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Zum fünfzigsten Todestag (28. September)

 

Von Erich Brock

 

Erschienen in der „Neuen Zürcher Zeitung“ am 29.9.1968, S. 49-50

 

Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung der Neuen Zürcher Zeitung

 

 

 

I.

 

Als Georg Simmel am 28. September 1918 starb, ging mit diesem Tode eine Epoche deutscher Philosophiegeschichte zu Ende. Die klassischen Systeme, deren Geschlossenheit immer auf der organisierenden Macht eines absolut gesetzten Prinzips beruhte, waren längst vorüber. Kraft und Mut zu der darin liegenden, wenngleich geistig schöpferischen Vergewaltigung der allseitswendigen Wirklichkeit hatten zu fehlen begonnen. Zugleich damit wuchs die Helle des Bewußtseins, welche angesichts solcher Einseitigkeiten nun immer die Wahrheit der Gegenseite zu sehen zwang.

Es kam dazu, daß Kant diese Bewußtheit. unverdunkelbar aufgenötigt hatte, indem er die Verrichtung des Ichs bei jeder Erkenntnis der Gegenstände vor das philosophische Bewußtsein hinstellte. Damit war zugleich eine Zweiheitlichkeit aufgerissen, nämlich die zwischen Subjekt und Objekt, welche, mochte Kant selbst noch so viel seiner Grundschau wieder zurückgenommen haben, doch ihre Erfüllung nur in einer polar ausgerichteten Philosophie finden konnte. Und eine solche vermochte auf Dauer nur eine Philosophie der Bewegung zu sein.

 

 

Eine solche Philosophie konnte sich nun nicht mehr auf wenige Grundpositionen beschränken, sondern maßte von ihrem Prinzip aus einen breiten Blick über alle Provinzen des Geistes- und Kulturlebens eröffnen und in ihnen überall Erwahrung der gefundenen Grundstruktur aufgraben. Damit war der sozusagen providentielle Rahmen der Simmelschen Philosophie gespannt und ihr die Aufgabe gestellt.

Auch von dem allgemeinen Charakter ihrer Zeit her erging Bestätigung. Es war eine Zeit «pluralistischer» Kulturgesinnung, in welcher Erkenntnis und Genuß aller verfügbaren Güter des Bildungslebens unter erheblicher gegenseitiger Duldsamkeit zusammenfanden, ohne daß der Versuch zu einwohnender gedanklicher Strukturierung zu kurz kam. Die Nöte der seitherigen Zeiten haben dieser auf ihre Weise großen und wohltuenden Epoche ein Ende gesetzt und von neuem die Versuche zu philosophischer Gewalttäterei heraufgeführt; nur leider fehlte die Macht, sie zu großgeformten Gefügen zu erbauen. Doch bedingte das die zeitweilige Verdunkelung von Simmels Wirkung.

 

 

Simmel war es gewesen, der dem Wesen jener Periode um 1900 .zu antworten, in ihm mit Scharfsinn und Bereitschaft rnitzuschwingen wußte, und zwar als Philosoph. Darum muß in beschränkter Darstellung mehr die Tiefe als die Breite seines Geistes aufgerufen werden.

Als Simmel die Bühne der Zeit betrat, herrschte auf den deutschen Universitäten, der Neukantianismus. Auch der ging von dem grundsätzlichen Polaritätsdenken seines Meisters aus. Aber dieser hatte vor der Kühnheit seines Prinzips, welches zu Ende gedacht alles. gegen alles in Bewegung bringen mußte, Angst bekommen und diese Bewegung an einem bestimmten Punkte, wo noch dingliche Sicherheiten möglich schienen, durch scholastische Künsteleien einfrieren lassen - im Grunde auch hauptsächlich durch seinen Glauben an die absolute Wahrheit der Newtonschen Mechanik und an ein absolutes inhaltliches Moralprinzip.

 

 

Simmel ging so weit mit Kant, daß er das schöpferische Prinzip aus dem Objekt herauszog und ins Subjekt verlegte. Wissenschaftliche Erkenntnis, Sittlichkeit, aber auch vor allem Religion und Kunst waren ihm nicht gegenständlich gegeneinander abgegrenzte Sachgebiete, sondern veranlagungsmäßige Gestimmtheiten des Subjektes, welches mittels seiner so gegebenen Denk-, Handlungs- und Fühlformen allen Stoff zu je einer in sich stimmigen Welt zusammenfügt. Schien sich so ein schrankenloser Subjektivismus aufzutun, so lag das daran, dass die Rolle des Objektes zunächst eben stark zurückgedrängt war.

