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Von Erwin Jaeckle

 

«Die Tat» Nr. 142 - Zürich, den 19. Juni 1971, S. 33-34

 

 

Es gehört mit zu den tröstlichsten Erscheinungen dieser gärenden Zeitläufte, dass unsere Bedürfnisse in das umzäunte Gehege der Religionen und ihrer gehüteten Dogmatik einbrechen und unmittelbar drängende Fragen stellen. Eine Reihe ernstzunehmender Schriften von Laien bezeugen, dass das Christentum, angefochten wie es ist, lebt, und die Wissenschaften - Philosophie, Physik - ringen neu um ein sie ergänzendes religiöses Weltbild.

Zwei Arbeiten solcher Art sind von hohem und herausforderndem Rang: Erich Brocks Buch Die Grundlagen des Christentums und Marcello Craveris Untersuchungen über Das Leben des Jesus von. Nazareth.

 

 

Erich Brock verspricht einleitend das Wesen des Christentums von seinen Ursprüngen her anzuleuchten, um daraus in einer künftigen Arbeit praktische Schlussfolgerungen zu ziehen. Es gelte dabei, Schattenseiten und Lichtseiten (des Wesens oder der Ursprünge?) als untrennbar verknüpft aufzuweisen, woraus allerdings ein Einwand gegen die Absolutheit des Christentums folge. Diese darzustellen, hege eigentlich keine polemische Grundabsicht. Bewahre, polemisch wolle der Autor auch dort nicht fechten, wo er einen Augenblick ins Polemische ausgleite.

Wer innerhalb der Absolutheit zu verharren gedenke, möge ein Buch, das nicht für ihn geschrieben sei, ungeöffnet lassen. Dieser, der bei der überkommenen kirchlichen Auffassung bleiben wolle, weil er darin Kraft zum letztlich Wichtigsten, zum Leben und zum Sterben, finde, möge sich und andern unfruchtbare Auseinandersetzungen ersparen. Das Buch sei nur für solche geschrieben, die ausserhalb der kirchlichen Wertungen «ehrlich, ja leidenschaftlich einen Weg zur Religion» suchten.

 

 

Der Autor beabsichtigt also, über die Darstellung der zwielichtigen Ursprünge des Christentums hinaus zu dessen Wesen vorzustossen und einen Weg zur Religion schlechthin zu weisen, der uns praktisch leben lehre.

 

Das sind so viele Fragen, wie es Begriffe sind.

 

Welches sind die Ursprünge, was ist das Wesen des Christentums? Erhebt dieses Anspruch auf Absolutheit? Wie definiert der Verfasser diese Absolutheit? Gibt es nur einen Einwand gegen sie? Verrät dieser Singular nicht eine seltene Selbstsicherheit? Auch wenn sie sich ohne eigentlich polemische Grundabsicht äussert? Was will hier eigentlich besagen? Wo beginnen die Nebenabsichten; welcher Art :sind sie, wie weit  tragen sie? Ist das Christentum das Christentum? Hat es überkommene Auffassungen? Warum sind Auseinandersetzungen mit ihnen unfruchtbar?

Muss dies alles nicht mit der Lektüre des Buches geklärt werden? Warum aber weist dann der Autor Vertreter der überkommenen Auffassung zum vornherein zurück? Geht es im Christentum auch um Religion? Welche Religion wird denn «ehrlich, ja leidenschaftlich» jenseits der überkommenen Auffassung der Kirche - welcher Kirche? - angestrebt? Halten die praktischen Schlussfolgerungen der überkommenen kirchlichen Auffassung Waage? Übertreffen sie diese? In der Wahrheit? In der Wirkung? Diese Fragen gehn hautnah, weil Brock dreihundertsechzig Seiten später jede Ungerechtigkeit und Unduldsamkeit verwirft und versichert, den eigenen Weg nicht «als den allein wahrheitshaltigen» empfinden zu wollen.

