Wohlgesinnten einen Bruderbund für unaufregende und langweilende Kunst in sofortige Aussicht.» - Heute beherrscht die Brahmssche Musik im Verein mit den grossen Vorgängern zu einem überwiegenden Teil alle Konzertsäle, während für Liszt und für Wagner, diesen als Musiker, das Interesse gering geworden ist. –

 

Aber der da weithin entscheidende Unterschied zur Baukunst besteht darin, dass den andern Künsten gegenüber eine gewisse Freiwilligkeit nie ganz auszurotten ist: Es ist noch nicht erreicht worden, dass in den Konzerten zwischen den Stücken älterer Musik die Saaltüren verschlossen werden oder dass das Loch im öffentlichen Theaterbudget durch Zwangsbesuch im Stile gewisser Veranstaltungen in totalitären Staaten gestopft wird. Wer an modernen Kunstausstellungen nicht herumrätseln will, darf zu Hause bleiben; wem es zu anstrengend ist, in gewissen Erzeugnissen moderner Lyrik Form und Sinn zu suchen, kann darüber weglesen und sich der Prosa zuwenden (falls diese nicht in Marcuse-Chinesisch abgefasst ist). Und nach gemessener Zeit pflegen die meisten dieser Werke in Magazinen zu verschwinden - mindestens ist das als Zukunftsmöglichkeit des recht allgemeinen Missbehagens denkbar. Das schliesst für den Augenblick natürlich schmerzliche Einengungen und Verzichte ein, aber nicht unerträgliche (ausser für altmodisch Schaffende).

 

Ganz anders bei der Baukunst. Ihre Werke stehen mindestens für Jahrzehnte da. Noch unsere Enkel müssen die Folgen auf sich nehmen dessen, was wir da heute hinstellen, es ist wohl überhaupt nicht wieder gutzumachen; und wir selbst, wir können nicht nur nicht entrinnen, sondern es dringt uns immer näher und enger zu; es verstellt uns immer vollständiger den Blick auf alles, was zeitlos, was Natur, was «schön» ist. Darum ist es sinnvoller hier als dort, eine Auseinandersetzung zu suchen.

 

 

Den besten Zugang gibt es wohl, von dem auszugehen, was der Baukunst mit der ganzen modernen Kunst gemeinsam ist. Das bezieht sich vor allem darauf, dass bereits der Grundbegriff «Kunst» zweifelhaft wird. Wir meinen damit weniger Zweifel an dem Können, das dahinter steht und das man sich auf jeden Fall nicht mehr in dem Masse abverlangt wie in früheren Zeiten, sondern vielmehr die Wesensbeziehung zwischen Kunst und «schön», die früher Grundlage bildete. Wenn es heute gelingt, Menschen über ihre unbefangene Beantwortung heutiger Kunst unter vier Augen auszuforschen, wo sie also nicht befürchten müssen, lautstark als Plüsch-Opas gebrandmarkt zu werden, so wird man wenige auftreiben, die diese Erzeugnisse In einem unmittelbaren Sinn schön nennen.

Aber das ficht die Schaffenden und die Anhänger moderner Kunst nicht an. Sie weisen (soweit mit Recht) darauf hin, zu welcher hohlen saft- und kraftlosen Schönseligkeit, zu welchem feigen Ausbiegen vor allem Harten und Hässlichen der Schönheitskult vor hundert Jahren geführt hatte; der Idealismus habe nur die Formen berücksichtigt und nicht den Gehalt. Sie stellen sich dem gegenüber auf den Standpunkt, dass Schönheit hinzustellen nicht Aufgabe der Kunst sei. Was also sonst? Nun eher das Gegenteil, das Hässliche; dies aber zunächst weniger um seiner selbst willen, sondern, weil es niederschlage, aufrüttele, aus jeder Sicherung ins Leere reisse, mit der Härte und Sinnlosigkeit der Wirklichkeit Konfrontation aufzwinge und so zur neuen, realistischen, zeitgemässen Bewusstseinsbildung verhelfe, die einen «kulinarischen Kunstgenuss» in einer Vietnamzeit nicht mehr dulde.