Nicht aller Stoff (dies betonte auch Simmel gelegentlich, wenigstens theoretisch) eignete sich zu allem und jedem Geistesdiktat - dieses Problem war schon bei Kant zu leicht genommen worden. Simmels fast weiblich fein reagierende Sensibilität mochte Glas vorgegebene Eigenwesen der Dinge nicht überspringen; so konnte es nicht zu einer mechanischen Absolutsetzung des Ich kommen, das derart auch wieder verdinglicht worden wäre. Das abgebrochene Kräftespiel zwischen Subjekt und Objekt vermochte wieder in Spannung gesetzt zu werden und ermöglichte echte bewegte Gegenseitigkeit dieser Pole.

 

 

Die akademische Philosophie ;jener Zeit erging hauptsächlich über feste, geschichtlich gewordene Begriffe und bestenfalls über ihre rein logische Dialektik. Simmel gewann dagegen ein neues unmittelbares Verhältnis zu den Dingen selbst; er sah sie wie mit neugeschaffenen Augen in ihrer eigenen Schöpfungsfrische. Damit wäre er ein Künstler gewesen. Als Philosoph deckte er in den Dingen verborgene abstrakte Bau- und Bewegungslinien auf und in ihren Begriffen wiederum Pulsschläge des konkreten Lebens. Er erhorchte auf beiden Seiten geheime Laute des Zueinanderdrängens. In dieser Kunst blieb er der unerreichte Meister.

 

 

Mit solcher doppelten Einsicht und Tätigkeit brachte er das Empfundene und das Gedachte, das Subjektive und das Objektive, das Besondere und das Allgemeine in innige Wechselwirkung, welche sich unablässig verstärkte, vertiefte, aber auch bereicherte und verbreiterte - und beide Seiten immer weiter aufschloß. Er vergeistigte das Sinnliche und versinnlichte das Geistige.

Es waren ihm damit unabsehbare, oft anscheinend unscheinbare Gebiete des Wirklichen gewonnen, welche die Philosophie bis dahin verschmäht hatte. In allem wirkte sich ihm dieselbe Gesetzlichkeit zu Tage. Es war die Gesetzlichkeit des Lebens. Damit war der mittelste Gegenstand seiner Bemühung gefunden, seines Gedenkens und seiner Liebe. Das «Leben» bestimmte Simmel als das, was in ewigem Wandel zwischen den Polen des Seins, in anfangs- und endlosem Quellen und Wogen alle festen Dinge und geistigen Positionen erst aus sich herauskristallisiert, dann aber, wenn ihre Festigkeit sich wider seine Unendlichkeit wendet, wieder überflutet und einschmelzt.

 

 

Simmel hatte damit der Zeit ihr Wort von den Lippen genommen. Nach einer äußersten Blockierung des Lebens in der säkularisierten Endform christlicher Askese, dem viktorianischen Geiste, schwoll zur Stunde, als Simmel begann, eine tiefe Sehnsucht nach Leben in seiner freien Unmittelbarkeit empor und brachte mit schnellem Durchbruch Kunst und Kunstgewerbe, Dichten und Denken in ihre Gewalt.

 

Man. nannte das den Jugendstil. Auch Simmel war ihm in seinen geringeren Augenblicken verhaftet; aber er erhob sich weit über seine negativen Seiten, über seine knochenlose Verschwommenheit. Simmels zeitgenössische Ideale waren Hodler, George, Rodin, welche je auf eigene Weise über den bloßen Jugendstil hinausragten.

Trotzdem traf Simmel oft der Vorwurf des Relativismus, ja der Destruktion, wie er von den Dogmatikern und geistigen Atomisten in entsprechenden Situationen immer ausging, seit Platon mit dieser Verständnislosigkeit Protagoras entgegentrat (dem Simmel auch darin nahe war, daß er immer wieder den eigenen Denkergebnissen sich gegenüberstellte). Er hat sich gegen den Vorwurf spielerischer Skepsis immer gewehrt - und betont, daß seine Zielsetzung eine durchaus positive sei, nämlich die unauflösliche Wahrheit der Beziehung in ihrer gegenwärtigen Konstellation.

