Home Entwurf zu einer Naturphilosophie

 

Von Erich Brock

 

Erschienen in: Studia Philosophica. Jahrbuch der Schweizerischen Philosophischen Gesellschaft, Bd. 33, 1973, 56-72 [XXXII, 1972].

 

Nachdruck in

Erich Brock: Naturphilosophie. Herausgegeben von Ernst Oldemeyer. Bern: Francke 1985, 240-253.

 

 

 

Sinn und Sinnfreiheit, Endlichkeit und Unendlichkeit in der Natur. –

Relative Kausalbestimmtheit und relative Zweckbestimmtheit im natürlichen Werden. –

Selbstbehauptung (Subjektsein, Freiheit) als Sinn der Welt. –

Physische und moralische Kraft. –

Harmonie und Disharmonie im Weltprozeß. –

Frage nach dem Ursprung des ‚Bösen’ (Grausamkeit) in der Natur. –

Komplikation in der Natur: als Stärkung und Schwächung. –

Der Mensch in der Natur. Die Rolle des Geistes.

 

 

Ist heute noch Naturphilosophie möglich? Der Wissensstoff in der Naturwissenschaft ist zu astronomischen Ausmaßen angewachsen. Eine philosophische Verallgemeinerung einfach aus vollständigem Material ist zwar sowieso nicht möglich. Aber wenigstens sollte (muß an der Aufgabe ganzheitlicher Durchdringung dieses Materials festgehalten werden) der hereingezogene Stoff doch wohl groß sein.

Es ist vielleicht eine Folgerung aus unserer besonderen Zeitlage, wenn unterhalb dieser Forderung ein vorläufiger Entwurf zu einer Naturphilosophie sich als erlaubt auferlegen kann.

 

In der Erkenntnis der anorganischen Natur scheint dem Laien auf Schritt und Tritt aus den Umwälzungen und Auffächerungen der letzten Jahrzehnte eine Verlockung zu philosophischer Vertiefung und Systematisierung aufzuspringen. Aber es ist doch wohl nicht nur Flucht vor der Unabsehbarkeit und Tiefe dieser Auffächerung, wenn gleichzeitig der Eindruck entsteht, daß angesichts der Unabgeschlossenheit aller Aufbrüche dieser Wissenschaft die Zeit für ihre philosophische Theorie noch nicht gekommen ist.

In der organischen Naturwissenschaft dagegen ist die Entfernung von der Anschaulichkeit, auf welch letztere die Philosophie als auf ihren Ausgangspunkt doch weithin angewiesen bleibt, noch nicht so groß. Man möchte gerne denken, daß hier manche Lücken des Einzelwissens mit einem vorsichtigen Einsatz von Nachdenken und Einfühlung, also gewissermaßen Mitleben mit dem Leben, zu überbrücken wären; und eine solche Bemühung könnte vielleicht in einem weiteren Sinn philosophisch heißen. Ungefähr in dieser Richtung möge hier eine Zielsetzung freigegeben sein.

 

 

Naturphilosophie ist Aufsuchung eines mehr oder minder gesamthaften Sinnes der Natur, auch in ihren Einzelheiten. Sinn ist eine regelmäßig, mit Wertakzent versehene Struktur eines Tatbestandes. Aller Sinn ist Sinn von Etwas; dieses Etwas ist nicht mit seinem Sinn identisch und bezeichnet also einen über Sinn überschießenden, insofern mindestens insgesamt sinneutralen Bereich.

Selbst ein restlos durchgeführter, mit seinem Gegenstand identischer Sinn hätte noch dasjenige sinnleere, irrationale Element an sich, daß der spezifische Inhalt, die Besonderheit des Sinnes nicht mehr selber als sinnhaft, als notwendig aufzuweisen wäre. Daß etwas letztlich mehr so als so ist, ist nicht zu deduzieren.

 

 

Sinn und Regel binden ihren Gegenstand an sich und unter sich, beherrschen ihn. Könnte diese Bindung eine vollständige sein, so würde die Welt erstarren. Nicht nur würde jene Irrationalität aller Qualitäten, aller Attribute einer Substanz aufgehoben, welche in ihre Einheit, ihren Seinsträger eine gewisse schöpferische Freiheit hineinspiegelt. Sondern vor allem würde das Geschehen, welches als solches eine Naturphilosophie besonders interessieren muß, stillgelegt. Wenn alles mit allem restlos notwendig zusammenhängt, so ist die zeitliche Abfolge unwesentlich; das Verursachte ist dann schon im Verursachenden vollständig anwesend, und das Verursachende ebenso im Verursachten.

 

Zu glauben aber, daß eine Unendlichkeit von Verknüpfungen mit strenger Notwendigkeit unter eine endliche Regel eingeordnet werden könnte, ist falsch - weil sonst die Unendlichkeit der Fälle nur in einer unendlichen Wiederholung je derselben Fälle bestünde. Sonst wäre angesichts unendlicher Kombinationen von Ursache und Wirkung jede einzelne davon einzigartig, und daher rational nicht beherrschbar. Notwendigkeit ist also nur in einer endlichen Welt möglich; und eine solche läßt sich herstellen, wenn die Grenzen des menschenhaften Größenbereiches auf parmenideische Weise eingehalten werden, das heißt, ohne daß ein Blick über die Gestalt dieses Bereichs hinaus auf das Grenzenlose fällt.

 

Das entspricht auch bestimmten neuzeitlichen physikalischen Lehren über Kausalität. Sobald die Unendlichkeit hereindringt, gibt es nur noch Wahrscheinlichkeiten - die, wenigstens zusammen mit der unerfüllbaren Idee der strengen Kausalität, praktisch offenbar genügen. Denn die empirische Induktion ist unabschließbar; sie ist nicht zur Notwendigkeit, aber doch bis zur Wahrscheinlichkeit zu treiben. Da die Unendlichkeit aber doch nicht parmenideisch auf sich beruhen gelassen werden kann, so daß sie mit der Wegwendung des Blickes endgültig verschwände, sondern tatsächlich aktiv andringt, so könnte Sinn dann nur tätige Besinnung sein, vordringende, wenn auch nicht zu Ende des Geschäfts fortdringende Bemächtigung durch den Sinn - weil das Irrationale auch immer wieder nachwächst und vorandrückt. Aber das Unendliche, Irrationale ist gleichzeitig ein Manövrierraum für solche Aktivität des Sinnstrebens, und auf diese Weise die Möglichkeit, dem Gefängnis einer durch und durch verursachlichten, mit Notwendigkeit perfekt kausalisierten Welt immer wieder zu entrinnen, aus deren Mauern der Wahnsinn auf den Menschen starren würde. Unendlichkeit, an sich nichts, ist der Ratio gegenüber Freiheit, Möglichkeit des Schöpferischen.