 

 

Was ist dazu zu sagen? Zunächst dies, dass selbstverständlich diese negativen Wirkungen auch zur Kunst gehören. In allen grossen, starken, ernsten Zeiten der Kunst spielte auch das Schreckliche in ihr eine Rolle. Man kann höchstens zweifeln, ob - so wenig dieses Schreckliche sofort begrenzt und auf ein «positives» Endziel hingelenkt werden dürfte - es doch je im Masse zu einem reinen ungestalten Chaos führte wie heute so oft. Und das darf wohl auf die Dauer nicht sein; man muss den Menschen wieder aufhelfen, sei es nur durch die innere Grösse und die Gestaltung, die überklafternde Form des aufgerissenen Verderbens. (Ein Beispiel: Man denke etwa an Brueghels «Triumph des Todes» in Madrid.)

 

Aber mindestens ebenso selbstverständlich wie das Schreckliche hat auch das Schöne, Wohltuende seinen Platz in der Kunst, so gewiss es im Herzen der Menschen diesen Platz und das Bedürfnis danach behält. Ja selbst das unbeschwert Heitere, Leichte, Gelöste, Tänzerische behält ihn - obwohl das Schöne nicht unbedingt in diese Richtung gehen muss, sondern auch tiefernst, ja voll unheilbarer Trauer sein kann - weil es auch eine Schrecklichkeit in sich hat, nämlich dass der Mensch, so unheilbar er sich darnach sehnt, es nicht ganz erschwingen, sich zu ihm erheben, es sich zu eigen machen kann - das Schöne, weiches in seiner Vollkommenheit, wie Rilke sagt, «gelassen verschmäht, uns zu zerstören».

 

 

Ist es nun wahr, dass dieses Schönheitsbedürfnis des Menschen: unberechtigt ist, ein kleinbürgerliches Überbleibsel idyllischer Zeiten, in denen es ein «elitäres» Abzeichen der Repression war, welches im technischen Zeitalter keine Berechtigung, keine Wahrheit mehr hat? Aber sind die Menschen heute wirklich nur eine seelisch und geistig verfettete faule selbstzufriedene behäbige Spiesserhorde, die man dauernd einschüchtern und aufschrecken, emanzipatorisch ins Gesicht schlagen, mit dem Kopf gegen die Mauer des Lebensernstes stossen muss, damit sie aufwache und von diesem, von den Nachtseiten des Daseins Kenntnis nehme?

Dass es diese Typen unter den Menschen gibt, ist vor aller Augen. Dass sie nicht in dieser Schematik vorwiegen, kann nur gesehen werden, wenn man darauf verzichtet, nur das zunächst unbewusste gesellschaftspolitische Leiden ihnen abzunehmen für die Kunst - worin alle, auch die nicht die neue Bewusstseinsgewinnung vollzogen haben, ziemlich gleich seien. Sondern wenn man den Mut findet, das Leiden an mancherlei individuellen Schicksalen als im ganzen eher bestimmender, zu erkennen. Dann wird man mit einiger Einfühlung sehen, dass dieses Leiden, auch unter mancherlei spiessbürgerlicher äusserlicher Glättung, sehr verbreitet ist, wenngleich natürlich in verschiedenem Masse - und besonders unheilbar oft unter den Älteren.

Man wird auch sehen, dass die in höherem Grade von diesem Leiden Befallenen, welche die Abgründe des Schicksals kennen und ihnen vielleicht mit Anstand standgehalten haben, nicht noch weiter unablässig gepeinigt werden müssen, sondern das Recht auf Schönes, Wohltuendes, das Höhere Vergegenwärtigendes haben, welches ihnen wenigstens zeitweise zur Erhebung über ihre Leiden hilft - mit einem Wort, zur Freude. Wenn das «kulinarisch» ist, so nehmen wir diesen Begriff an; denn der Mensch muss auch essen - ja mit Genuss.

 

Wir legen dies alles so aus, dass es ein Haupt-«Zweck» der Kunst sei, dem Menschen zum unmittelbaren Erlebnis zu machen, es gebe das Höhere. Es gibt Menschen, die beunruhigt werden müssen, und andere, die beruhigt werden müssen, und diese sind nicht die Geringerwertigen. Auch die ersteren müssen nicht pausenlos bis auf den Grund beunruhigt werden.

 

Diese Einsicht ist nun auf die Baukunst anzuwenden. Dass die Erzeugnisse der modernen Baukunst schön sind, werden wenige auf richtigerweise zu bezeugen vermögen. Noch weniger, dass sie erhebend seien. Auch hier wird vor diesem Ja oder Nein ausgewichen in andere Denk- und Wertformen hinein; das können wir besonders den etwas eintönigen Kennzeichnungen neuer Bauten in der Presse entnehmen. Da werden sie wuchtig, markant, eigenwillig, wagemutig genannt; meistens ist damit die Möglichkeit der Werturteile erschöpft; es wird höchstens noch ein Stück weiter vor der «Schönheit» ausgewichen und technische Zweckmässigkeit und Sachlichkeit bescheinigt. Ob zu Recht, steht häufig dahin.