 

 

Spätestens seit Ethelbert Stauffer wissen wir, dass wir kein einziges Jesuszeugnis besitzen, das tendenzfrei berichtet. Früher schrieb man nur dem Vierten Evangelium theologische Absichten zu und glaubte, dass die Synoptiker vortheologische Jesusberichte vermittelten. Seither weiss man um die dogmatischen Voraussetzungen dieser und würdigt, dass die theologische und kirchliche Dogmatik in der Jesusüberlieferung viel älter ist, als es die Evangelien sind. Ethelbert Stauffer meint daher verzweifelnd und überzeugt, dass es in der Geschichte der christlichen Kirche nicht einen Tag lang eine tendenzfreie Berichterstattung gegeben habe. Im Gegensatz zu ihm, der historisch-kritischen Exegese, sei sie liberal, rationalistisch, rechts- oder formgeschichtlich, im Gegensatz auch zur dogmatisch-systematischen Bibelinterpretation will Erich Brock die Haupteinsichten «aus einem unmittelbaren Zudringen zu den Texten, wie sie dastehen und vor Jahrtausenden dagestanden haben», gewinnen, sich unverdrossen in sie versenken und die historisch-kritische Arbeit «massvoll» einbauen.

Dabei möchte er, die Lichtseiten israelitischer Religion zu gewinnen, die Schattenseiten nicht verwedeln. Er glaubt das Alte Testament in seiner «machtvollen Einheitlichkeit» wahrnehmen zu können und den grossartigen israelitischen Gottesbegriff sichtbar zu machen. Bei all dem schliesst er (wie andere auch) das Neue Testament in der Übernahme von Haltungen und Zitaten an das alte an, vertraut den Synoptikern, die ihm einen äusserst konkreten Jesus verheissen und verwirft das Johannes-Evangelium schroff.

 

 

Zwar weiss man, dass auch Lukas zuweilen bedenkenlos widersprüchliche Textvarianten überliefert, weiss, dass gerade er Jesus Sohn des Höchsten nennt, dem der Herr den Thron seines Vaters David gebe, weiss, dass der Prozessbericht der drei frühen Evangelisten rechtskritisch als unwahrscheinlich entwertet ist, weil Pilatus nach der lex Julia maiestatis urteilte, Psalmprophezeiungen in Erfüllung gehen sollen und zahlreiche Parallelen zwischen den beiden Testamenten Nachrichten verbiegen, ahnt deshalb auch, dass der Bericht vom Tode Jesu theologisierend verfährt.

 

Erich Brock verzichtet selbst auf die vollständige koptische Fassung des «fünften Evangeliums», das Thomas zugeschrieben wird. Er tut es wohl aus dem nämlichen Urteil heraus, das er dem Johannes-Evangelium entgegenschleudert: ihm ist das Sondergut des Johannes «grösstenteils ... (greisenhafte) Erdichtung», die er einem «sehr alten Menschen» zugute halten könnte. Jesus zeigt sich darin «in unablässigen Wiederholungen».

Der monologisierende Herr begegnet den «verhältnislosen Torheiten» der Umwelt. Wo konkrete Züge als Sondergut auftreten, dürften sie nicht auf dem Acker des Vierten Evangeliums gewachsen sein. Eine Geschichtsquelle solcher Art sei hinfällig. Dieses «Evangelium, das sich ,am Honig zu Tode gefressen' hat (wir verwenden die Ausdrücke Thomas Münzers)» verdient kein Vertrauen, ist nicht glaubhaft, verhärtet darüber hinaus «die negative Prädestination zur Unverträglichkeit», als würde es nicht schon im Alten Testament (Ex 33,19) heissen: «Ich neige mich gnädig dem ich mich gnädig neige. Ich erbarme mich dessen, dessen ich mich erbarme.»

Die Jünger des Johannes-Evangeliums erscheinen «vollends als unterbegabt»; Johannes selbst arbeitet zuweilen mit dem «diabolus ex machina». Die Liebe des Evangeliums erscheint Erich Brock «weichlich, weibisch, mit privater Eifersucht» durchsetzt, die augenblicklichen Leidenschaften Jesu «unduldbar» und der Verfasser, der sich hervordränge, von «unangenehmer Art». Das Vertrauen, das Erich Brock den Synoptikern bedingungslos entgegenbringt, dürfte also so überzogen sein wie die Abkehr, die er dem Vierten Evangelium angedeihen lässt.

 

Welches aber sind die Ergebnisse seiner Kritik?

 

Erich Brock stellt einen konstruktivistisch verfahrenden -- thomistischen - Gottesbegriff einem präsent wirkenden --- scotistischen - gegenüber. Jener gehorcht dem Vorrang der Vernunft, dieser dem Vorrang des Willens, jener ist gut, dieser gegenwärtig. Der Mensch ist solcher Dialektik verfangen. Das israelitische Volk dachte den Gedanken des göttlichen Absolutismus wie kein anderes zu Ende. Der scotistische Gottesbegriff lebt schon in den ältesten Zeugnissen des Alten Testaments. Er verkündigt einen Gott «irrationaler verhältnisloser Übermacht», der im Selbstabschluss verharrt und blindlings über Blinde gebietet.

