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Von Erich Brock

 

Der Landbote, Nr. 181, Samstag, 9. August 1975

 

 

Karlheinz Deschner hat sich bekannt gemacht durch unablässige schneidende Kritik an Kirche und Christentum. Eine solche ist schon oft erhoben worden, seit die Scheiterhaufen erloschen sind. Aber gewiss noch nicht mit solch lückenloser Belegtheit: Deschners Fleiss und seine Belesenheit sind kaum vorstellbar und beziehen sich vorwiegend auf das, was von den Beklagten selber eher unabsichtlich als Zeugnis beigebracht worden - aber längst in Vergessenheit geraten ist. So konnten auch seine Anklagen nicht eigentlich widerlegt werden, sondern man griff zu einem altbewährten Mittel: sie totzuschweigen. Auf jeden Fall konnte ihm wohl auch niemand mangelnden sittlichen Ernst unter den Beweggründen seiner Angriffe vorhalten.

 

Es ist schade, dass Deschner in seinem neuesten Werk «Das Kreuz mit der Kirche; eine Sexualgeschichte des Christentums» (Econ Verlag, Düsseldorf) diese ziemlich günstigen Eindrücke etwas kompromittiert. Das Buch hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck. Der Verfasser sagt zu Beginn, man könne über sein Thema eigentlich nur noch ironisch schreiben. Dem wäre entgegenzuhalten, dass Ironie etwas anderes ist wie die etwas gewöhnlichen Witzeleien, mit denen er oft sein Thema umspielt. Und ausserdem ist Ironie etwas, was nur in kleinen Dosen, dann aber oft desto schneidender wirkt. Ja man könnte denken, dass die Wirkung, die er beabsichtigte, dann am grössten gewesen wäre, wenn er einfach die Tatsachen und Zitate fast ohne Kommentar aneinandergereiht hätte. Sie sind so bluterstarrend, dass jedes Wort dazu sie nur abschwächen kann.

 

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Ein zweiter Umstand, der tiefer greift, kommt hinzu, um die Wirkung von Deschners Material abzuschwächen. Es fehlt Deschner auch der geringste Sinn, das schwächste Verständnis für echte Religion. Ja es entsteht immer wieder der Zweifel, ob er eine solche überhaupt anerkennt oder ob ihm alle Religion Priesterbetrug, Werkzeug kirchlicher Politik und verdrängte geschlechtliche Urbefriedigung ist.

Das ist natürlich eine unheilbare Fehlerquelle für eine Betrachtung, die an sich eben doch keinen Augenblick aus dem Auge lassen kann, dass ihr Gegenstand, die Religion, eine im ganzen wohltätige Ur- und Grunderscheinung aller Zeiten und Völker ist.

 

Für Deschner scheint Geschlechtlichkeit überhaupt das einzige zu sein, was ganz ehrlich, elementar und über alles Menschliche machtbegabt ist. Wenn dieser Trieb schrankenlos, unversetzt, durch nichts Geistig-Seelisches gehemmt ausgelebt wird, so ist nach seiner Meinung alles gut. Glück, Menschlichkeit, Frieden sind die naturgemässe Folge davon. Aber selbst wenn auf irgendwelchen seligen Inseln der Südsee und nicht nur in den Büchern Freuds ein Modell für solche Anschauung aufzuweisen sein sollte, so wird man doch nicht leicht sich zu der Meinung bekehren können, dass dies der letzte Sinn und das Wesensziel der menschlichen Existenz sei. Auch auf jenen Inseln der Seligen könnte nach der Unvollkommenheit aller menschlichen Dinge nicht alles gut und glatt gehen. Auch da gäbe es Irrtümer, Fehlleistungen, Enttäuschungen und Schädigungen jeder Art, auch im Liebesleben selbst. Und sollte man sich vorstellen, dass, wenn das menschliche Dasein selbst nur die Geschlechtsbefriedigung zum Sinn hätte, dann alle, welche durch solche Eingriffe des Schicksals doch davon mehr oder minder ausgeschlossen blieben, ein sinnloses Dasein führen müssten? Sind alle, die im massivsten, seelenlosesten Triebleben kein Genüge finden, als Degenerierte nicht berücksichtigenswert?