 

 

Geschehen ist also nur da als echtes vorhanden, wo es in einen Raum der Freiheit hinein vor sich geht, wo etwas wirklich anders wird, wo Neues entsteht. Ebenso ist echte Bewegung der Gedanken nur unter derselben Bedingung möglich.

Andererseits ist bloße Bewegung, in der nichts beharrt, rein statistisch; und diese Statistik ist schon zu Erkenntniszwecken nur brauchbar, weil sie von einem ungewissen, nicht näher zu untersuchenden Schimmer von Notwendigkeit überlagert ist. An sich ist sie das wesenlose Chaos. Der Sinn, die Regel, der Kampf der Rationalisierung ist unentbehrlich für die Konstitution von allem Etwas und seiner Erkenntnis.

 

Die große Frage ist nun, in welchem Verhältnis Sinn und Sinnfreiheit untereinander stehen; und die Antwort darauf ist niemals grundsätzlich zu geben, weil dafür die Voraussetzung wäre, daß über dieser Zweiheit von Sinn und Sinnfreiheit nochmals ein überwölbender Sinn wäre, wodurch der sinnfreie Anteil letztlich um Wesen und Rolle gebracht würde; das wußten die Pythagoräer. Es ist nicht weiter zu gelangen als zu der negativen Feststellung, daß es unmöglich ist, Sinn und Sinnfreiheit seien nicht überall beide anwesend und im Spiele. Das Nähere könnte nur Einzeluntersuchung fruchtbar machen.

 

 

Das Problem spitzt sich im Naturgeschehen darauf zu, wie weit und wie praktisch in dem Netz der Ursache-Wirkungs-Beziehung Platz geschaffen werden kann für andersartige, schöpferische Sinngebungen. Dabei ist der Wert des Sinnfreien, Sinneutralen, Akzentlosen keineswegs in seiner mehr negativen, stoffartigen Rolle für das Schöpferische erschöpft. Denn es spielt eine hochwichtige positive Rolle in der Bewirtschaftung des menschlichen Lebensstoffes, vielleicht nicht ohne wenigstens die schwebende Ahnung eines Sinnartigen oder auch nur Lebendigen über allen Gegensätzen.

Ohne das entspannt Sinneutrale kann jedenfalls der Mensch nicht leben, nicht atmen. Damit ist die paradoxe Aufgabe gestellt, das Sinnfreie, rein Faktische als solches zu belassen und es doch in die Lebensermöglichung als in einen Zweck einzustellen - ohne das Sinnfreie zu einem Naturschutzpark oder «Erholungsraum» zu machen und damit dann doch in einen Zweck einzuspannen.

Der Zweck ist zwar an sich eine freiere höhere Sinngebung als die «eherne» Verursachungskette. Diese kann natürlich nicht einfach ganz gesprengt werden, ohne dem Menschen die elementarste Sicherheit seiner Sinnbewirtschaftung zu nehmen. Und auf der andern Seite ist auch der Zweck eine Festlegung; wenn sie vollständig würde, wäre auch dadurch das Werden, die Bewegung blockiert. Wenn alle Bewegung vollständig von ihrem Ziel her bestimmt wäre, wie Aristoteles meint, so wäre sie längst angelangt, an und in ihrem Ziele zur Ruhe gelangt. Ausspannung des Werdens dagegen zwischen zwei verschiedenen Polen, einer relativen Ursach- und einer relativen Zweckbestimmtheit gewährt ihm mindestens die benötigte Freiheit in einem gewissen Niemandsland zwischen den Parteien.

Wie gestaltet sich das im einzelnen?

 

 

Die anorganische Natur gehorcht, grundsätzlich betrachtet, verhältnismäßig primitiven Gesetzen, welche genug Sinn enthalten, um ihr das vergleichsweise Wenige an Bestand, Zusammenhalt, Gestalthaftigkeit, Infrastruktur zu gewährleisten, welches vor unseren Augen ist und mannigfach zu genügen scheint.

Im einzelnen kann das natürlich trotzdem zu ungeheuerlichen Komplikationen führen. Will man nun nicht die unvollziehbare Annahme machen, daß alles Organische und Geistige, das sich auf dieser Grundlage aufbaut, ein später angepaßter Zufall sei, so muß man sich darüber besinnen, wie es sich darauf aufbauen, sich in dem zubereiteten Wurzelgrund des Anorganischen ansiedeln konnte. Zu sagen, Leben und Geist hätten sich einfach an dessen plumpe und brutale Gegebenheit angeschmiegt, ist keine Antwort. Wären die Beschaffenheiten der höheren Wesenheiten einfach durch Einpassung in verhältnismäßig offen gelassene Stellen der niedrigeren Bedingungen entstanden, so wäre die Anpassung eine restlose, was nicht der Fall ist. In Wahrheit ist die Anpassungsfähigkeit dieser höheren Schichten begrenzt; und es ist zweifelhaft, ob sie so weit gehe, daß etwa auf einem Sterne ohne Luft, Wasser und Mäßigkeit von Wärme usw. auch nur entfernt etwas wie Leben sich beheimaten könnte.