Wir wollen hier die Frage beiseite lassen, wieweit es auch für die Baukunst von Bedeutung Ist, dass der Mensch nicht nur Zweckhaftes, sondern auch einen zwecklosen und sinnfreien Raum braucht, um nicht unaufhörlich von Sinn und Zweck vereindeutigt, angespannt, überanstrengt zu werden. Aber es gibt heute Bauten genug, welche die Zweckmässigkeit zugunsten von dogmatisch festgelegten apriorischen Konstanten vernachlässigen; man bedenke zum Beispiel alles, was über jeden praktischen Sinn hinaus hemmungslos das Licht und überhaupt die Aussenwelt hereinlässt - vielleicht, weil die Wendung ins Private, ins Heim, ins Heimliche, ins Innere «elitär» ist.

 

Von da sollte es nicht weit zu der Fragestellung sein, ob nicht für jeden nicht eingefleischt materialistisch Denkenden auch eine Zweckmässigkeit im Bezug auf seelisch-geistige Zielsetzungen berücksichtigenswert sei, welche mindestens ebensosehr wie die materiellen Zielsetzungen für Würde, Wohlbefinden und Funktionstüchtigkeit der Menschen unentbehrlich sind.

Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Wird dies bejaht, so schliesst sich notwendig die weitere Frage en, ob denn Wuchtigkeit, Markantheit, Eigenwilligkeit unter allen Umständen von jenen seelisch-geistigen Zielsetzungen erfordert oder auch nur mit ihnen vereinbar wären. Auf jeden Fall ist unleugbar die eigentliche Behausung des Menschen nicht der Bezirk, in welchem er unaufhörlich niedergewuchtet, aufgeschreckt, ausser sich gebracht und mit Problemen konfrontiert werden müsste und sollte. Sondern hier hat der Mensch nun einfach das Recht, auszuruhen, sich beheimatet zu fühlen, eine Gestalt gewordene Harmonie zu geniessen.

 

 

Man kann dies auch unter Umgehung solches «Kulinarischen» aus dem Wesen der Baukunst selbst ableiten. Wie jede Kunst, jede Gestaltung ruht sie auf der Polarität der Welt wie auch des Geistes, auf der Spannung zwischen zwei organisch verknüpften Gegenpolen. In diesen tiefen Bereichen könnte man als ein Grundgegensatzpaar Sein und Werden bezeichnen - welche beide nicht aufeinander zurückzuführen, nicht von einander loszureissen sind. In der Baukunst verkörpern sie sich durch die Waagrechte und die Senkrechte. Die erstere bezeichnet das seinshaft Ruhende, Annehmende, Tragende, die zweite das sich Aufreckende, Überwindende, hinter sich Lassende. Wie das ganze menschliche Wesen um den Ausgleich dieser beiden Dimensionen bemüht sein muss, so soll auch die Baukunst diese Bemühung darstellen.

 

Die Bauten mit sozusagen reiner Senkrechter sind unschön; zum Beispiel die Fabrikschornsteine - während die mohammedanischen Minarette mit den kultischen Gebäuden zusammen eine Einheit bilden. Auch die äussersten Übersteigerungen des Höhendrangs in der Spätgotik unterliegen einer Einseitigkeit, die keine wirkliche Harmonie aufkommen lässt. Trotzdem könnte man sagen, dass die Erde sowieso bleibt, so dass die einseitige Betonung der Waagrechten sich notwendig weiter von jener zu erstrebenden Harmonie entfernt.

Und diese Einseitigkeit beherrscht nun in gradezu fanatischer Weise die heutige Baukunst. Das liegt nicht allein an dem zunehmend gewählten Baustoff, dem Beton, der wohl unbestritten einen durchaus toten Eindruck macht, während Bruchstein durch Farbe, Profilierung und allgemein gewachsene Natürlichkeit lebendig wirkt. Das Tote aber liegt und lastet und ist keines Schwunges fähig; schon von diesem Materiellen aus würde sich der Versuch zu solchem erübrigen. Dazu kommen natürlich minder materialgebundene Strebungen.