 

Es wäre selbstverständlich eine platte Auffassung, dass Religion nur als Lückenbüsser für lebensmässige Unbefriedigung Ursprung und Berechtigung hätte. Aber setzen wir dieses Motiv noch so stark in unseren Blickpunkt, so bliebe selbst in der Südsee die Zahl der zur Seligkeit nicht Zugelassenen gross genug, dass man ihnen ehrlich bestrebte Religion ungekränkt lassen sollte. Dafür ist allerdings die Annahme unausweichlich, dass Religion etwas in sich Wesenhaftes sei, was auf intellektuell saubere Weise eine Unabhängigkeit von sonstiger Lebensbefriedigung weitgehend erreichen könnte. Glaubt man, dass die grossen Kathedralen des Mittelalters, die Meisterwerke protestantischer geistlicher Musik lediglich auf Grund unreinlicher Verdrängungen hätten entstehen können? –

 

Ein letztes Urteil kann da allerdings nur gewinnen, wer selbst in die Sache rückhaltlos hineingetreten ist und die Möglichkeit jener Unabhängigkeit praktisch erprobt hat.

 

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Wie sehen wir nun das Verhältnis von Religion und Geschlechtlichkeit - welch letztere ja zweifellos einen sehr grossen, ja oft überragenden Anteil an möglicher unmittelbarer Lebensbefriedigung einnimmt? Muss zwischen beiden ein unversöhnlicher Gegensatz bleiben?

Die Religionen der Geschichte haben sozusagen einstimmig bekundet, dass im selben Augenblick beide kaum zusammen bestehen können. Das beruht einmal ganz physiologisch darauf, dass geschlechtliche Betätigung -für eine mindestens mässige Weile die hohen und tiefen Schaukräfte und Sammlungsmöglichkeiten von Seele und Geist lahmlegt. Deschner berichtet von (auch sonst bekannten) Ärzten, die das leidenschaftlich leugnen. Danach gäbe es durch geschlechtliche Betätigung nichts anderes als Kraftsteigerung, Vertiefung der Empfindung, Gedeihen und Glück. Und dieses desto mehr, je unbegrenzter dem Trieb auch in seinen kleinen Anwandlungen nachgegeben wurde.

Diese Auffassung dürfte kaum realistisch sein. Es war die übereinstimmende Meinung der Zeiten und der Menschen, dass eine Übertreibung, eine Zügellosigkeit in diesen Dingen nicht nur auf die Dauer objektiv zerrüttend wirke, sondern auch die Empfindung und damit die Glücksfähigkeit des Menschen abstumpfe und veröde - und nicht nur durch Wirkung des angezüchteten schlechten Gewissens, wie Deschner und die Seinen da betonen.

 

Man braucht ja nur heute eine gewisse Art von jungen Menschen zu betrachten, welche nach Hinfallen aller Hemmungen aus reiner Langeweile und Leere unablässig und affenartig geschlechtlich aktiv sind. Sie tragen einen Ausdruck von Erloschenheit und Unseligkeit an sich, der schaudern macht. Er passt weder zu der Kraft und Schönheit der Jugend an sich noch zu den Wirkungen errungener Freiheit, auf welche Deschner hier aufbaut.

Und es handelt sich da nicht allein um das sozusagen Mengenmässige dieser Betätigung, sondern auch um deren innere Beschaffenheit. Nicht ohne Recht warnt Deschner vor dem auch christlichen Bestreben, die geschlechtliche Befriedigung durch eine übertriebene Belastung mit seelisch-geistigen Finessen zu zerdrücken. (Wir haben selbst in unserem Buch «Paul» einen solchen Fall zu schildern versucht, wo allerdings die körperliche Grundlage fehlt.) Man kann etwa zugeben, dass überhöhte Geistigkeit vielleicht eine Auswägung in ganz geistfreier Sinnlichkeit erheische. Goethes «Tasso» und «Iphigenie» (diese zu schön, um wahr zu sein) stehen neben umfangreichen Aufzeichnungen von alberner Schmutzigkeit, die nur Trauer hinterlassen; man sollte wenigstens nicht stolz darauf sein.