 

Aber dies ist hier nur ein allereinfachstes Problem. Schließlich war der Ehrgeiz des Schöpferischen, der Schöpfung nicht bei Einzellern begnügt. Es mußte die zu primitiver Lebendigkeit durchgesetzte, die selbst lebendig gewordene Natur so eingerichtet sein, daß auch hochverwickelte Lebens- und Geistesabläufe sich auf ihrem Boden abspielen konnten. Es mußten neben tausend materiellen Bedingungen auch solche geschaffen werden, welche auf tausend besondere Arten Schönheit und Größe und Reinheit und Kraft für Menschenaugen elementar verkörperten, nicht nur für Neurastheniker mit heiklen Stimmungslagen, nicht nur für die unbesiegbaren Bedürfnisse jedes Fühlenden, sondern auch für die nährenden, beschwingenden Erlebnisse der größten geistigen Schöpfer. Diese tauchten ja vielleicht doch nicht nur als Zufall, Abfall, Schnörkel der Naturgeschichte auf?

 

Von unten bis oben gilt, daß solche Existenzermöglichung des Höheren sich auch in dessen Subjektivem, in seinem Lebensgefühl spiegelte. Normalerweise, einschließlich mäßigem aber spannendem Heraus- und Hineintreten in diese ganzheitliche Harmonie (in dieser Pendelbewegung beruht das Leben), mußte jedem Wesen elementar wohl sein in seiner Umwelt; davon hängt Gedeihen und Fruchtbarkeit des Sinnes ab. Es mußte also eine Anpassung auch von «unten» nach «oben» eingeplant sein, da ja auch hier nicht alles alles hergeben konnte. Diese beiden entgegengesetzten, ganz verschieden konstruierten Anpassungen traten mit einander in ein Spiel, das einen großen Freiheitsraum höchstens potentiellen Sinnes zwischen ihnen voraussetzte. Von unten nach oben war es mehr (keineswegs ausschließlich) ein Dulden, von oben nach unten mehr ein Anfordern. Es wären also unten und oben Anlagen vorhanden, die sich in der Mitte von beiden Seiten her auseinandersetzten.

 

 

Ganz allgemein ist derart in allem sinnvollen Werden ein Gleichbleiben und eine Veränderung. Das erstere können wir als «Anlage» bezeichnen; die zweite ist dann die schöpferische und angepaßte oder sich anpassende Verwirklichung. Wäre die Veränderung allein da, so wäre das Ergebnis die volle Anarchie; oder aber der neue Sinn wäre vom Himmel gefallen, ein grundlos sinnvoller Zufall.

 

Die dritte Möglichkeit wäre die zufällige Abänderung, welche aber erst durch den Schlagbaum der Frage nach zufälliger, relativer, objektiver Vernunft, Sinnfülle, Angepaßtheit in die Wirklichkeit hineingelassen würde. Das ist, was die Darwinisten Mutation und Selektion nennen. Sie werfen aus Furcht vor Physikotheologie jedes schöpferische Sinnprinzip vorne hinaus, worauf es hinten wieder eindringt, erstens aus jener allmächtigen Forderung nach einem Mindestmaß von Vernünftigkeit, welche die Wirklichkeit stellt, und zweitens dadurch, daß sie genötigt sind, das Sinnprinzip, das sie am Anfang vernichtet oder wenigstens geduckt haben, dem Swinegel des Märchens gleich sich am Ende aufrecken zu sehen. Sie sind nämlich nicht mehr imstande, irgendeine mit sich stimmige Konfiguration der Lebewesen als einfachen Ausdruck schöpferisch charakterisierenden Sinnes aufzufassen, der in einer und derselben Umwelt tausend Formideen zu verwirklichen vermag, sondern sie müssen bei jeder Form nach dem eindeutigen Zweck fragen, den sie eben noch leidenschaftlich verneinten. Auf diese Weise wird dann im einzelnen der Zweck das allmächtige Kriterium dessen, was wirklich werden kann.

 

 

In Wahrheit wird der Zweck überhaupt erst ein sinnvolles Prinzip der Formerklärung, wenn die allgemeinere Formidee die Voraussetzung geschaffen hat und die vorhandenen, in ihr liegenden Möglichkeiten eingesetzt und weitgehend konkretisiert hat. Weitgehend, nicht ganz.

Diese Formidee ist erst ein Grundentwurf, welcher durch die Auseinandersetzung mit den Außen-Bedingungen der Verwirklichung im einzelnen so oder so, mit einem bedeutenden Freiheitsgrad, ausgeschafft wird. Wäre im Gegenteil die Anlage allmächtig, so wäre der ganze Weltablauf dies, daß aus einer Hinterwelt der gebieterischen Möglichkeiten das fertige Erzeugnis in eine Vorderwelt der Wirklichkeit hinausgehändigt würde - ein Gesellschaftsspiel in Ewigkeit, das noch weit geistloser wäre, als die stundenlange Ausübung eines und desselben Handgriffs seitens eines ungelernten Arbeiters am Fließband.

Können wir einen Schöpfer (oder was wir irgend an die Stelle dieses Begriffes setzen wollen) noch unter ein solches durch den modernen Arbeitsprozeß entmenschtes Menschenwesen stellen? Darin liegt auch die Antwort, warum jene verwickelten Umwege für die Gestaltung der Welt beschritten wurden und dieselbe nicht einfach schlüsselfertig an ihren Platz gestellt wurde.

Was kann denn also der Welt Zweck sein, wenn wir zu Grunde legen, daß (natürlich überhaupt irgendein Sinn vorhanden ist und daß) der Ablauf des Ganzen etwas nicht gänzlich, aber irgendwo fundamental Neues bringen soll? Ohne das hätte man den ganzen Apparat nicht zu bemühen brauchen. Der Zweck kann nur der sein, daß das allgemein Vorentworfene individuell durchrealisierte Gespanntheit, Präsenz, Intensität, Kraft, Blut und Leben, und das heißt Selbstbehauptung auf der Schneide des Augenblicks, des Hier und Jetzt gewinne.

 

 

Selbstbehauptung, das ist das Wort, welches uns weiter führt. Es ist die mittelste Erfahrung des Menschen, daß Inständigkeit und Kraft hauptsächlich aus ihm selbst kommen muß. In der Oberfläche entspringt dieselbe nicht auf nachhaltigere Weise. Inständigkeit und Kraft können also soweit nur aus des Menschen innerstem Sinn- und Wesens-Mittelpunkt hervorgehen, dessen Selbstbejahung, Selbstvertiefung in eine Unendlichkeit führt und eine unbegrenzte Entfaltung ermöglicht. Bestreitung drängt dieses Innerste in sich selbst hinein, und die Notwendigkeit des ungesicherten äußersten Einsatzes für die Selbstbehauptung soll seine Energie härten.