 

 

So ist der Gott Israels voller Hass. In seinem Namen zerhauen «die Israeliten (Räuber und Halsabschneider nennt sie ein gleichzeitiger Bericht nach Tell-el-Amarna)» die Heiden. Er rast sich hemmungslos aus, so dass in den Berichten «unwidersprechlich klar» wird, wie «nur noch der reine Sadismus am Werk ist». Gott ist absolut souverän und in seiner Psychologie «leere Selbstidentität», jenseits aller Massstäbe also. Er ist «im religiösen Gefühl und Bewusstsein des israelitischen Volkes bereits mit grundsätzlicher Entschiedenheit anwesend». Er ist persönlich, reine Selbstbeziehung, verlangt Kadavergehorsam, gibt zu, dass er ungerecht wüte, stürzt, wenn er will, den Menschen in Sünde, um den Vorwand zur Strafe zu ergreifen.

Seine Psychologie (es wird des öftern von ihr geredet) handelt bald böswillig, bald heuchlerisch, hat keine Lust zu Saul, erwählt ohne Einsicht. Sie macht sich das Volk zum «Komplizen», ist unvergleichlich grausam, «von bösartiger Hämischkeit», huldigt der Sippenhaftung, ist ungeduldig, versengt die Länder zur Mondlandschaft.

Der Gefühlsmensch wird in Gott hineingespiegelt. «Unrein entworfen» sei dieser Gott «in der düsteren Verwölkung des israelitischen religiösen Bewusstseins». So ist er auch Teufel, «nämlich vor dessen Abspaltung durch persischen Einfluss auf die Exiljuden». Er will als solcher die Sündigkeit des Menschen, dieser scotistische Willensgott, der sein Volk erwählt und der noch in der Apokalypse erscheint.

 

 

Brock setzt die biblischen Gestalten den nämlichen psychologischen Begriffen aus, versteht auf diese Weise die Volkwerdung der Juden, die Eroberung des Landes, die Ausrottung der Urbevölkerung, die völkische Rachesucht des Buches Esther. Der Mensch steht im furchtbaren Kampf zwischen Scotismus und Thomismus, ringt um die göttliche Einsicht, die Gerechtigkeit, ist Hiob.

Mit einer vielseitigen Hiobdeutung hat uns Erich Brock das würdigste Zeugnis seiner quälenden Interpretation geschenkt. Sie steht nicht hinter den Deutungen der Margarete Susman, Martin Bubers zurück. Doch bleibt bei all dem vergessen, dass auch im Alten Testament der «Vater» angerufen wird (Psalm 89, 27; im Kaddisch, dem Gegenstück des Pater noster). Dazu kommt, dass Gott eben auch ein Stammesgott war und die Wortwurzel h-j-h indogermanisch Jov mit Jah verbindet. Die Selbsterschliessung Gottes vor allem in der Lebensfülle seiner Personalität zu sehen, verarmt den Begriff, etwa jenen der seinshaften Transzendenz, der monotheistischen Konzeption, der Heilsgeschichte im Bundeswillen, jenen der grenzenlosen Überräumlichkeit und Überzeitlichkeit.

 

 

Unter solchen Voraussetzungen gelangt Erich Brock zum umfänglichen Hauptteil und Mittelstück seines harten Buches: Jesus. Er ist (ihm) «im Grunde» Jude, und der biblische Jahwe erscheint. zuweilen in seinen Gleichnissen. So geht das Gleichnis vom Weingärtner wohl auf Jesaja zurück.

Auch die Prädestination schliesst an ein jüdisches Lohndenken an. Psychologisch - meint Erich Brock -- wolle die Prädestination einige Menschen - wenige - auszeichnen, «weil es sonst gegenüber der allgemeinen Ungesichertheit und Verfallenheit des Menschen, die vor aller Augen ist, nichts Ausnahmehaftes und darum Glaubhaftes mehr wäre».

Eine individuelle Erlösung kenne Jesus nicht. Wenn dem so wäre, erschiene mir der Streit zwischen Pelagius, der dem Menschen die Freiheit zur Gnade zurückerobern wollte, und Augustinus, der Gott allein die unbedingte Gnade vorbehält, von grösstem Tiefsinn, etwa jenem, den Brock Hiob zugestanden hat.