Gerade auch darüber kann kein Verständiger aus den Augen verlieren, dass die Befriedigung, ungeachtet geistiger Übersteigerung, in gewissem Verhältnis wächst durch Hinzutritt der «Liebe». Diese ist zum grossen Teil geistig-seelischer Natur und enthält eingrenzende, weil formende Faktoren. Ganz ohne das sinkt auf längere Dauer der Mensch unter das Tier. Das Tierliche ist an sich etwas Schönes, ohne das der Mensch verdorrt und die unentbehrlichen Lebensinstinkte verliert. Wir wissen dazu jeden Tag mehr, in welchem Ausmasse in der Tierwelt individuelle, für unser grobes Verständnis völlig irrationale Liebesempfindungen die Geschlechtsbeziehungen bestimmen, ohne welche eine Kopulation nicht zustande kommt, auch wenn der Mensch sie noch so passend fände und herbeiwünscht - ja sogar um Monate einer mehr seelischen gegenseitigen Einfühlung, fast möchte man sagen vertiefender Triebstauung, verschoben werden kann.

 

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Für den Menschen ist letztere in verschiedenem Grade unerlässlich; ohne solche ist der Menschheit nichts Grosses, Gespanntes, Starkes zuteil geworden. Das eröffnet Möglichkeiten für eine Symbiose zwischen Religion und Geschlechtlichkeit, welche bei Deschner kaum anklingt. Nur an einer einzigen Stelle (S. 80) berichtet er über Meinungen, zeitweilige Enthaltung könnte förderlich sein für angespannte Reifung und Durchführung geistiger Werke.

Übrigens: muss man da noch an die Sportsleute erinnern, die von je für ihre Höchstleistungen durchaus über die Notwendigkeit zeitweiliger Enthaltung im Bilde waren? Selbst die Inder, welche wohl Sachverständige in Sachen der Askese waren, lehrten vorwiegend, eine solche sei erst in vorgeschrittenem Alter förderlich, nach vernünftiger Auslebung der Zeugungstriebe und also zu einer Zeit, wo diese abzuklingen begännen. In den meisten Religionen ist es eine sinnvolle Vorschrift, von den Priestern Enthaltung zu verlangen, ehe sie ihre gottesdienstlichen Funktionen ausüben - die doch, nimmt man Religion überhaupt ernst, nur in stärkster Sammlung und Versenkung Sinn haben können.

 

Damit soll nicht geleugnet werden, dass es einzelne ganz seltene Fälle geben mag, wo ein Mensch sich zu gänzlicher Enthaltung berufen fühlen kann, der dann zu Höhen innerer Entwicklung aufstreben möchte, zu welchen die Menge der Menschen keinerlei sinnvollen Zugang hat. Für diese ist das Liebesleben eine grosse, zutiefst sinnvolle Gabe, wenn es richtig verwaltet wird. Dafür, dass es seine unvergleichlich befeuernde, beschwingende, lösende, beglückende Verrichtung ausüben kann, sind kurze Verdunkelungen durchaus hinzunehmen. Sie mögen auch als Ausruhen von geistigen Kämpfen positiv erlebt und benützt werden, obgleich solche ja vielen Menschen sowieso erspart sind. Und wer den Menschen diese heilsamen Möglichkeiten verbaut und verunreinigt, trägt eine kaum durchzuführende Verantwortung, weil das, was dann dem Geiste frei bleibt, sehr oft zu schwer ist.

 

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Vor diese Verantwortung stellt Deschner Kirche und Christentum in erbarmungsloser Entschiedenheit, und dem ist nicht viel abzuhandeln. Was an hundertfach belegten Tatsachen einer geradezu rasenden Feindschaft gegen alles Geschlechtliche, ja auch gegen hochtrachtende Liebe auf diesem Gebiete angereiht wird, ist unfasslich.