Dieses Innerste ist, was man, als einen letzten freien Ursprung, Subjekt nennt, oder gar Ich. Mit der Zielsetzung auf solche Intensivierung ist notwendig gegeben, daß die Welt monadisch gebaut ist, einem Sternenmeer von Sinnmittelpunkten, Subjekten gleicht. Scheuen wir den Schritt aus der Wissenschaft heraus nicht, so können wir hier uralte metaphysisch-religiöse Vorstellungen mit heranziehen, vom Gott, der sich in seiner einsamen Idee langweilte, der selbständige Wesen lieben, von ihnen geliebt werden wollte und sie dafür in die leere Freiheit des Selbstseins, Selbstaufbaus hinauswarf, wo nur noch der Glaube an sich selbst und an ein Wesen helfen könnte, das durch sein Sein alle diese Bemühungen tragen, leiten, umfangen könnte.

Aber dies anzunehmen oder nicht, ist Sache des Einzelnen, je nach der Anlage seines Weltverhältnisses.

 

 

Die Welt von ihrer höchsten Stufe, vom Ich her zu deuten, verliert an Verwegenheit, wenn wir uns klar machen, daß mit dem Descartes'schen kleinmütigen Größenwahn des Verstandes, alles von unten, vom Primitivsten her verstehen zu wollen, überhaupt nichts verständlich wird. Das Kleine, Einfache verdeutlicht das Große, Verwickelte nicht oder nur wenig.

Ergreifen wir dagegen den Schlüssel des Subjektseins, so springt auch die Verschlossenheit der Grundlagen auf, die anscheinend ganz diesseits davon sind. In der Zentralstruktur der kleinsten Materie-Elemente, in der Mittelpunkts-Strebigkeit der größten Sterne ist der erste Entwurf des Subjektseins deutlich. Diese Anziehungskraft will sich Energie anbilden, und daß sie das vermag, beruht eben auf der sich selbst verstärkenden Bewegung des Subjektmäßigen auf sich selbst zu - wenn auch keineswegs ohne den Umweg über das Andere.

Das sich vertiefende Umkreisen des eigenen Mittelpunkts ist dann besonders die Form der Lebewesen innerhalb aller ihrer Mannigfaltigkeit. Die Kraft der sich selbst steuernden Form ist es, welche aus dem bescheidenen Gefüge der Eichel den ungeheuren Energiekomplex des Eichbaums und seiner Verwaltung zu machen vermag.

 

 

Die physische Kraft wird weiter nach oben zur moralischen Kraft, mit Vorformen schon ziemlich weit unten. (Beide unter einem Nenner zu sehen, rechtfertigt sich nicht nur durch das innere subjektive Erlebnis des Menschen, sondern auch durch die mannigfache objektive Möglichkeit des Menschen, physische Energie durch moralische in Bewegung zu bringen.)

Schon die Lernfähigkeit der Amöbe gehört dahin, aber auch Mut und Selbstvertrauen höherer Lebewesen, welche oft genug einen Mangel an physischer Kraft auszugleichen und zu überwiegen wissen. Ein erfahrener Beobachter kann bei einem Geraufe von einigermaßen vergleichbaren Hunden schon von vornherein sagen, welcher siegen wird; nämlich weniger der, welcher der physisch Stärkere ist, sondern viel mehr der, welcher Tapferkeit, Frechheit, Glaube an sich selbst, Willen besitzt.

Wir sahen einmal einem Wettstreit von Tauben um das Futter zu, das ihnen hingestreut worden war. Eine fiel auf durch ihr außerordentliches Zielbewußtsein, ihre über alle Selbstbezweiflung und Mutlosigkeit hinweg selbstverständigte und zusammengeraffte Technik, sich durch den kämpfenden Haufen hindurchzudrängen und den Preis davonzutragen. Sie hatte einen Fuß verloren.

 

 

Dies als Beispiele, aus denen hervorgeht, daß Nietzsche unrecht hat, wenn er meint, es gebe nicht mehr Kraft als da sei. Es gibt mehr Kraft als da ist. Das ist der Sinn der Zeit, der Freiheit, des Subjektseins. Natürlich kann man immer sagen: Das alles war eben schon in der Anlage darin. Aber wenn wir uns an unseren Grundsatz der Deutung von oben her halten, so sehen wir, daß das Mehr an Kraft aus einer Freiheit hervorgeht, welche in ihren ersten Keimen innerhalb der Niederungen der Stammesgeschichte deutlich die grundsätzlich gleichen Sachverhalte zeigt wie auf ihren Spitzen.

 

Auch a priori können wir das erwahren. Wenn der Ablauf der Welt nichts wäre als ein ewiger Umtrieb derselben Energie-Menge durch alle möglichen Formen und Verkörperungen hindurch, so wäre das wiederum eines jener Gesellschaftsspiele, deren Nichtigkeit wir schon vorhin einsahen. Daß die ungeheuerliche Über-Zeugung von Keimen, von denen nur eine winzige Minderzahl zur Vollentwicklung gelangt, der Ausmerze von Minusvarianten, von schwächlichen Individuen dient, ist unbezweifelbar. Doch wozu dann der ebenso ungeheuerliche Umweg zu diesem Zweck, statt daß gleich nur wenige, aber mit Normalkraft versehene Keime hingestellt würden? Die mechanische Aussortierung von schwachen und starken Exemplaren durch die Verwirklichung wäre nochmals die langweilige Fließbandarbeit, auf die aller Mechanismus hinauskommt.

 

 

Wir sehen auf die eben erhobene Frage, ob es mehr Kraft gebe als vorhanden ist, keine Antwort als die, daß es sich bei der beabsichtigten Steigerung der Welt weit weniger um physische als um jene «moralische» Kraft handelte. Die eigentliche Kraft ist die sich selbst schaffende und vermehrende, die Kraft aus dem Subjektsein.