 

 

Erich Brock folgt dem Lebensweg Jesu, wie ihn die Synoptiker entworfen haben. Dem wäre entgegenzuhalten, dass es unmöglich ist, die Abläufe, wie sie Johannes erzählt, der synoptischen Darstellung einzufügen, dass es aber bedeutungsvoll erscheinen sollte zu erfahren, wie genau sich der synoptische Zeitverlauf in den johanneischen Rahmen einbauen lässt, so dass zum mindesten in diesem Belang die johanneische Quelle ernst genommen werden müsste. Tut man es nicht, so ändert dies allerdings am Jesusbild, wie Erich Brock es sieht, wenig.

Er deutet es in einem «unmittelbaren Zudringen zu den Texten» psychologisch. So spricht er von einer «Denkweise» Jesu, der «Hochgebirgslandschaft seines Denkens», der «Steilheit» des Nazareners, aber auch davon, dass Jesus es «sich nie klargemacht» habe, in welchem Masse «sein Messiasbegriff den Monotheisten schwierig werden musste». Jesus denke radikal, masslos, absolut, «mit stählerner Härte». Er hasse Geiz und Pharisäer, setze sich manchmal auch «naiv» über eigene Vorschriften hinweg.

Dieser «titanische Mensch» habe seinen «Denk- und Ausdruckstil». Deshalb sei er auch voller Widersprüche, heftiger Spannungen, aber auch reich und hochtrachtend. Seine Feindesliebe sei ohne Beleg. Dort wissen seine Henker nicht, was sie tun und sollen darum Vergebung erhalten, während er den Sabbatsünder selig preise, wenn er wisse, was er tue. Das schliesst sich nicht aus. Schauervoll dagegen, sagt der Autor, sei das Selbstbewusstsein Jesu in den letzten Tagen. Bei Jesus sei ein Zug des Einseitigkeitstyps besonders scharf ausgebildet. Doch handle er in furchtbarem Ernst.

 

 

Eine psychologische Exegese drängt sich selbstverständlich immer auf. Nur muss sie sich ihrer Grenzen bewusst sein und über dem vierbändigen Werk von Charles Binet-Sangle, das dieser dem « Theomanen» widmete, zu Bedenken gelangen.

Craveri gibt zu erwägen: «Alle diese Forscher berücksichtigen nicht, dass die Verhaltensweisen Jesu, auf Grund deren sie seinen Charakter und seine Psyche rekonstruieren zu können glauben, ihm in Wirklichkeit von den Evangelisten zugeschrieben werden, dass wir also nicht wissen, ob sie auf Wahrheit beruhen.» Dies umso weniger, als selbst die Jünger nach Brock «kleine Figuren» sind, die, «wie üblich, nichts begreifen».

 

Auch Craveri schliesst an die Apostelgeschichte an, die von «ungelehrten und einfachen Leuten spricht. Doch ist selbst nach sei nem Urteil die Geschichtlichkeit der Apostelwahl nicht zu leugnen, wobei Jesus vielleicht weniger an ein Priestertum als an treue Gefolgsleute gedacht haben mag. «Nichts begreifen»? Warum der Beiname Petrus?

 

 

Selbst Erich Brock stellt seine Methode in Frage, wenn er zugesteht: «Bei der heutigen Gelehrsamkeit und psychologischen Differenzierung der Auslegekunst kann man für alles Erzählte irgendein Interesse, irgendeine passende Situation des Gemeindelebens, eine für sie passende Tendenz ausfindig machen.» Das Zugeständnis einer gewissen Subjektivität wird zudem durch die Ausbrüche belegt, die der Autor nicht verklemmt: die alttestamentliche Angelegenheit mit Uria ist «schmutzig», Davids Stil nicht unbedingt «geschmackvoll»; ein Prophet des Herrn ist «heuchlerisch», manche Szenen sind «widerlich», ein Kapitel Hesekiel «widerwärtig»; «scheusslich», dass sich die Engel über den Untergang der Gottlosen freuen, «scheusslich» die Petrus-Apokalypse. Erich Brock empfindet diese Bibelstellen als schmerzlich, und er hat den Mut, diese seinem Schmerz ins Gesicht zu schleudern. Er arbeitet mit psychologischen Möglichkeiten (S. 120, 159, 164, 169, 239, 251, 252, 264, 265, 298 u. a.).