Man muss sich fragen, wie es dazu hat kommen können. Denn in diesem Masse hat es derlei nirgends und niemals sonst gegeben. Von Jesus kommt es nicht. (Um ihn macht Deschner wie auch in seinen andern Büchern einen Bogen.) Das einzige Wort, das sich da anführen liesse (es hat Unheil genug gewirkt), ist dasjenige von den «Verschnittenen um des Himmelreiches willen». Aber sinnvollerweise kann es ja nichts bedeuten als den Hinweis auf jene singulären Fälle, von denen wir redeten. Anderweit hat da auch Paulus zu seinem Bedauern nichts Geschlechtsfeindliches ausheben können.

 

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Schon als Jude war Jesus nicht asketisch eingestellt. Und was bei ihm dazutrat, war die übermächtige Idee, dass angesichts des unmittelbar bevorstehenden Endes es sich nicht mehr lohne, eine eheliche Bindung einzugehen; wer aber in einer solchen stehe, solle sie nicht auflösen («ein Fleisch»). Das ist in einem apokryphen Worte Jesu klar festgehalten. Unmittelbar darauf setzte nun der starke paulinische Einfluss gegen das Geschlechtliche ein. Aber auch er hätte die riesige Grundwelle dieser Art, die dann über das Christentum hereinbrach, nicht alleine tragen können.

Man kann dafür natürlich die Gnosis verantwortlich machen, die doch recht intellektualistische und triebfeindliche griechische philosophische Ethik, die Zügellosigkeit der späteren Antike in der Triebauslebung und vielleicht noch dies und das. Aber ganz lässt sich nicht aus irgendwelchen Einflüssen ableiten, dass nun eine Verteufelung, unflätige Beschmutzung und widernatürliche Angst- und Ekelreaktion der Kirche gegen das Geschlechtliche einsetzte, die vor keiner Absurdität und Grausamkeit zurückschreckte.

 

Die zweite grosse Welle dieser Perversion war dann die unter scheusslichen Umständen und Blutvergiessen durchgezwungene Einführung der Ehelosigkeit für den Weltklerus um die Jahrtausendwende. Das bedeutet nicht, dass nicht auch das Klosterleben an der erfolgten Fehlentwicklung seinen Teil habe. Auch da sei nichts gegen einzelne wirkliche Berufungen gesagt. Aber der Zwangscharakter der Einweisung und Festhaltung in den Klöstern war ein bestimmender Faktor zu den Zuständen, die sich da entwickelten. Der Grundfehler war immer der, dass, was für ganz wenige sinnvoll werden konnte, nun mehr oder minder als der Normalzustand aufgenötigt wurde, ein mystisch-asketisches Leben in völliger Jenseits-Ausrichtung für Menschen, denen keinerlei konkrete Möglichkeit in solchem Leben eingeräumt war.

Die Theologie und Philosophie des Mittelalters riss das religiöse Leben weitgehend in blutlose Abstraktheit und Begriffsexerzitien hinein, während auch die Mystik (nichts an sich gegen sie) durch Ausdehnung auf Unberufene ungesunde, an Wahnsinn grenzende Formen annehmen konnte, wo dann wirklich die verdrängten geschlechtlichen Triebe völlig offen zutage lagen.

 

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Es ist wohl ein Fehler. dass Deschner diese Zustände nahezu als das Normale in der Geschichte des Christentums hinstellt und auch den breitesten Raum gewohnheitsmässiger zynischer oder zerquälter Übertretung der kirchlichen Keuschheitsvorschriften einräumt. Zweifellos (die Beweise häuft er) hat das wirklich einen sehr breiten Raum eingenommen, wie das nicht anders sein kann, wo die Menschennatur derartig anmasslich unter die Füsse getreten wird.

Aber es wäre doch nicht zuviel gewesen, anzumerken, dass daneben viele edle Geister von tiefstem Ernst und höchstem Streben sich da durchkämpften, so gut es ging. Nur kann man zweifeln, ob es sinnvoll ist, die äussersten Kräfte zur Bekämpfung von Elementartrieben unablässig einzusetzen, deren massvolle Befriedigung diese Kräfte zu fruchtbarer Betätigung freigemacht hätte.