Auch die Idee der reinen Technik hat etwas Totes dazu kommen allerlei heute verbreitete und sattsam bekannte allgemein weltanschauliche Elemente; die in der Richtung auf das einfach Daliegende, Lastende, jedes Höherstreben Ablehnende wirken. Was dabei herauskommt, prägt sich in jenen Bauten aus, an denen überhaupt nichts anderes zu bemerken ist als Querbänder von Fenstern, Balkonen oder nicht sachbezogenen, reine Querrichtung gebenden Elementen.

Dies zusammen mit dem massigen Material. welches noch überbetont wird als etwas, das durch stoffliche Gewaltsamkeit, Unbehauenheit, bunkerhafte Gliederungslosigkeit innere Grösse vortäuschen will - dies ist es, was solche Bauten wie durch Eigengewicht förmlich in den Boden hineindrückt. Das Streben nach dem kyklopisch Monumentalen um jeden Preis wirkt zumal bei kleineren Wohnhäusern oft nur lächerlich.

 

Ein Kapitel für sich sind die Kirchenbauten. Auch hier verwirklicht sich die Grundmeinung vom Zweck, zu erschrecken, wie es im Mittelalter durch die Tier- und Dämonendarstellungen an den Portalen. psychologisch durch das künstlich angeheizte Sündenbewusstsein angestrebt wurde; heute viel wirksamer durch die viele Zentner schweren Zementplatten, welche, oft frei in den Raum ragend, auf die Köpfe der Gläubigen niederzubrechen drohen.

Aber da heute sehr viele Menschen zur Genüge anderweit geängstigt sind, so suchen sie mit Recht, soweit überhaupt, in der Religion das Aufrichtende, Erleichternde, Befreiende, nach oben Tragende, Schwebende. Das finden sie in diesen Gebäuden nicht, dafür neue atemschnürende Beengung und Beängstigung.

 

Am Zürcher Stadtrand Im Glatttal hat sich ein Altersheim gelagert in Form eines Bunkers mit Schiessscharten. Da die alten Leute bei der Einweisung in eine solche Anstalt ohnehin depressiv sind, fehlt nur noch zum Empfang die Inschrift «Lasciate ogni speranza voi ch'entrate»; aber der Bau sagt es zur Genüge.

 

Auch die üblichen Mietskasernen in ihrer gesichts- und seelenlosen Hässlichkeit verhindern jedes Gefühl, sie könnten zur Heimat werden. Öffentliche Gebäude schliessen sich an, denen je nach Zweck jeder repräsentative, feierliche, gar sakrale Charakter abgeht; überhaupt ist dies ein Bauen gänzlich ohne Atmosphäre. Sein Gesamtcharakter ist eine zähnefletschende Brutalität, die sich als «gewaltig» verstanden wissen will, bis In die kleinsten Utensilien hinein, Bänke, Türgriffe. Brunnenhahnen; nichts will einfach bescheiden dienen, wozu es soll. Breitspurige Anmassung drückt überall den Menschen in sich selbst zurück, verhindert jede freie harmlose Entfaltung des Lebensgefühls.

 

Wo der Mensch sich daran gewöhnt, überall auf abweisende oder angreiferische Mauern zu stossen, da weicht der gewohnheitsmässige Druck tief ins Gemüt hinab und bereitet dort gesammelte zerstörende Aufstände vor. Was macht die Menschheit aus sich, wenn sie sich mit solchen Bauten umstellt? Mit Maschinen, mit Apparaten ohne Atem, mit Totem? Wenn das Tote an Stelle des Lebendigen gesetzt wird, wird es böse, teuflisch. Ist es möglich, dass der Mensch nicht selbst mit der Zeit, um sich dagegen aufrechtzuhalten. brutal und böse, angreiferisch werde? Nämlich der, welcher noch genug Naturstärke dazu hat; die andern werden geduckt, in sich zurückgescheucht, angstvoll, krank, voll Haftpsychose und Fluchtgedanken von Gefangenen.

Diese Baukunst wirkt also sozialdarwinistisch: Wehe den Besiegten! Auf die Dauer ist mögliche Gewöhnung daran geknüpft, ob es gelingt, den Menschen so umzubauen, dass er nur noch aus Verstand, Willen, rohem Trieb besteht, dekoriert mit etwas verschwommener Sentimentalität.