 

 

Doch muss man das Selbstbewusstsein Jesu von der Lehre scheiden. Diese erscheint als «ein Sternenhimmel voll einzelner Strahlungsmittelpunkte, welche Stationen bedeuten im Kräftespiel einer alle Problematik auf der Wogenhöhe des Augenblicks erlebenden Persönlichkeit, die alle Höhen und Tiefen kennengelernt und durchgekämpft hat». Es geht um das «Vorhandensein des Grossen» schlechthin.

Jesus verstand sich als Prophet der Endzeit; das blieb hinter seinem Vermächtnis zurück. Der persönlich Gereizte, Verfinsterte, dessen Heilungen man in jedem Falle sehen und anerkennen kann, dessen letzten Unverständlichkeiten selbst Erich Brock parapsychologische Deutungen zugesteht, hatte eine anspruchsvolle Lebenslehre zu verkünden, die alles Leben erhalten wollte und sich darin vom Täufer, der asketisch lebte, schied. Es ging ihm um eine endzeitlich bedingte Lebensfeier mit freudigem Grundgefühl, die Freiheit des Lebens, die kostbare Stunde, den Armen, den Geringen, den Menschen, der des Guten fähig ist.

Erst als sich seine Stimmung verdüsterte, festigte sich das Messiasbewusstsein in ihm, das folgenschwer - meint Erich Brock - in die Geschichte des Christentums eingehen sollte. Das Volk musste seinen letzten grössten Propheten töten! War da halb unbewusste Rache mitbeteiligt, fragt der psychologische Interpret. Jesus, so schliesst der Autor, hat sich in jüdischer Auffassung für den Messias gehalten: «Jesus will Beseitigung der Sünde durch Besserung und hält diese für möglich. Einem jeglichen wird schliesslich beim Weltgericht durch Jesus vergolten nach seinen Werken - also ohne Erlösung.» Zielt aber die <Vergeltung» nicht die «Erlösung» an? «Die Erlösung, die Jesus meint und hervorbringen will, ist die Erlösung der Auserwählten, Guten ...»

Der freiwillige Tod des unschuldigen Propheten sei das «Lösegeld». Die Visionen Jesu vom Ende seien «fast trunken». Die Selbstopferung allerdings gelange nur durch den Glauben zum Ziel. Der Glaube allein sei erlösend. Daraus folgert Brock: «Die Annahme eines Gottestums Jesu schliesst Glaube bei ihm aus. Was dem Glaubenswilligen gegenwärtig, ja im Wesen eingeschlossen ist, braucht nicht geglaubt zu werden.»

 

 

Hier widerspricht Paulus, dem Brock seinen dritten Teil widmet. Er war es, der das Christentum von jüdischem Sektentum löste, indem er Christus vergöttlichte, von der jüdischen Eschatologie, dem jüdischen Gesetz wegführte. Die Idee des scotistischen Gottes werde abermals auf die Spitze getrieben. Nur weil Paulus Jesus nicht gekannt habe, sei er zu dieser Folgerung gekommen. Dieser «trübe Ideenstrom», der Jesus vergöttlichte, treibe zu Johannes hin, verrate die Freiheitspredigt Jesu, äufne das Arsenal der heraufkommenden Missverständnisse. Dies bis zur «Charakterlosigkeit».

So kämpfe heute das Christentum eher um Meinungen von der Sache als im Blick auf die Texte um die Sache. Es sei Jesus um die Juden und nur um sie gegangen, die «verlorenen Schafe aus dem Hause Israel» nämlich. Nie habe sich Jesus gegen den Ausschliesslichkeitswahn des völkisch-religiösen Bewusstseins gewandt. Das allerdings vergisst die Heilung des römischen Hauptmannssohns.

 

 

Das Christentum hat nach solcher Auffassung das Erbe Jesu vertan. Das Konkrete sei verblasst. Das Zeremoniell habe die Wahrheit totgeschlagen. Massenbekehrungen hätten einen gewissen «Heilsarmeecharakter» angenommen. Die Theologen seien in Wortverdrehungen wortbrüchig geworden. Das kirchliche Messiasbild sei plump und massiv, kunstvoll gedrechselt das Dogma vom Gottmenschentum. Das Heil sei von mehr oder minder sauberen Mündern fleissig eingespeichelt worden. Es gelte die Lehre Jesu wiederzuerobern.