Aber man könnte noch einen Schritt weiter gehen und darauf hinweisen, dass auch der Weg durch schwerste Verkrampfungen in der Religion gelegentlich zu der Aufschliessung unerhörter Tiefen und Höhen führen kann; für viele Beispiele stehe der grosse und reine Fenelon. Nur dürften solche leidensvollen und auf des Messers Schneide stehenden Umwege und Hemmnisse nicht eigenmächtig sich selbst oder den andern auferlegt werden.

Wenn man betreffs der richtigen Bemessung von Glück und Unglück Vertrauen zu der höheren Macht anstrebt, so ist kein Raum mehr dafür, sinnvolle Befriedigungen abzuweisen und Leiden an sich zu reissen, um damit einen magischen Druck auf diese Macht auszuüben. Die wirklich in tiefem Sinn Kundigen des höheren Weges wissen, dass mit eigenmächtiger körperlicher Askese nichts getan ist.

 

Das einzige, was bedenklich machen könnte gegenüber der darin liegenden Unfrommheit, ist die ungeheure Verbreitung der Askese-Idee in Religionen, Völkern und Zeiten. Aber selbst wer glaubt, dass durch radikale Askese das Leben auf eine Ebene der Grösse und des Heldentums genötigt werden könnte, sollte sich damit abfinden, dass eben nicht jeder auf dieser Ebene eine Chance hat, sondern nur derjenige, welcher in Beantwortung eines übermächtig aufgenötigten Schicksals da sein Letztes einsetzen muss. Auch ein mittleres Los mit einem beinahe alltäglichen Glück und Leid ist dankenswert und fruchtbar.

Sobald der Schmerz angestrebt und jede Lust verabscheut wird, sei es um die Natur zu bestrafen oder um Verdienst zu erwerben oder um Gottes Zorn zuvorzukommen, dann ist die Bahn frei für jede Verkehrung und Verwirrung der Gefühle. Ein Beispiel für viele: «J'eprouve un si fort désir de souffrir que je ne puis trouver de plus doux repos que de sentir mon corps accablé de souffrances, mon esprit dans toutes sortes de dérélictions et tout mon être dans les humiliations, mépris e contradictions» (Ste. Marguerite-Marie Alacoque, 1647-1690). Sollte aber da nicht der Schmerz gerade geflohen werden, wenn er die höchste Lust ist?

 

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Es kommt dazu, dass solche asketischen Lebenssysteme leicht sadistische Triebe im Menschen aufrufen, sowohl sich selber wie andern gegenüber. Deschner legt grosses Gewicht auf den Sachverhalt, dass besonders im geschlechtlichen Gebiet asketische Priester von einem spezifischen Neid in Besitz genommen werden, welcher denkt: Ich habe es schlimm und schwer gehabt, so sollen es die andern auch so haben.

 

Eine andere Fehlentwicklung von breiter Bedeutung ist die, dass mit der möglichsten Abtötung oder wenigstens Blockierung der natürlichen Triebe sich die ganze Energie des Menschen auf denjenigen verlagert, der da fast allein noch übrigbleibt, den Machttrieb. Auch da bringt Deschner ein grosses Material zusammen, um seine These zu stützen, dass insbesondere die Ehelosigkeit der Priester hauptsächlich den Sinn habe, dieselben aus jeder natürlichen und von der Kirche unabhängigen Bindung herauszulösen und sie zu einer bis auf den Grund verfügbaren Kampftruppe der Leitung zu formieren.

 

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Aber diese politische Deutung bleibt hinter den tieferen Zusammenhängen zurück. Die Machtraffung in der Kirche ist zum flacheren Teil eine technische Angelegenheit. Der Kern der Erscheinung war vielmehr die Verlockung durch die eigentliche Dämonie der Macht, welche dem Bewusstsein sich als rückhaltloser, ja über Leichen schreitender Dienst an dem Heil der Menschen darstellt.

Das eindrücklichste Beispiel ist da wohl die cluniazensische Bewegung - auch eine jener nicht ganz erklärlichen Grundwellen, vermittelst derer um die Jahrtausendwende Heere von Menschen in die Klöster strömten, im Augenblick, wo diese zu wahren Zuchthäusern gemacht wurden, in denen zu grossem Anteil Knechtung, Hunger, Frost, Prügel, Schlafentzug, Redeverbot zu erwarten waren. (Eine verwandte Erscheinung gab es fast zur selben Zeit im chinesischen Buddhismus, wo dann der Staat einschritt.)

