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Eine Skizze seines Lebens und Werks

 

Von Erich Oldemeyer

 

Erschienen als Anfang eines längeren „Nachworts des Herausgebers“

in Erich Brock: Naturphilosophie. Herausgegeben von Erich Oldemeyer. Bern: Francke 1985, 269-273.

 

 

Im Unterschied zur großen Mehrheit der Philosophen seiner Zeit hat Erich Brock weder je eine beamtete akademische Position eingenommen, noch ist er - überblickt man seine Tätigkeit und sein Oeuvre im Ganzen - als ein wissenschaftlicher Philosoph im Schulsinne zu bezeichnen.

Seinem Leben als freier Schriftsteller entsprach es, daß er, aus weitgespannten kultur- und naturwissenschaftlichen Interessen heraus, die Philosophie zwar stets als den eigentlichen Kern der von ihm übernommenen Aufgaben verstand, aber nicht im Sinne zugespitzter Fragestellungen für ‚Fach’-Philosophen, sondern im Sinne der Bemühung um eine Welt- und Lebensweisheit, die den Philosophen anspricht, der in jedem aufgeschlossenen Menschen steckt.

 

 

Erich Brock, am 30. August 1889 in London geboren, von deutschen Eltern stammend (sein Vater, Mediziner und Zoologe, starb bereits vor seiner Geburt), hat seine Jugend hauptsächlich in Berlin verbracht, aber durch seinen Stiefvater, einen Schweizer, schon früh die Schweiz lieben gelernt.

Seine ausgedehnten Studien, mit der Medizin beginnend, vorübergehend orientalischen Sprachen gewidmet, fanden schließlich in der Philosophie ihr Zentrum und in der Romanistik, besonders auf französische Sprache und Kultur bezogen, ihr wichtigstes Ergänzungsfeld. In der Studienzeit, überhaupt in seinen jüngeren Jahren von labilem, mit längeren Krankheitsphasen abwechselndem Gesundheitszustand, wuchs Erich Brock nach dem Ersten Weltkrieg, zunächst ohne formellen akademischen Abschluß, in eine allmählich sich ausbreitende publizistische Tätigkeit hinein, die er seiner körperlichen Verfassung in günstigen Zeiten mit hoher Arbeitsdisziplin abzuringen wußte.

Diese publizistische Tätigkeit hatte anfangs ihren Schwerpunkt in der politischen Journalistik: Brock beschäftigte sich, zum Teil auch unter Pseudonymen, aus einer konservativen Grundhaltung heraus, in einer Reihe von Tages- und Wochenzeitungen besonders mit europäischen Nationalitäten- und Regionalismus-Problemen, die durch die Grenzziehungen der Friedensschlüsse von Versailles und Saint-Germain neu virulent geworden waren, wobei ihm aus eigener guter Kenntnis vor allem die Verhältnisse in Elsaß-Lothringen am Herzen lagen.

 

Nach und nach setzten sich aber in den von ihm veröffentlichten Artikeln die philosophischen und kulturbezogenen Themen als neuer Schwerpunkt durch, besonders nach der 1928, im Anschluß an die Scheidung seiner ersten Ehe erfolgten Übersiedlung in die Schweiz, der ein Jahrzehnt später die dortige Einbürgerung folgte. Hier, in der neutralen und liberalen Schweiz, lernte Brock die politische Szenerie aus größerer Distanz zu betrachten (nachdem er schon vor Hitlers Machtergreifung die nationalsozialistische Bewegung aus konservativer Warte kritisch und ablehnend beurteilt hatte) und mehr auf die geistig-kulturellen und weltanschaulichen Hintergründe zu befragen.

 

In den unabsehbar zahlreichen Artikeln, Glossen und Kritiken zu einem beeindruckend weit gespannten Kreis von Themen aus Philosophie und nahezu allen Bereichen der Kultur, die er bis an sein Lebensende besonders in Schweizer Tageszeitungen und Zeitschriften veröffentlichte, gewann Brock die aus seiner profunden geistes- und naturkundlichen Bildung gespeiste Souveränität und Kühnheit des Urteils, die ihm in der Schweiz hohes Ansehen eintrug. Brock ist so - ähnlich wie etwa sein älterer französischer Zeitgenosse Alain (1868-1951) - zu einem der ganz wenigen Philosophen geworden, die einen wesentlichen, und nicht als nebensächlich aufgefaßten, Anteil ihrer Kreativität in Zeitungsartikel hineingegeben haben.

 

 

Aber es blieb nicht bei dieser publizistischen Tätigkeit, deren Umfang staunenswert ist und von der die hier veröffentlichte Bibliographie nur eine, in bezug auf Themenkreis und Artikelumfang begrenzte Auswahl verzeichnen kann.

