Home Der Augenblick und die Begegnung

 

Von Erich Brock

 

Erschienen in der „Neuen Zürcher Zeitung“ am 3.10.1971, S. 53

 

Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung der Neuen Zürcher Zeitung

 

 

 

Wie alles Sein vor dem Verstand sich in zwei polar entgegengesetzte und einander ergänzende Positionen auseinanderlegt, so auch die Bedeutsamkeit, welche die Zeit für den Menschen haben kann. Sie vermag uns ein Gesicht der fließenden Stetigkeit und eines der scharfen Abgeteiltheit zuzuwenden. Jenes ist dem Allgemeinen, dieses dem Besonderen und Individuellen zugeordnet.

Rationalismus und Christentum drängten das Dauernde, Bestandhafte an der Zeit einseitig hervor; der Augenblick wurde abgewertet als Sache der Triebhaften, Kurzsichtigen, Leichtlebigen, welche die ewigen Werte für schnell verfliegende Befriedigungen hingeben, den unwandelbaren Halt an vorübergehendem Schrecken scheitern lassen. Demgegenüber liegt dem heutigen Menschen nahe, dem Augenblick eine positive Bedeutung beizumessen, und wenn wir diese mit einem Wort andeuten wollen, so bietet sich dafür «Begegnung» an: Begegnung mit im Augenblick beschlossenen Erlebnissen, die gerade darin ihren eigenen unersetzlichen Wert hegen.

 

 

Wo ist das Ewige gegenwärtig, wenn nicht im Augenblick - wenn nicht im Hier; denn dieses gehört zum Jetzt, um die Ortung der Individualität zu vollenden. Nur im Augenblick spitzt sich das Ewige auf das Menschliche zu; und dessen Rolle ist doch weitgehend Entscheidung. Sie findet ungeachtet aller Vorbereitung im Augenblick statt - nicht nur in die Erstreckung der Zeit hinein, sondern auch für den Augenblick selbst.

 

 

Die Entscheidung für die Forderung des Augenblicks ist von einem Ernst, wie er der Ewigkeit nicht so leicht entlöst werden kann. Es ist die Forderung an den Menschen, den Augenblick nicht unerfüllt vorbeigehen zu lassen; sie ist aber auch die Forderung des Menschen an den Augenblick, derselbe dürfe nicht unerfüllt vorbeigehen. Der Augenblick muß unverzüglich erkannt, gedeutet, beantwortet, ergriffen, genommen, ausgelebt, genossen und erlitten, gekonnt und verantwortet werden. «Was du von der Minute ausgeschlagen, das bringt dir keine Ewigkeit zurück» (sagt Schiller).

 

 

Darum ist auch der mit seiner zugeborenen Erfüllung gelebte Augenblick von berauschender, durch die ewigen Götter beneideter Süßigkeit; der leer vorbeigelassene läßt ein gallenbitteres schneidendes Bedauern zurück wie von echter Schuld: eine Weltstelle ist hohl, folgenlos, fruchtlos geblieben. Im Augenblick sind auch alle Bedeutungen eigentlich, nicht ins Allgemeine ausweichend; das gilt ebensosehr für das Gute und Schöne wie für sein Gegenteil. Verwischen wir das Schlimme ins Allgemeine, in einen breiten Hintergrund der Unverbindlichkeit, so auch das Schöne. Dieser Zusammenhang ist unerweichlich, wirklichkeitshart.

 

 

Den Augenblick so absolutzusetzen, wie er es sich selber zu tun scheint, müßte einen hektischen, alles Seinshafte, alle Freiheit zerstörenden Zug ins Leben bringen. Auch was wie zögernd aus weiten, sich langsam enthüllenden Zusammenhängen über große Strecken hin, sich erfüllt, hat darin einen Eigenwert. Ohne Gelassenheit ist alle Gespanntheit leer. Es ist eine unerläßliche, lebenslang zu erlernende Kunst, die beiden Zeitformen der Werte zusammenzubringen.

 

 

Darüber wäre sehr viel zu sagen. Aber zunächst ist vielleicht das Wichtige, den heutigen Menschen, welche zwar dem Dauernden, Allzudauernden abgesagt haben, aber durch diesen Fehler nun auch den Augenblick nur als in die Leere zerflatternden gewonnen haben, das Hier und Jetzt als das Tiefernste aufzuweisen.