 

Wenn es zunächst lächerlich scheint, bei Samenfäden oder bei den Keimblättern von Buchen moralische Kraft oder Schwäche vorauszusetzen, so gibt uns doch unser Prinzip der Deutung von oben her ein Mittel, die Dinge da in einem sinnvolleren Lichte zu sehen. Wir müssen nur in die Hintergründe des Subjekt-Begriffes eindringen; dann brauchen wir nicht auf mathematische Konstruktionen zurückgreifen, die wie bei Leibniz erlauben würden, ein Differential, ein unendlich Kleines an Subjektsein, ja Bewußtsein in die niedrigsten Monaden zu legen; wir können positive und sachliche Anzeichen für diese Anwesenheit aufweisen.

Wenn der «Mittelpunkt» der lebenden Wesen, ihre «Entelechie» leitende Funktion besitzt (und wozu sollte er sonst dasein), so muß ihm die Möglichkeit beiwohnen, diese Leitung im einen oder im anderen Sinne vorzunehmen; anders gesagt, echte Entscheidungen vorzunehmen; sonst hätte ein solcher Kommandoposten überhaupt keinen Sinn. Das aber bedeutet einen ersten Keim der Freiheit; und wo solche aufdämmert, ist auch ihr positiver Sinn, die Möglichkeit, durch Selbstbeziehung Kraft anzuziehen und zu sammeln, angedeutet - wie wir das in der Eichel am Werke sahen. Natürlich wäre das gelingende Überleben nicht nur auf solche Keime der moralischen Kraft zurückzuführen, sondern daneben auch auf das zugefallene Mindestmaß an physischer Kraft und durch Glückhaben im bezug auf die äußeren Umstände. Wenn es nicht zu kühn ist, kann man diesen letzteren Anteil noch etwas herabdrücken durch das bekannte Wort, daß Glück nur der Starke und Selbstgewisse habe, was relativ gewiß auch seine Gültigkeit hat. Auf jeden Fall ist aber vorher nicht festgelegt, welches Individuum die Kraft aufbringen wird; darum kann nur die Freiheit diese Lücke füllen.

Im Menschen gar ist der Bereich der Freiheit noch größer und am größten. Ohne sie ist keine Richtigkeit, keine Moral, keine Schönheit, keine höhere Geistigkeit, kein Fortschreiten möglich. Und das bedeutet, daß zu diesen Dingen die selbstgeschaffene moralische Kraft nötig, aber auch zur Hälfte hinlänglich ist.

 

 

Ist diese Möglichkeit gegeben, diese Pflicht auferlegt, so ist damit auch die schlichte Tatsache gegeben und erklärt, daß es in der Welt und im Menschenleben nirgends Erbarmen gibt. Das ist übrigens in der Hauptsache auch die Überzeugung Jesu. Er glaubt, daß der Mensch kann, wenn er will; selbst der Feigenbaum kann, wenn er seine Aufgabe, Frucht zu bringen, ernst nimmt, und wird im andern Falle als voll verantwortliches sittliches und rechtliches Subjekt mit dem Tode bestraft - genau wie dann der Mensch in die Hölle geworfen wird.

Der Schwache kann stark werden, und dies ist darum unnachlaßlich, bei Gefahr, ja Sicherheit des Zugrundegehens im Falle der Nachlässigkeit. Das ist in der Natur offenbar. Nur so kann der letzte Ernst der Bemühung, die letzte Kraftentfaltung des Subjektes erreicht werden.

 

 

Dies ist ein harmonistisches, wenn auch brutales Weltbild. An der Leibnizschen Formel der prästabilierten Harmonie ist nur falsch, daß diese nicht prästabiliert, sondern zur Hälfte sich erst herausringend ist aus der Auseinandersetzung mit Bedingungen; und ferner, daß in der Harmonie auch diejenige Harmonie mitgemeint sein muß, die nur formal stimmig, ein Gleichgewicht ist, inhaltlich aber für die einbezogenen Faktoren und Positionen schreiende Disharmonie bedeutet.

Nach dem menschlichen Hinaufzu müssen sie also immer mehr für sich selbst besorgt sein. Indem diese Weltverfassung auf den schmalen Schultern des Individuums ruht und auf nichts sonst, steht sie schauerlich auf der Spitze. Es müssen sich Auswirkungen davon im Sinne der Disharmonie alsbald zeigen. Wenn alles Gelingen des Weltprozesses auf dem guten, das heißt zunächst starken Willen des Individuums beruht, so muß eine solche ungeheuerliche Abstellung von allem auf das Persönliche zu einem Rückstoß gegen diese Überlastung, gegen die Überlastung des Partikularen mit dem Ganzen, Unendlichen, zu einem Sichversagen und ins Gegenteil Umschlagen, einem Ressentiment, einem persönlich Bösen führen. Zwar das, was wir die Brutalität des Weltlaufs nannten, kann man noch nicht als eigentlich böse bezeichnen. Denn die erbarmungslose Kraftanforderung hat einen guten Sinn. Aber sie ist in Gefahr, in das Böse hinüberzugleiten.

 

 

Grundlage und Voraussetzung alles Guten hieß uns die Kraft, welche durch Selbstvertiefung erworben und zu Selbstbehauptung gesteigert wird. Unterhalb von ihr kann von Werthaftem überhaupt nicht die Rede sein. Diese Kraft muß sich selbst nicht ein Ding, sondern etwas Dynamisches, Unbegrenztes sein, sonst genügt sie möglichen Anforderungen nicht, wie Anaximander sagt; und dies liegt auch im Prinzip ihrer Zeugung. Wo sie mit sich in Ordnung ist, überschreitet sie sich. Sie kann, ohne sich zu verlieren, sich hingeben, sie kann schenken, sie kann fremde Geschenke nehmen, sie kann sich verflechten, kann sich zeitweilig zum Objekt anderer Subjekte machen. Sie kann ihre Selbstbeziehung durch Fremdbeziehung ausruhen und umgekehrt. Sie kann andern bei ihrer Selbstbehauptung helfen und eine Zusammenarbeit mit auferbauen.