 

 

Brock will uns dazu anleiten. Ihm ist das Menschliche Jesu gross genug. Dem könnten wir nur entgegenhalten: warum soll die christliche Überlieferung, an der viele «ehrlich, ja leidenschaftlich» mitdachten, geringer als die Lehre des menschlichen Stifters sein? Bedürfte dies nicht der Prüfung? Hält das Jesusbild des Autors jenem der vielfältigen Tradition die Waage? Übertrifft es diese?

Wenn schon «Auffassungen» gegen «Auffassungen» stehen, so müsste die Konzeption Erich Brocks gegen die «überkommenen kirchlichen Auffassungen» gestellt werden. Das aber wäre ein richtender Vollzug. Die Kirche ist in diesem Sinne ein Ereignis. Der Beitrag Erich Brocks ereignet sich in ihrer Wahrheit. Dass Brock zu seinem Werk ausholte, danken wir ihm!

 

 

An die Seite der kaltglühenden Bemühung Erich Brocks tritt jene von Marcello Craveri. Dieser will das Leben Jesu inmitten der historischen Notwendigkeiten verstehn, stützt sich auf alle Quellen, selbst auf die apokryphen, kennt ausser den zugehörigen Textsprachen die zugeordneten Werke der italienischen, französischen, englischen und deutschen Literatur, vergleicht die lateinische Vulgata dem griechischen Text und den wahrscheinlichen Entsprechungen im Hebräischen und Aramäischen.

Auch er ist der Überzeugung, dass Markus oder ein verlorener Urmarkus das Vorbild für alle andern Evangelien abgegeben habe. Auch er verwirft das Johannes-Evangelium. Nur beharrt er auf den Widersprüchen der Synoptiker, zitiert Johannes eifrig mit. Er sieht das Verhältnis Jesu zum Täufer teilweise neu, grenzt Jesus gegen die Zeloten, die Essener ab. Er gelangt mittels berichtigter Übersetzungen, korrigierter Schreibfehler, vieler Sprachvergleiche, einzelner Textherstellungen, Akzentverschiebungen, überraschender Etymologien zu zahlreichen neuen und überaus erhellenden Einsichten. Vor allem ist er als Kenner der Rechtsgeschichte zuständig.

Doch auch er hält an der Seite von Erich Brock fest: «Mit dem Dogma von der Auferstehung beginnt das eigentliche Christentum: Nicht das von Jesus gepredigte Kerygma, das im Grunde nichts anderes als eine Vertiefung und Vervollkommnung der überlieferten jüdischen Religion war, sondern die Verehrung der Person Jesu, die sich immer mehr dem Kult einer soteriologischen Gottheit der griechisch-orientalischen Mysterienreligionen angleicht: einer Gottheit, die Fleisch geworden ist, für die Menschheit gelitten hat und dann in den Olymp zurückgekehrt ist.»

 

 

So sieht Craveri nicht Christus, sondern Paulus als wahren Gründer des Christentums. «Das Christentum ist das Ergebnis einer vor allem während der ersten vier Jahrhunderte nach Christus eingetretenen Revolution und nicht das Werk einer einzigen Person.» Diese Revolution hat Eschatologie und Kult geschaffen. Jesus zeichnet nicht für die Folgen. Die Auferstehung ist nicht die Auferstehung.

 

 

Erich Brock und Marcello Craveri erklären im Namen des Juden Jesus den Krieg gegen das Christentum - um das Christentum zu retten. Das tat auf andere Weise schon Ludwig Derleth. Haben sie gute Folge, wenn die Kirche keine hatte? Der Christ ist in einer äussersten Notlage. Um zum «letztlich Wichtigsten» zu gelangen, bedarf er angestrengter Mühen mit Brock und Craveri gegen das Christentum, mit dem Christentum gegen sie beide: in einem leidenschaftlichen Vollzug des Unvollziehbaren, aber ewig Aufgetragenen.

 

 

Vergleiche:

 

Ethelbert Stauffer: Jesus. Gestalt und Geschichte. Francke Verlag, Bern 1957.

Erich Brock: Die Grundlagen des Christentums. Francke Verlag, Bern und München 1970.

Marcello Craveri: Das Leben des Jesus von Nazareth. Ernst Klett Verlag, Stuttgart 1970.

Charles Binet-Sangli: La Folie de Jésus. Vier Bände. Paris 1908-1915.

 


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