Einen Vorgeschmack von letzterer gibt das plötzliche Comeback des Jugendstils. das bald auch in die Bauten eindringen wird. Lange wurde verkündigt, dass nur das Rechtwinklige, hart und geistlos Geometrische dem harten Charakter der Gegenwart entspreche; und wer dies nicht annehme, wer noch an das Lob der Krümmung durch Hogarth und Schiller denke, sei hinter der Zeit zurückgeblieben. Heute wird der jede gebrochene Linie verwerfende Jugendstil wieder hervorgeholt, und zwar gerade in seinen schwammigsten Ausgestaltungen; vergeblich versucht man dabei sich darauf herauszureden, es sei ironische Spielerei!

 

 

Es ist noch der Bauten zu gedenken, die es nicht einmal zur Brutalität bringen, der gestalt und gliederungslosen Stahl- und Glaskästen, die überhaupt nichts mehr sind, nichts als ein gleichgültiger Gebrauchsgegenstand, Büroschränke zur Aufbewahrung von genormten Menschen. Angesichts solcher Gipfelungen musste doch wohl ein Gefühl aufspringen, dass es ganz ohne eine Gliederung der Baukörper für länger nicht abgehe. Leider vermag uns diese, wie sie sich gestaltet hat, auch nicht glücklich zu machen. Sie ist überabsichtlich und besteht nur aus zerebralen kurzatmigen zackigen Einfällen und aufgeregten Pointierungen, die mechanisch wiederholt werden und ein hektisches Treiben entfalten.

 

In den Einfamilienhäusern sind diesen Anreihungen Grenzen gesetzt; zum Ersatz dient der innern Unruhe ein eigensinnig gewolltes Abweichen von jeder Art von Symmetrie, dem alles Organische fehlt und das oft den Eindruck wie von buckligen oder sonst missgebildeten Menschengestalten macht. Das Streben, das dahinter steht, ist eben das nach Auffallen, Hervortreten, Originalität um jeden Preis auch bei unbeträchtlichen Bauvorhaben.

 

 

Dieses Hervortreten, Ausbrechen aus jeder Ganzheit wird von besonderer Bedeutung gegenüber jener Ganzheit, in welche sich ein Gebäude einfügen soll, sei es eine bauliche Gesamtheit oder eine Ganzheit natürlicher Umwelt. Das wird noch dadurch gefördert, dass der heutigen Baukunst meist eine mechanistische Weltanschauung zugrunde liegt, die organische Ganzheiten grundsätzlich verneint. Daher die Angriffigkeit, mit der sich diese Baugesinnung gegen die Zumutung der Einordnung in vorhandene Ganzheiten richtet; diese Angriffigkeit hat oft etwas Verkrampftes, Ressentimentgeladenes an sich.

Die heutige Gestaltlosigkeit beansprucht, ein Stil zu sein wie jeder andere, daher: Wenn es nicht zu Gewachsenem passt, desto schlimmer für dieses. Wenn es gelingt, eine städtebauliche lebendige Einheit durch einen hineingezwängten modernen Bau zu sprengen, so beherrscht den Architekten Stolz und Freude, wie wenn ein Barbareneinbruch seine Fahne in die geschlagene Bresche einer Festung aufpflanzt, wo dieses Panier nach allen Seiten Tod und Vernichtung ausstrahlt.

Es besteht nämlich das instinktive Wissen, dass von einer bestimmten Verbreiterung der Bresche an das Alte neben dem Neuen nur noch wie ein schlechter Witz wirkt und dann von selbst zurückgezogen wird. (Im Gegenteil sollte man vielleicht bei Zusammenstössen zwischen alt und neu ein gewisses Vorurteil zugunsten eigenen Nachgebens festhalten, weil die Alten mehr Instinkt hatten als wir und ohne Instinkt die Proportionen eines guten Baus und seine örtliche Angepasstheit nicht auffindbar sind; jene wussten, ist zu vermuten, besser als wir, was zusammengeht.) Und was die Natur anlangt, so bescheinigt man sich selbst bedenkenlos, dass der geplante Bau sich prächtig einordne, und baut dann ungehemmt im Schema drauflos:

 

 

Besonders der Landschaft, allerdings auch umgebenden älteren Bauten gegenüber spielt in dieser Kontaktlosigkeit auch das Flachdach eine starke Rolle. Es ist bereits zu einem Dogma geworden. Aber es sollte an sich auch von den besonderen Umständen abhängen: Im Mittelmeerraum mit seinen besonderen Klima-, Licht- und Geländeformen Ist es das Passende und ist immer wieder zu lebendiger Gestaltung gebracht worden. In nördlicher Gegend mit ihrer starken Verschattung und Verwischung der Umrisse ist das Giebeldach die gegebene Form; sie passt zu den spitzigen oder kugeligen Baumkronen, zerreisst nicht die weichen Linien der Landschaft mit rohen Kuben, schliesst eine gewisse Strebung zum Hindurchstossen durch die Nebelschicht nach oben ins Freiere ein, wiese auch dem Lebensgefühl des Nordens entspricht.