 

Das sind alles Dinge, welche ohne immer erneute Selbstbehauptung des Ich sinnleer und für alle unförderlich sind. Auch sie finden ihre Keime in dem Zusammenleben der untermenschlichen Lebewesen. Die Kraft ist an sich ausdehnungswillig, das gehört zu ihrer Güte, und sie kann Auslebung und Genuß darin finden.

Ja sogar ein gewisser Grad von Beherrschung anderer durch eine gütige, kritisch selbstverständigte Kraft kann noch gut sein. Denn Viele wünschen und brauchen Leitung durch einen solchen freundlich aufgeklärten Despotismus. Aber wenige Expansive haben noch so viel Selbstkritik, daß sie erkennen, wo diese Ausbreitung rein despotisch wird. Denn auch der reine Despotismus ist für den unkritischen Despoten dann noch genußhaft - ja sogar auch vielfach für die Unterworfenen; so daß jede Versuchung besteht, sich solches Verhältnis als «gut» umzudeuten - umsomehr als die Menschen so leicht und gern sich im absoluten Rechte wähnen und als Gottesstreiter gegen das Unrecht vorkommen. Es ist aber böse; denn es sagt dem Prinzip des Guten, der vom Subjekt selbst, von allen Subjekten hervorzubringen Kraft ab. Das Gute ist unmerklich in dieses Böse übergegangen, wie ein Teppichmuster unmerklich in seinem Fortgang einen entgegengesetzten Sinn annimmt.

 

 

Der Genuß ausgeübter Kraft kann dann am größten, am deutlichsten sein, wenn das Erleiden dieser Kraft an ihrem Objekt, und zwar an seinem Leiden deutlich und dem Ausübenden empfindlich wird. Daher kommt dann die Lust daran, dem andern Leiden zuzufügen, objektives und subjektives Leiden zu veranlassen: die Grausamkeit. Sie ist das eigentliche Wesen des Bösen.

Soll davor in die Schwäche, die Selbstverneinung geflüchtet werden? Mitnichten; nur ist der Weg des Guten zwischen zu großer Kraft, wenn so gesagt werden kann, und zu großer Schwäche auf Messers Schneide gedrängt. Es gibt das Böse, welches aus unüberwachter Kraft hervorgeht. Aber giftiger ist das bewußt und positiv Böse, welches aus Schwäche hervorgeht; genauer: es kommt aus der Rache, der Rache für die eigene Schwäche.

 

So möchte man fast denken, wo dieses Böse sich deutlich, unwegdeutbar in der Natur zeigt, sei es die Kundgebung einer zwar machtvollen Instanz, welche doch in Haß und Zorn ihr letztes Nicht-Durchdringen weiß: daß sie stets das Böse will und dem Vernehmen nach stets das Gute schafft - und darum desto mehr das Böse will. Aber da wir nicht ahnen können, wieso es vielleicht zum Guten führen mag, so ist dieser Gedanke einer Theologie zu überlassen, ehe daß er ins Traktätchenhafte abgleitet.

 

 

Es gibt in der organischen Natur Strukturen, welche den Eindruck raffinierter Grausamkeit machen und darin von keiner noch so großzügigen Sinn- und Zweckbetrachtung gedeckt werden können. An sich ist das Leiden in der Natur selten grausam, denn Siechtum, das Schlimmste, wird durch Verhungern oder Gefressenwerden schnell abgeschnitten. Aber selbst wenn man dem Gedanken große Zugeständnisse macht, daß die Natur alle, auch die entlegensten und absurdesten Räume für das Leben in seiner unendlichen Mannigfaltigkeit und Expansivität, für seine Selbstbehauptung mit Beschlag belegt, so ist nicht einzusehen, warum z. B. die Bakterien so ausgeklügelt gräßliche Krankheiten und Leiden hervorrufen müssen, an deren Wirkung sie ja schließlich selber zugrundegehen. Könnten sie nicht zu bescheideneren, minder spektakulären Auswirkungen der Auslebung gelangen?

Ähnlich steht es mit den makroskopischen Schmarotzern. Ihr Lebensrhythmus, der auch große Leiden und schließlich den Tod verursachen kann, ist dem Rhythmus des Wirtstieres auf so präzisionsmechanische Weise eingegliedert, daß dieser Gesamtapparat sich nicht von selber «entwickeln», sondern erst funktionieren konnte im Augenblick, wo er in der Vollkommenheit eines Laufwerks von millimetergenau ineinandergreifenden Zahnrädern, gleichsam gerüstet wie Pallas Athene dem Hirn seines Urhebers entsprang. Wer hat die Schlupfwespe gelehrt, mit ihrem lähmenden Stachel genau die mikroskopischen Bewegungsganglien ihrer zu Konserven für die Brut ausersehenen Opfer zu treffen; hat sie vielleicht erst einige Jahrmillionen herumprobiert und anatomisch-physiologische Kenntnisse erworben, und wie sich inzwischen beholfen?

 

 

Die einzig vernünftige Hypothese ist, daß eine personartige Intelligenz die ganzen Scheußlichkeiten ausgesonnen, entworfen und durchgearbeitet hat.

Daß es in der Natur aber auch bewußtere hochdifferenziertere Grausamkeit der Einzelwesen gibt, dies festzustellen genügt die Beobachtung, wie eine Katze durch Viertelstunden mit Benützung aller psychischen Register eine Maus zu Tode quält. Oder man denke an das, was Fr. Th. Vischer über Walfisch und Schwertfisch berichtet.

 

Im höheren Bezirk wird fast jedermann sich Fälle vergegenwärtigen, wo ein böses Schicksal derart kleinlich und treffsicher gezielt und tückisch im Augenblick größter Wehrlosigkeit zuschlagend ihn überfiel, daß er nicht anders konnte als es für eine persönliche Bosheit zu nehmen; aber das ist natürlich kein Tatbestand, der einer objektiven Feststellung unterläge. Von der Weltgeschichte ist zu schweigen.