Die cluniazensische Bewegung führte zu einer ungeheuren zentralisierten Machtballung, einer Art Kirche in der Kirche, die nur darum nicht, wie der Templerorden, von aussen zerbrochen wurde, weil sie von innen her selbsttätig abebbte.

Oder man denke an die grossen Wirtschaftsimperien in Nordamerika aufgrund calvinistischer Askese.

 

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Wie zwangsläufig diese Entwicklung ist, zeigt in kleinem Rahmen die schöne Schrift von Heinrich Sulzer «Bilder aus der Geschichte des Klosters Töss» (Winterthur 1903). Es wird da geschildert, wie sich im Laufe der Blütezeit ein wirtschaftlicher Machtkomplex um dieses Kloster anhäufte - während in ihm selbst eine zarte, doch leidenschaftlich nach innen gesammelte religiöse Betätigung herrschte, wovon das Buch der Zürcherin Elsbeth Stagel «Das Leben der Schwestern von Töss» glaubwürdigen Beleg gibt. Es ist das schönste und reinste Buch der deutschen Nonnenmystik.

Es ist auch nicht zu übersehen, wie die cluniazensische Bewegung fast, oder gar durchaus wider Willen ästhetisch grossartige Werke der Baukunst hervorbrachte.

 

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Selbstverständlich kann auch diese ganze Deutung übertrieben werden und wird es hier; selbstverständlich gibt es viele bestimmende Persönlichkeiten, und gab sie immer, welche ohne Nebenabsicht ehrlich überzeugt sind, dass das Liebesleben den Menschen verunreinige und dass insbesondere die Kleriker in ein abstraktes Reinheitsideal gehoben werden müssen. Allerdings kommt da oft die entgegengesetzte Wirkung heraus, denn selbst wenn die Gebote nicht übertreten werden, so kann gerade durch den ewig unbefriedigten Trieb, welcher sich der inneren Beschäftigung aufdrängt, eine unwiderstehliche Verschmutzung des Vorstellungslebens statthaben.

Das beste Mittel, sich von solchen Gefahren zu befreien und den Trieb einzugrenzen, ist eine sinnvolle und massvolle Befriedigung des fundamentalen Naturtriebes.

 

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Auf jeden Fall ist das, was in der Kirche auf dem betretenen Wege angerichtet worden ist, schreckenerregend. Darüber kann niemand in Zweifel sein, der dieses Buch gelesen hat. Wir .alle stehen noch unter den verhängnisvollen Nachwirkungen.

So verdanken wir besonders die heutige Zügellosigkeit, die zu tiefgreifenden Verwüstungen geführt hat, als eine Reaktion den masslosen Einschnürungen, die durch viele Jahrhunderte gegen das Natürliche gewütet haben. Auf den richtigen Mittelweg finden die Menschen ja nie.

 

Immerhin muss man tun, was in dieser Richtung möglich ist. Die übliche Taktik, die harten Tatsachen der Vergangenheit zu verwedeln und einige kleine Zugeständnisse zu machen, als sei das immer schon der tiefere Sinn der herrschenden Einstellung gewesen - das hilft nichts. Die Kirche müsste sich hochoffiziell allen Vorwürfen stellen. Dann würde sie wohl nicht umhin können, wenn noch etwas vom Geiste echter Religion in ihr lebt (was zweifellos der Fall ist), ganz klein und demütig zu werden, sich auf lange in einem aufrichtigen Pater peccavi einzurichten und infolgedessen den schauerlichen Wahn aufzugeben, sie sei unfehlbar von Gott geleitet. Dann könnte etwas besser werden.

 

Und noch eine kleine Einzelheit: Schon der blosse Geschmack sollte dazu führen, dass alle Zölibatäre hindern würden, Bücher über Liebesleben zu schreiben, von dem sie nie etwas erfahren haben. Bei Sophokles sagt Kreon: «Da, wo ich nichts erfahren habe, pflege ich zu schweigen».

 


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