Das Flachdach schneidet solchen Aufwärtsdrang wie mit einem Deckel ab und lähmt ihn bis in die Fundamente hinab - so wie ein Torso ohne Kopf auch in den Füssen nur niedergeworfene Strukturlinien hat. Man könnte den Unterschied als ganz ins Ideelle verlängerten mit dem zwischen Immanenz und Transzendenz zusammenbringen. Treibt man die Entgegensetzung so tief hinab, so wird desto klarer, dass das Flachdachhaus In unsern Breiten dem Empfinden immer so fremd und anstössig erscheinen wird wie das Giebelhaus im Süden. –

 

Ein Wort noch über die Hochhäuser; sie können natürlich nicht mit einem Satteldach bedeckt werden. Aber so sehr hier manche Gestaltungen verhältnismässig ansprechen können, vielleicht weil darin die Senkrechte nicht ganz tot zu bekommen ist, so wenig könnte man sagen, dass der Stil, der Gegensatzausgleich für diese neuartigen Gebilde schon gefunden sei.

 

 

Wenn nun hier die Kritik an der modernen Architektur ziemlich radikal und umfassend erhoben wurde, so wird die Frage sich nicht abweisen lassen, wie dann nach positiver Meinung solcher Kritik gebaut werden solle? Im allgemeinen mutet man dem Kritiker in den Künsten zwar nicht zu, er müsse es besser machen können als der kritisierte Künstler. Aber er müsste wenigstens in andeutender Weise die Richtung angeben können, in welcher seiner Meinung nach das Bessere läge. Versuchen wir diesem Verlangen nachzukommen.

 

 

Wie also? Man könnte mit wenigen Worten sagen: Menschenfreundlich, nicht menschenhasserisch; nicht um ein Strafgericht an den Spiessbürgern zu vollziehen, sondern um den Menschen zu Gefallen und Fördernis zu sein; nicht breitspurig, sondern bescheiden; nicht vordrängerisch, sondern sich einfügend; nicht genialisch, sondern unauffällig. Nicht «zeitgemäss», nach all den schlimmen, eiskalten, leblosen Seiten der Zeit, sondern nach den bleibenden Massstäben, auch wo man sie nicht ganz erfüllen kann.

 

Es gibt eine Lüge, eine Heuchelei vor dem Geist der Zeit, welche zerstörerisch und verboten ist; so war es mit der Bau und :ganzen Kulturgesinnung der Gründerzeit. Aber es gibt auch eine wenngleich vielleicht im Augenblick nicht voll zu erwahrende Haltung, welche das hässlich Nackte bedeckt mit anständigen, ja auch vorsichtig schmack- und schmuckhaften Formen, auch wo sie nicht aus dem Nichts gestampft werden, sondern geschichtliche Vorgänger haben.

Es gilt auch zu sehen, dass die Romantik (hier als Inbegriff einer individualistischen, das Gefühl und seine Werte ernstnehmenden und einbeziehenden Einstellung) nicht nach Spengler eine «provinzielle», spiessbürgerliche Haltung bedeutet, sondern ihre Rolle immer behalten und, davon weggedrängt, nur eine kitschige Sentimentalität an ihrer Stelle zurücklassen wird. Gerade im Wohnwesen hat auch das offenbare Idyll seinen legitimen Ort.

 

 

Wenn hier eine sehr grundsätzliche Bestreitung zeitgenössischer Baugesinnung geboten wurde, so ist noch nachzutragen, dass sie in dieser Radikalität nur für unser Land gilt. In keinem der näher oder ferner umliegenden Ländern ist das kalte Wüten der «Moderne» auf diesem Gebiet so lückenlos.

In Deutschland und in Österreich wird In den Dörfern und Kleinstädten so weiter gebaut, dass es mindestens niemandem etwas zu Leide tut, noch tun will. In Italien dehnt sich diese menschenliebende Gesinnung sogar auf die modernen Mietskasernen aus; sie sind sichtlich von dem erfolgreichen Willen zur Hübschheit und Freundlichkeit eingegeben und finden darauf fussend sogar gelegentlich zu massvoll neuen, überzeugenden Gestalten. In England und in Nordamerika ist die völlig klassizistische Überlieferung unausrottbar lebendig.

 


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