 

Eigentlich sollten all solche Dinge die Biologen ermutigen, der einzig verständigen Erklärung der Natur zuzustimmen, ohne daß sie deswegen in die Jahrtausende alte Hörigkeit zur Theologie zurückfallen müßten: nämlich daß die Natur zum größeren Teil ihre Entstehung einer bewußten Intelligenz verdankt. Dieses Zurückfallen ist auch darum nicht zu befürchten, weil der Gott der Natur höchstens dem Gott des Alten Testaments (vor der persisch inspirierten Abspaltung des Teufels von Gott) oder dem des haitianischen Wodu-Kultes gleichen könnte. Ein Naturgott müßte immer polarisiert zwischen Gut und Böse sowie zwischen allen andern erdenklichen polaren Qualitäten ausgerichtet sein, wie es die Natur ist.

 

 

Darin liegt auch eine Grenze der Natur. Obwohl wir die Natur der kategorischen Forderung nach Steigerung von Inständigkeit und Kraft unterliegen und diese Forderung auch weitgehend erfüllen sahen, ist in ihr doch kein eindeutiger Fortschritt festzustellen. Vielleicht ist es genug, wenn einer Tendenz selbsttätigen Absinkens und Versackens gegenüber, welche dem Lebensprozeß zweifellos eingesenkt ist und im Menschen auch subjektiv erlebt wird, der allgemeine Tonus des Geschehens sich doch immer wieder herstellt.

 

Außerdem bemerken wir mindestens in unserer Weltperiode in der Natur neben jener angestrebten Steigerung der Intensitäten noch eine zweite Zwecksetzung am Werke, diejenige auf Verunterschiedlichung hin, auf Differenzierung, Vermannigfaltigung. Dies ist der einzige, eindeutige Fortschritt der Natur, der uns greifbar wird. Die Natur scheint geradezu dem alten Grundsatz der Bürokratie zu folgen: Warum denn einfach, wenn es auch kompliziert geht?

Aber werden dadurch Werte verwirklicht? Ja und Nein. Einerseits wird durch die fortschreitende Komplikation die Urkraft des Lebendigen geschwächt, die Regenerations- und Anpassungs-Fähigkeit herabgesetzt, weil das, was sich angesichts aller Alternativen zu einer bestimmten Weise entschlossen hat, nicht mehr in andere Weisen ausweichen kann. Was geworden ist, hat nicht mehr die Freiheit, zu werden, wie es sie vorher hatte. Das liegt in tausend Sachverhalten des Lebendigen am Tage. Soweit bedeutete also die fortschreitende Komplikation einschließlich des Geistes nur ein geiles Luxurieren, welches die Substanz des Lebens schneller oder langsamer aufzehrt.

 

 

Auf der andern Seite steht dieser Schwächung durch Differenzierung auch eine Stärkung durch sie entgegen. Die Verunterschiedlichung bietet als verwirklichte auch eine große Auswahl von Möglichkeiten der Selbstbehauptung und der Anpassung, welche das einfachere Lebewesen nicht besitzt.

Es handelt sich da offenbar weniger um Herauflockung neuer Möglichkeiten aus den Wurzeln des Lebens empor, sondern um immer weiter durchtechnisierte Anwendung vorhandener Möglichkeiten. Man denke etwa an die Hand des Affen und des Menschen, oder, eine Stufe aufwärts, an die ungeheuren Hilfsmittel, welche der Geist dem Leben erschlossen hat. Der höhere Organismus wird zu einem allround-Werkzeug. Nur allerdings im Mittelpunkt und in dessen Kraft beginnt es dann zu hapern. Das erinnert uns wieder an die beharrende ungünstige Seite der Differenzierung.

Diese Doppelgesichtigkeit zwischen Stärkung und Schwächung ordnet sich der Zeit als Geschehensform ein, die beide Zweige des natürlichen Ablaufes muß beherbergen können, das Zunehmen und das Abnehmen. Sie liegen, wie wir an der Differenzierung sahen, im selben Geschehensschritt vereinigt, und das muß im Wesen der Zeit vorgebildet sein.

 

 

Wir sehen also, daß der Kreislauf der Natur keineswegs auf spektakuläre Rückbildungsabläufe im Stile eines Heraklitischen Weltbrandes angewiesen ist, die uns in dieser Gegenphase noch verborgen blieben. Sondern vor unseren Augen sind die beiden Phasen ineinander geschoben, Auf- und Absteigen, Bildung und Entbildung. Stärkung durch beides und Schwächung durch beides.

Doch gibt es auch die großen Durchblicke durch das Ganze des Ablaufes, welche dann abgesetzte Perioden auch von Rückwärtsgängen erfordern. In der anorganischen Natur handelt es sich da vor allem um die rein hypothetische sogenannte «Ektropie», durch welche die einbahnige Strebung des Weltalls zu einem Äußersten der Entropie und damit zum Wärmetod ausgewogen werden könnte. Eine Periode, welche die Stammesgeschichte rückbildete, wäre auch schwierig vorzustellen, besonders wenn man die Möglichkeit äußerlicher Katastrophen oder innerlich bedingter Vorgänge einfachen Absterbens der höheren Formen außer Acht setzt, vielmehr auf eine wirkliche allmähliche Zurücknahme auf frühe Formen zielt.

Aus solcher grundsätzlichen Umkehrbarkeit alles echten Werdens würde sich eine völlige Sinnberaubung des Weltgeschehens ergeben, wenn es eben nicht nach dem Entwurf der Vorsokratiker von einer Zweipoligkeit der Werte zu einem Wandel zwischen ihnen gesteuert würde.

 

Wie steht nun aber der Mensch zu diesem letzten Bild der Natur als seiner Umwelt, die immer noch wenig gemindert sein Schicksal bedeutet? In anderem Maße als die Natur mit ihrer Kraftsammlung muß der Mensch in dem gegenwärtigen Äon auf Hieb und Stich mitkämpfen, die Kraft mit ihrem positiven Werte und das Gute aus seiner Verstrickung mit dem Bösen glaubend und handelnd zu lösen und durchzusetzen. Das geht über alle Natur hinaus.