Im Alter von fast fünfzig Jahren setzte Erich Brock (nach seiner zweiten Heirat: mit der Romanistin Elisabeth Brock-Sulzer, und bei gefestigter Gesundheit) zu einer späten akademischen Laufbahn an. 1943 wurde er an der philosophischen Fakultät der Universität Zürich mit der Arbeit «Das Weltbild Ernst Jüngers. Darstellung und Deutung» (veröffentlicht 1945) zum Dr. phil. promoviert. Acht Jahre später, 1951, habilitierte er sich, inzwischen 6z Jahre alt, mit einer Arbeit über «Die vorsokratischen Philosophen» (bisher unveröffentlicht) an derselben Fakultät für das Fach Philosophie.

In einem Alter, in dem andere sich zur Ruhe setzen, ist Brock zur eigentlichen Hauptphase seiner Produktivität gelangt. Nicht nur, daß er bis zu seinem Tode am 28. Januar 1976 noch eine regelmäßige und erfolgreiche Lehrtätigkeit als Privatdozent und Titularprofessor an der Universität Zürich ausübte.

 

Er veröffentlichte die Bücher

«Befreiung und Erfüllung. Grundlinien einer Ethik» (1958),

«Die Grundlagen des Christentums» (1970), Frucht seiner lebenslangen unorthodoxen Auseinandersetzung mit diesem,

die beiden «Dramen aus griechischen Bereichen» «Götter und Titanen» («Empedokles» und «Prometheus») (1954),

den früh (1926-1928) entstandenen Roman «Paul. Ein Märchen» (1973),

drei kleine Bände mit Aphorismen

sowie eine Reihe größerer philosophischer Aufsätze, besonders in den «Studia Philosophica».

 

Aber nicht genug damit. Sein unveröffentlichter Nachlaß enthält aus dieser späten Produktivitätsphase an größeren, im wesentlichen fertiggestellten Manuskripten außer der vorliegenden «Naturphilosophie« noch

die erweiterte Habilitationsschrift «Die vorsokratischen Philosophen» (fünf Kapitel über die «Eleaten», «Heraklit, Empedokles, Anaxagoras», «Jonier, Heraklit und Parmenides», «Die Pythagoräer» und «Protagoras», ca. 456 Typoskriptseiten),

ferner die (wohl aus dem 1950er Jahren stammende) Einführungsschrift «Ich und Gegenstand. Grundlegung der Philosophie» (mit Kapiteln über «Erkenntnislehre», «Naturphilosophie», «Ethik», «Rechtsphilosophie», «Ästhetik», ca. 139 Typoskriptseiten), sowie

die «Religionsphilosophie», an der Erich Brock bis zu seinem Tode arbeitete (sieben Kapitel, ca. 355 Typoskriptseiten).

 

 

Nimmt man noch eine Anzahl ebenfalls unveröffentlicht gebliebener älterer Nachlaßmanuskripte hinzu, besonders «Wege und Irrwege des deutschen Geistes» (geschrieben 1918, ca. 769 Typoskriptseiten) und «Muralt» (zwei Kapitel, geschrieben wohl in den 1920er Jahren, ca. 103 Typoskriptseiten), so hat man - neben der das ganze Arbeitsleben Erich Brocks begleitenden publizistischen Produktion - ein beachtliches philosophisches Werk vor sich, das eine eigenartige Position und ein Weltbild aufweist, mit dem auseinanderzusetzen es sich lohnt.

 

 

Erich Brock ist schwer in das zeitgenössische Spektrum philosophischer Richtungen und Schulen einzuordnen. Als seine philosophischen Lehrer hat er vor allem Jonas Cohn, Richard Kroner und Georg Simmel verstanden - wobei ihm durch Jonas Cohn (vgl. dessen «Theorie der Dialektik», Leipzig 1923) der starke Sinn für ein dialektisches Denken, durch Richard Kroner (vgl. dessen «Von Kant bis Hegel», Tübingen 1921-1924) die Vertrautheit mit dem deutschen Idealismus, die besondere Affinität zu Hegel, durch Georg Simmel (vgl. dessen «Philosophische Kultur», Leipzig 1911) der unkonventionelle Blick für die ganz konkreten Probleme einer pluralistischen Kulturgesellschaft zugekommen sein mag.

 

Von dieser früh gelegten Basis aus, auf der er durch intensive Studien klassischer Werke der Philosophie sowie durch sein unablässiges Rezensieren von Literatur zur Geistesgeschichte weiterbaute, hat sich Brocks eigenes Philosophieren weniger in einer Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen philosophischen Forschung als aus einem ethisch ausgerichteten Durchdenken von Lebensfragen seiner selbst und seiner Welt entwickelt, sowie aus einem durch Erfahrung und Wissen sich vertiefenden Bemühen um eine eigene metaphysische Grundposition.