 

 

Im Ergreifen und im Sich-ergreifen-Lassen erlegt es Wagnis und Verantwortung auf - die Verpflichtung, da zu sein. «Die Gegenwart allein ist unser Glück; da sein ist Pflicht, und wär's ein Augenblick» (Goethe). Das Schwere daran ist, die Leichtigkeit zu. erschwingen, welche der gehaltvoll gelebte Augenblick schenkt. Das Ewige ist System, der Augenblick ist ununterstützt. Gelingt er, so erscheint er als das Schwebende, im Fluge zu Erhaschende, das den Bodensatz des Lebens nicht aufrührt, als das Unfestgelegte gegenüber dem durchgebauten Gefüge des Alltags.

 

 

Darin pflegt der Augenblick eine Nachbarschaft zum Schrecklichen, aber auch zum Schönen, welches beides auch dieses Unableitbare, Unorganisierbare, wie in einer höheren Begegnung Hingeschwungene hat. Besonders das Kunstschöne muß im Augenblick ergriffen und gekonnt werden, es ist Gegenwart und nichts anderes. Alles echte Ergreifen geschieht, im Unterschied zum Lassen, im Augenblick, und es behält darum jene wilde Freiheit, jenes Freibeuterhafte, das dem Menschen für sich selbst und an den anderen so ersehnt ist - vielleicht besonders den Frauen.

 

 

Was solches Ergreifen tragen kann, ist der volle Einsatz des Menschen. Denn es gibt keine Werte und Güter, die so allgemein, objektiv, in sich ruhend wären, daß sie für ihre Gültigkeit unsern geistigen und Lebenseinsatz entbehren könnten. Aus jenem in sich ruhenden Element kommt ein Teil der Einsatzbereitschaft; bereit sein ist alles. Dann kann Überraschung aufgenommen und Abenteuer angenommen werden; beides strahlt einen unerschöpflichen Reiz aus. Da tut sich wieder die tiefe und rätselvolle Sinnbeziehung zwischen Augenblick und Ewigkeit, zwischen Werden und Sein auf. Sie ist begrifflich nicht zu bestimmen, höchstens praktisch auszuüben.

 

 

Dem Hier und Jetzt gerecht zu werden ist leichter, wenn seine Wertform bejahend bestimmt wird; und dafür hatten wir das Stichwort Begegnung vorgeschlagen. Es hat den Vorzug, gleich den Blick aufs Kleine, ja Kleinste zu ermöglichen, von wo aus dann vielleicht Gesichtspunkte aufleuchten, die zur Bewältigung des Großen beitragen können. Begegnung ist leichter und schwerer gegenüber dem Versuch voller Einswerdung, gerade weil sie sich an einem Ausschnitt des Lebens genug tut.

 

 

Diese Enthaltsamkeit darf aber nicht aus Armut oder Oberflächlichkeit kommen, die sich im Bewußtsein baldigen Versiegens des Antriebs weiterem versagt; sondern aus einem Eigengesetz zwischenmenschlicher Fühlung muß eine Kraft der Zusammenraffung, Schärfung, Verinständigung erwachsen, welche Sparsamkeit im Zu-Ende-Sagen, -Denken und -Behandeln dessen hervorbringt, was da zwischen Menschen aufbricht. Es können so Dinge ihre Wahrheit finden, welche von der Notwendigkeit breiter Bewährung verleugnet; würden. Es muß genug Bedeutungsfülle in die Berührung gelegt werden, damit jene raffende Gestaltung prall werde, aber nicht so viel, daß die schmale Zeitform überlastet und die Rundung des Inhalts in ihr verunmöglicht würde.

 

 

Das dazu nötige Fingerspitzengefühl macht fast unwillkürlich eine vollendete und doch fortzeugende Begegnung zu etwas gleichsam Künstlerischem, jedoch abseits von aller Künstlichkeit. Wesentlich ist, daß alle Einschüsse dabei einen bedeutenden Rückhalt ahnen lassen, der mit innerer Freiheit und dadurch mit Abständigkeit verwaltet wird. Diese innere Freiheit, welche sich in dem Augenblick zu binden nicht verschmäht, ist die Atmosphäre, in der eine gelungene Begegnung möglich wird.

 

 

Es gibt kürzeste Begegnungen, die zwei Menschen nur durch eine gemeinsam durchlebte Situation verbinden - welche an sich gar nicht spektakulär zu sein braucht, aber doch von lebendiger und dabei irgendwie fragwürdiger Bedeutung gespannt ist. Das Problematische daran kann in einem Wort seine Lösung finden, das die Situation kennzeichnend ausdrückt und damit einen Augenblick echter Gemeinsamkeit schafft - etwa auch in einem kurzen Ausruf, einer trockenen Randbemerkung, einem Aphorismus mit vielleicht sarkastisch oder humorvoll getöntem Ausblick ins Allgemeinmenschliche - ja nur in einer Gebärde, einem Lächeln, das Einverständnis vorschlägt und herbeibringt.