 

Des Menschen Hauptwerkzeug zu diesem Kampf ist sein Ich selbst, sein äußerstes Subjektsein, das auch in der Natur wenigstens die Grundlage des Guten, die Selbstbehauptung schuf. Aber dieses menschliche Ich, ganz zu sich selbst gekommen, ist nun gleichzeitig das Organ der kritischen Selbsteingrenzung, der Selbstindienststellung für sich selbst und die Andern; und es muß auf ganz anderer Ebene wie in der Natur durch seinen gläubigen Einsatz die Schwäche stark machen.

 

 

Der Geist mit seiner Differenzierung ist noch eine ganz andere Schwächungs- und Stärkungsmöglichkeit als die Differenzierung in der Natur. Der Einsatz des Geistes muß dabei ein absoluter sein; der Mensch kann sich vor den Todesurteilen des Naturlaufes nicht fahren lassen. In der Natur besteht Interesse für das Individuum nur als für den relativ unentbehrlichen Vertreter der Gattung. Der Mensch hat sich und sein Ich, gewollt oder nicht, so stark gemacht, daß es nicht mehr sterben will noch kann.

Damit ist ein Bruch gegenüber der Natur eingetreten. In ihr ist das Festhalten des Individuums an sich selbst und seiner Existenz nur etwas wie eine List der Vernunft, die äußerstmögliche Selbstbehauptung aus ihm herauszupressen, eine Bemühung, welche dort in der Natur von der «Vernunft» nicht zu honorieren gemeint ist. Der Mensch aber muß diese Vernunft beim Worte nehmen und darf sie nicht aus demselben entlassen - dies weniger aus einem naiven absoluten Existenzinteresse als weil das Ich günstigenfalls ein derartig machtvolles und letztlich auch angepaßtes Werkzeug der Selbstgestaltung, Selbstentfaltung geworden ist, daß es auch im Sinne der Natur unrationell wäre, es auf dem gegebenen Höhepunkt seiner Funktionsfähigkeit fortzuwerfen.

 

 

Will man diese Deutung nicht annehmen, so bliebe nichts übrig, als den Geist für ein reines Entartungsprodukt der Natur anzusehen, das als solches keine Ansprüche an eine allgemeinere Planung zu stellen hätte. Viele haben das ja geglaubt. Sie haben den Geist als ein Element rein der Überhitzung, Zerspaltung, Entwurzelung gesehen, und demgegenüber nach einer Rückfaltung ins Ganze, Vordifferentielle, dunkel Webende gesucht.

 

So zeigt sich die menschliche Entwicklung an eine Wertpolarität gebunden; schon im Beharren der niedrigen, undifferenzierten Lebewesen zeigt sich der positive, unverlierbare Wert des «Unteren», der Natur. Sowohl das Obere wie das Untere, das Hochgetriebene wie das Primitive, Geist wie Natur hat je seine Werte, die nicht vereinbar scheinen, also vorläufig abwechseln müssen. Und doch ist es dem Menschen nicht möglich, sich in einem reinen Kreislauf gebunden zu halten. Schon früh in der Entwicklung erlegt sich der Glaube an ein Absolutes auf, das mit ganz anderer Ernstlichkeit als das Existenzinteresse in der Tierwelt die Einzelexistenz durchhält.

Die höchste Fähigkeit erwirbt das Ich, besonders wo es von der Schwäche aufstrebt, nicht allein durch Wille zu sich selbst, Glaube an sich selbst, der bestenfalls ungeheuer spitz und exponiert dasteht; sondern weithin dadurch, daß es seine Selbstbehauptung über die Hingabe an ein selbständiges Absolutes erringt, welches als daran interessiert geglaubt wird. Dieser Glaube ist auch wiederum eine Funktion des Ich, ja die höchste, verwegenste, stärkste, forderndste, die alle Kräfte, Anschläge, Wirkenswege, Einsätze des Ich voll beansprucht und zur Entfaltung bringen muß.

Wo dieser Glaube gelingt oder wenigstens nicht abläßt, bringt er dann eine Antwort von der andern Seite ins Spiel, die zur Stärke hilft und eine weitgehende Bewahrheitung der aus dem Bösen Iosgerungenen Güte gibt.

 

Damit fügt auch der Mensch sich einem Kreislauf ein, der sein Streben und Machen wiederum einem Sein einfügt und einbettet. Das ist ein Weg, den der Mensch nur für sich selbst einschlagen und zurücklegen kann; er kann auf ihm weder die Welt noch auch nur die Menschen sich auf die Schultern laden und mitreißen, höchstens im Sinne einzelner innerlicher und äußerlicher Hilfsakte, aber niemals im Sinne einer totalen metaphysischen Solidarität gegenüber der obenauf liegenden Ungerechtigkeit und Bösartigkeit Gottes.

Keine Überschau über das Ganze von Welt und Menschheit ergibt einen Ansatzpunkt, das eigene Heil daraus zu deduzieren; sie schwächt als in diesem Sinn versuchte am mittelsten Punkt die Kraft des Ich und entwendet ihm seine Glaubensmöglichkeit.

 

In der Sammlung auf das soweit allein der innersten Bemühung unterliegende eigene Heil ist eine unvermeidliche metaphysische Brutalität anwesend («Ob Tausend fallen zu deiner Seite und Zehntausend zu deiner Rechten, wird es dich nicht treffen», sagt der Psalmist; 91,7) - eine Brutalität, durch welche sich aber der Mensch wiederum einer Grundhaltung der Natur gehorsam eingliedert, das Allgemeine einer andern Macht überlassend, mit möglichstem Vertrauen. Ob darin auch Möglichkeit des Selbstverlustes eingeschlossen ist, wie in der Natur, darf also nicht geglaubt werden, aber es bleibt als letzter subjektiver Unsicherheitsfaktor und Gefahr immer anwesend. Darin liegt die Wahrheit des Wortes: «Schafft, daß ihr selig werdet mit Furcht und Zittern» (Philipper 2,12).

 

 


Return to Top

Home

E-Mail



Logo Dr. phil. Roland Müller, Switzerland / Copyright © by Mueller Science 2001-2016 / All rights reserved

Webmaster by best4web.ch