Entsprechend ist es nicht so sehr eine an Formen der Wissenschaft und einer strengen Systematik orientierte Philosophie, die Brock zu geben hatte, sondern eine mehr essayistisch gefaßte, die ihre Thematik ohne großen Quellen- und Literaturapparat durch ein freies, aber phänomengerechtes Einkreisen ihrer verschiedenen Aspekte darzulegen versucht. Brock schrieb nie nur für Spezialisten, sondern stets für den gebildeten, philosophisch interessierten Leser: in einem gedanklich dichten Stil von originärer Ausdruckskraft, ohne modischen Fachjargon.

 

 

Am ehesten ist Brock mit diesen Charakteristika seines Denkens der existenzphilosophischen Strömung zuzurechnen, wobei man allerdings nicht sagen kann, daß er direkt den Ansätzen der zentralen Figuren - Heidegger, Jaspers und Sartre - nahestünde. Brock zeigt auch innerhalb seines ‚existentiellen’ Grundgestus - eines Philosophierens von der Seinsverfassung des Menschen in der Welt her (Ontologie) und um der Erringung einer sinnhaften Seinsperspektive des einzelnen willen (Ethik) - eine bemerkenswerte Unabhängigkeit des Denkens.

In gewisser Hinsicht mag es sich nahelegen, Brock der Linie 'freier Geiste’ von heroisch-geistesaristokratischer Prägung: wie Nietzsche, Ernst Jünger, Ortega y Gasset, Saint-Exupéry, anzufügen. Aber Brocks dezidierte Bejahung eines - allerdings ganz undogmatisch ausgelegten - Christentums läßt seine Festlegung auf einen Aktivismus des menschlichen Sichselbstmachens ebensowenig zu wie seine Anerkennung der Gleichwertigkeit und -wichtigkeit einer (in östlichen Kulturen gepflegten) Haltung der sich-öffnenden Rezeptivität und des ‚Lassens’.

 

 

Trotz des vielfach essayistischen Charakters seiner Schriften ist doch in Brocks Denken ein systematisch-ontologischer Grundansatz, eine Urannahme, aus der alle Einzelgedanken (bis in viele Zeitungsartikel hinein) ihre Richtung erhalten, unverkennbar. Brock scheut nicht die spekulativ-metaphysische Aussage, ist er doch - wie der Schreibende - der Überzeugung, daß jede wissenschaftliche, philosophische oder weltanschauliche Position (einschließlich vorgeblich metaphysikfreier wie der positivistischen und materialistischen) von metaphysischen Aprioris ausgeht (oder sie doch unreflektiert impliziert), die nicht empirisch zu verifizieren oder zu widerlegen sind, aber ihrerseits das empirische oder logische Vorgehen leiten.

 

Brocks metaphysische Grundintuition: daß wir Menschen uns in einer Welt vorfinden, deren Sein wir nur als eine immer schon gegebene, durchgängige Verbindung von Ordnung und Unordnung (Chaos), Sinn und Sinnlosigkeit, Rationalität und Irrationalität begreifen können, eine Verbindung, bei der der Anteil beider Komponenten jeweils sehr verschieden sein könne, ihr Gesamtverhältnis im Weltprozeß aber im wesentlichen gleich bleibe - diese Grundintuition erweist sich in der Durchführung der einzelnen Teile seiner Philosophie als überraschend fruchtbar.

 

 

Soweit die Vorstellung Brocks vom Gesamtkorpus der Philosophie rekonstruierbar ist, würde diese sich - im Anschluß an eine erkenntnistheoretische Einleitung - in die Hauptteile:

Naturphilosophie –

Ethik/Ästhetik –

Religionsphilosophie

gliedern.

Das entspricht in etwa alt-abendländischen Einteilungen (vgl.: Logik - Physik - Ethik; oder: metaphysische Kosmologie - Psychologie - Theologie), nur daß bei Brock ernst gemacht wird mit dem Basischarakter der Naturphilosophie für Ethik, Ästhetik und Religionsphilosophie.

 

In seiner Ethik geht er - in souveräner Nichtachtung aller Verbotstafeln kritizistisch-analytischer Philosophien, besonders der Lehren vom ‚naturalistischen Fehlschluß’ seit G. E. Moore - daran, die Entwicklung von Strukturen des ‚Sollens’ aus der vormenschlichen Natur bis zur menschlichen Stufe zu zeigen, ohne doch von dem Vorwurf getroffen zu werden, er leite direkt aus Seinsbefunden (Tatbeständen) spezifische Sollensinhalte ab.

 

Und seine «Naturphilosophie» führt ohne Zögern zum Ausblick auf einen Gottesbegriff, der in der Religionsphilosophie näher zu entfalten sei.

 


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