 

 

Dazu ist natürlich geschwinde Erkenntnis der Lage und ihres Sinnes erforderlich sowie auch eine gewisse Abstraktions- und Ausdrucksgabe. Es leuchtet dann etwas auf wie das Licht eines Zündung, eine Übereinstimmung der Eigenschwingungen, die auch in der Abmessung zwischen Ausgedrücktem und Zurückgehaltenem bestehen bleibt.

 

 

Sinn und Wert solcher eng geführter Formung aus dem Fluß der Zeit heraus ist nicht, das breite Leben publikumssüchtig mit kleinen Geistreicheleien zu besticken, sondern spontan und doch genau gezielt die Dürre und Vereinzelung besonders des Zivilisationsmenschen zu durchbrechen - womit schon gesagt ist, daß ein derartiger Akt etwas von allgemeinster Menschenliebe enthält und gibt, die, vielleicht auf herbe Weise, jenseits der Geschwätzigkeit privater Ergießungen objektiviert und in Haltung eingefaßt wird.

Man ist aus sich herausgegangen, nicht ohne Risiko, ins Leere zu stoßen oder abgewiesen zu werden, und hat sich doch nicht verloren, weil der andere, dem der Ball zugespielt wurde, ihn auffangen und zurückgeben konnte - vielleicht auch nur durch eine Haltung, einen Gesichtsausdruck. Man ist nicht hängen geblieben, hat sich nicht in die Begegnung hineingekniet, an sie angeklammert, hat sich wieder gelöst, nachdem der Anlaß soweit es ihm möglich getragen hatte; es wurden keine Gründe tiefer angerührt, die jedenfalls auch Süchtiges, Lastendes, Verstrickendes, Bitteres nach oben brächten. Es ist nicht der verzweifelte Versuch gemacht worden, aus unfreier, hilfloser, sich zernagender Einsamkeit auszubrechen, sondern alles ist im blank geschliffenen, ja geradezu tänzerisch emporgetragenen Augenblick beschlossen geblieben. Mit erhelltem Kopf und erwärmtem Herz scheidet der Teilnehmer aus solchem Begegnis.

 

Es gibt auch echte Begegnungen, die tiefer ins Leben hineingreifen - und doch nicht in seinen Mittelpunkt. Kameradschaften können durch ein an sich reißendes, ja erschütterndes gemeinsames Erleben von Stunden oder Tagen zusammengebunden werden, oder mehr aktiv zusammenfinden angesichts einer gemeinsam umrissenen und sich aufnötigenden Aufgabe. Handelt es sich dabei mehr um Männer-Befreundungen, so gibt es schmal befristete Berührungen auch zwischen Mann und Frau.

 

 

Wenn eine Frau, etwa eine schöne Frau nicht ohne Erfahrung ist in dem inneren Kreis der Liebesdinge, so wird sie vielleicht, wenn sie genug innere Freiheit bewahrt hat, gerade gefesselt und dankbar sein, einmal mit, einer absichtslosen und leichtfüßigen Huldigung angesprochen zu werden, die nur eben hinrührend Schlankheit und Eleganz aus dem tiefer Menschlichen herauszuläutern vermag. Hier wird von beiden Seiten um die Folgenlosigkeit gewußt und ihr ohne Verletzung zugestimmt; dennoch schwingt auf eine zarte Weise mit, was etwa sein könnte, hätte sein können entlang der nur durch feine Bebung hervorgewirkten Inständigkeit der augenblicklichen Beziehung. Dieser Geist zeitigte die schönsten Blüten der Galanterie in der provenzalischen Hofkultur, in den Salons des französischen 17. Jahrhunderts und in der deutschen Frühromantik.

 

 

Wie aber, wenn es sich um mehr handelt als um solche sublimen Abenteuer der Höflichkeit - um Begegnungen, die innerhalb der Stunde tief und breit gegen den Mittelpunkt des Lebens ausgreifen? Es gehört Behutsamkeit und Besonnenheit dazu, über das erotische Abenteuer etwas Förderliches zu sagen - etwas, was eine Vorstellung versuchte von der möglichen Eigengestalt eines solchen - etwas, was nicht die Maßstäbe und Begriffe von einer Dauereinung hernimmt, die jenes als Ermäßigung, als Abfall vom nicht erschwungenen Umfassenden erscheinen läßt.

