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Erich Brock: «Naturphilosophie», Francke-Verlag, Bern, 1985

 

Von Peter A. Brügger

 

Erschienen in der „Neuen Zürcher Zeitung“ am 10./11.5.1986, S. 101

 

Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung der Neuen Zürcher Zeitung

 

 

 

Ein naturphilosophisches Buch, gut dreissig Jahre nach der ersten Niederschrift erstmals erschienen, und zwar aus dem Nachlass eines Autors, der vor zehn Jahren bereits gestorben ist - welcher neuigkeitsdurstige Zeitgenosse bleibt da schon vor der Anwandlung eines handfesten Anachronismusverdachtes bewahrt? Der Verdacht ist gewiss verständlich, nur wird er nirgends bestätigt. Erich Brock hat mit seiner «Naturphilosophie» nämlich ein Werk verfasst, das auf Grund des Differenzierungsgrades und des wissenschaftlichen Kenntnisstandes, auf Grund auch der zeitlosen Fragestellung und insbesondere der originellen Weltsicht ein Diskussionsniveau erreicht, das auch heute noch hochaktuell ist.

 

Heute in verstärktem Masse, müsste man richtigerweise sagen;. denn (erst) in den letzten Jahren haben auch Naturwissenschafter ernsthaft damit begonnen, ihr Tun und Lassen philosophisch zu reflektieren, Sinn und Ziel ihres Forschens zu bedenken, bisher als absolut gültig erachtete Antworten zu hinterfragen. Erich Brocks Schrift könnte gerade angesichts dieser Sachlage ein die engeren Fachgrenzen sprengender Gesprächsbeitrag sein, denn die Gedanken bewegen sich nicht im luftleeren spekulativen Raum, sondern in der Auseinandersetzung mit konkreten Beispielen.

 

Auf dem «dialektischen Zickzackweg des Erkennens» sollen die «dynamischen Relativitäten» der Natur erfasst werden - dies ist in eins Brocks Grundkonzept und Methode. Nichts ist eindeutig, in sich verfestigt, mit sich identisch. Die Welt ist von polaren Kräften getrieben, von dialektischen Spannungen bewegt; der Dualismus beherrscht den Kosmos. Immer wieder geschieht jedoch die «Aufhebung» dieses Dualismus, stets aber im einschränkenden Sinn von Hegel, dass die beiden Pole zugleich «beseitigt» werden und «bewahrt» bleiben. Und nur auf Grund der «prästabilierten Harmonie» von Subjekt und Objekt wird dieses Gesetz des «Verstandes» gleichsam in die äussere Wirklichkeit hinausgetragen.

 

Sinn und Sinnlosigkeit, Ordnung und Unordnung, Determination und Freiheit, «blinde» Kausalität und das Wirken nach Naturzwecken: in wechselseitiger Verschränkung und Bedingtheit sieht Brock in allem Geschehen diese Zweiheit. Auch die Planeten bewegen sich ja nicht kreisförmig, sondern in elliptischen Bahnen, denn nur in der Ellipse wird die räumliche Spannung und Distanz der Brennpunkte aufrechterhalten. Auch das Welle-Korpuskel-Modell von Heisenberg gehört hierher sowie das wechselnde Spiel von Attraktion und Repulsion zwischen den Geschlechtern, welche - dialektisch - im «andern» jeweils zum Selbstsein und zum Selbstverlust gelangen.

 

Vehemente Kritik erhebt sich bei der Auseinandersetzung mit der «simplifikatorischen Formelsucht» des Darwinismus. Mutation und selektive Anpassung an die Umwelt: der «Stein» war von jeher bestens angepasst, weshalb hat er «Flügel bekommen»? Das blinde Wuchern eines Kausalmechanismus reicht eben nicht aus, die Formenvielfalt des Lebendigen zu erklären. Um den gleichermassen arroganten wie ignoranten Glauben der Materialisten zu überwinden, wird man nicht umhin können, in den Organismen zweckmässig und sinnvoll angelegte Formentwürfe anzunehmen.

 

Erich Brock scheut auch nicht davon zurück - gerade als aufgeklärter Mensch des 20. Jahrhunderts -, Ästhetisches gegen den Materialismus ins Feld zu führen. «Warum die kostbare Schönheit des Amselliedes, wo doch zur ‚Markierung des Territoriums’, zur ‚Abreagierung des Stoffüberschusses’, zur ‚Anlockung des Weibchens’ ein konventioneller, misstönender, wenn nur spezifischer Schrei genügt hätte?» Sein ganzes unbefangenes Denken und Schauen führt den Philosophen unwiderstehlich zur Vorstellung und zur Annahme eines - völlig unkonventionell ausgelegten - schöpferischen Natur-Gottes.

 

Die «Naturphilosophie» ist eine kühne, vielschichtige, in die Tiefe dringende denkerische Leistung. Scheinbare Widersprüche und Gegensätze werden durch eine glänzend gehandhabte Dialektik stets wieder verflüssigt und in der Schwebe gehalten. Die Interpretation geschieht nie rein deterministisch «von unten nach oben», d. h. es wird nie einfach ein unterstellter Naturmechanismus fraglos auf den Menschen übertragen; umgekehrt aber bezieht Brock das Sinn- und Freiheitsbedürfnis des Menschen durchaus in seine Naturbetrachtung mit ein, womit er gleichzeitig die Eindimensionalität des herkömmlichen naturwissenschaftlichen Ansatzes überwindet.

Dem Herausgeber dieses Bandes, Ernst Oldemeyer, ist also zuzustimmen, wenn er im Nachwort zur «Naturphilosophie» schreibt: «Sie könnte eine wesentliche Perspektive zu der heute so intensiv gestellten Frage nach dem Verhältnis der Menschen zu ihrer Lebensumwelt und zur Natur überhaupt beisteuern, einen Baustein zu einem vertieften, den Reduktionismus überwindenden Naturverständnis bilden, das heute so viele suchen.»

 


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