 

 

Das zweite Hemmnis ist, daß vermutlich wenige Menschen Kunde und Erfahrung haben von solcher Eigengestalt. Vielleicht müssen die andern sich an die Dichter halten, welche uns diese Gestalt glaubhaft machen; und wer hätte mehr Wissenschaft von der Gestalt als die Dichter? Die solcher Gestaltung fähig sind, müssen wohl Menschen sein von echter Leichtigkeit über aller Schwere, über allem Gehalt, der sich tausendarmig mit dem Lebensganzen verschränkt - aber nicht ohne diesen Untergrund; Menschen, denen der Augenblick mit einer in sich lodernden Glut erleuchtet wäre; Menschen mit einer wesenhaften Macht des Vergessens aus dem ungebrochenen Wogenzug des Lebens; Menschen, die angerissene Lebenslinien in sich selbst zurückzuflechten wüßten - diese Dinge aber beileibe weitab von bloßem Virtuosentum.

 

 

Ohne das alles würde der Empfindende dennoch eine Wunde, eine Bitternis zugefügter oder erlittener, annagender oder eingreifender Verwüstung zurückbehalten - oder auch nur einen faden Geschmack auf der Zunge, den nur Roheit nicht als Lügenstrafung des Erlebten empfände. Gelänge die Begegnung aber, so würde die Erinnerung doch zusammen mit allem vom Hier und Jetzt ausgeschlossenen Unausschöpfbaren der Welt in leiser, tiefgründiger Trauer schwingen wie Obertöne in der Musik.

 

 

Die Breite von Raum und Zeit ist dieser Trauer ledig, aber sie fällt dafür leicht dem würgenden Gefühl des Abgegriffenen, Ausgetretenen, Erneuerungslosen anheim - der schmutzigen Langeweile vor dem, was nur es selbst ist, immer so, wie es ist, niemals anders, niemals lebendig, atmend, pulsierend, in sein anderes umschlagend.

 

 

Dies abzustreifen, es hinter sich hinzuwerfen wie klebrig verbrauchte Wäsche und allen Dingen neue Leuchtkraft zu verleihen, dazu ist den meisten Menschen die Begegnung mit dem Fremden, Unbekannten unerläßlich - so flach diese Tatsache auch an sich ist.

Auch das erotische Abenteuer lebt wohl mehr von der Unvertrautheit als von der Vertrautheit und Vertraulichkeit, mehr von Vermutungen reichen Rückhalts, die nicht erwahrt zu werden brauchen. Die Außenwendung zu den niedrigen Reizen reiner Fremdheit ist meist nur eine Funktion der ungeheuren Öde, die der Mensch allzuoft sich selber bietet und die er auf alles Bekannte und Nächste ausstrahlt. Noch der dümmste, nichtigste Klatsch und Tratsch nimmt seine endlos bezaubernde Anziehungskraft aus der scheinbaren Unermüdbarkeit des Unbekannten.

 

 

Damit die Umwelt des Menschen in sich selbst unerschöpflich fesselnd bleibe, muß der Mensch selber unerschöpflich werden, sich und den andern immer wie vertraut, so überraschend sein. Dann vermag er auch in Verhältnissen sich zu verwurzeln, welche über alle Leeren hinweg sich ohne Selbstverlust endlos wandeln und erneuern.

 

 

Vertraut und verfremdet! Das gibt die Spannung vom Ewigen zum Augenblick, in welcher das Leben immer verharrt. Es braucht einesteils das verläßlich sich entrollende System, wie das lebendige Gewebe des Baumes das Holz braucht. System ist die Form der Vernunft, und Vernunft ist für das Leben Sicherung, Aufrechterhaltung - ja ist seine erstreckte Lebensfähigkeit. Aber ebenso will das Leben Entsicherung, weil das System gleichzeitig das Leben verholzen macht und totdrückt.

 

 

Hier wie überall ist der Weg des Lebendigen schmal zwischen zwei Lebensgefahren hingezeichnet. Volles Leben muß sich ganz in umgreifender Durchgestaltung binden und sich ganz unvorgeschrieben in Augenblick und Begegnung ergießen. Es gibt für diese Auseinanderlegung des Lebens und ihren Ausgleich keine formelhafte Planung - so wenig es für das Planmäßige und das Außerplanmäßige, das System und die Systemdurchbrechung einen gemeinsamen Nenner geben kann. Williger Instinkt und zuversichtliche Vernunft müssen von Fall zu Fall sich zum Einsatz verbinden.

 


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