Auch das gleichzeitig aufkommende Einsteinsche Relativitätsprinzip (für das er sich tragischerweise ausdrücklich nicht interessierte) jagte den Menschen den Schrecken ein, nach Auflösung alles objektiv Festen in die Leere zu fallen. Indem es das Subjekt wieder in die Physik einführte, mußte es auch die Wahrheit in die augenblickliche Relation verlegen. Einstein und Simmel hätten sich beide einfach auf die praktisch unendliche Bereicherung des geistigen Kosmos durch ihre Erkenntnis umfassender Gegenseitigkeit in ihm berufen können. Außerdem war die Sicherheit der Ergebnisse praktisch völlig hinreichend, um den Fluß der Erscheinungen für alle vernünftigen Zwecke zu beherrschen; und was etwas Wesentliches hergab, mußte in Wesenhaftem gründen, denn aus nichts wird nichts. Auf der Festigkeit des Objektiven konnte metaphysische Sicherheit sowieso nur schmarotzen.

 

 

Aber was war nun dieses Wesenhafte? War es nicht auf Seite der objektiven Welt als Gegenstand vorzuweisen, so mußte sich der Mensch mindestens auf der Seite seines Subjektseins davon greifbare Rechenschaft geben können. War es der Wille in seiner freien, sich nie fahrenlassenden Inbesitznahme seiner selbst - auch der vorantreibende Denkwille des Wissenschafters und Philosophen?

Wille war kaum eine näher bekannte Größe in einer Zeit, wo sich äußeres Gedeihen und geistig-seelisches Genießen genugsam von selber darzubieten schienen. Denken wir an die willenlosen Gestalten eines Gerhart Hauptmann und so vieler anderer Dichter der Zeit, welche die tiefe Unseligkeit des zeitgenössischen Kulturoptimismus mit oder ohne Absicht aufrissen. Und wie dem Willen einen festen Inhalt gewinnen? Das feste Eindeutige kann ohnehin überall nur Idee bleiben.

 

 

Wie aber dann betreffs der Religion, dem Glauben? Die Zeit war immer wieder gefesselt von dem Problem der Religion. Simmel umkreiste es von Anfang bis Ende seiner Laufbahn. Religion blieb ihm auch ein äußerst bedeutsames, aber immanentes, rein innermenschliches Geschehen. Vielleicht hätte ihn das zu einem Pantheismus auf der Grundlage reiner Intuition führen können ähnlich wie Bergson - dem er sich allzu bescheiden unterordnete.

Aber Simmels messerscharfes Denken sah deutlich die gedankliche Unzulänglichkeit solcher Religion. Die Persönlichkeit Gottes blieb ihm ein unentbehrliches Moment ,jedes Gottesgedankens. Aber auch dieser Gedanke hielt sich in den Grenzen einer in sich bleibenden psychologischen Denkform - nicht im Sinn eines neuen Dogmatismus Feuerbachscher Prägung, sondern als ein Entwurf, dem die Gretchen-Frage des Wirklichseins vorenthalten wurde.

 

 

Ist es möglich, Religion diesseits davon in der Schwebe zu lassen und sie doch zu verstehen? Tief war Simmel beherrscht von einer achtenswerten Scheu, Antworten zu geben, nach denen ihn sein Leben nicht gefragt hatte. Er kannte wohl die Trauer am Grunde jedes geistigen Menschen; aber sie blieb ihm auch befaßt in der Lebensbewegung, als eine ernstliche Spannung, die deren Reichtum noch vermehrte - befaßt auch in der Heiterkeit, ja in dem Glück des Lebens selbst, das sein Gelingen in der verpflichteten Antwort auf alle Anforderungen der Welt, gefühlt und gedeutet zu werden, gefunden hatte - und welches die Schwebe der Gegensätze tragen konnte.

 

 

So blieb zuletzt nur Dankbarkeit. Dankbarkeit für ein gnadenhaft erfülltes Leben ergeht an die Götter, und so sprach es Simmel auch aus. Sie genügt aber nicht, Gott als unbedingte, nicht mehr erdenkliche Einheit mit, mehr als Worten und Begriffen über das Leben zu erhöhen ; sondern nur die Not genügt dazu. Sie blieb Simmel erspart; und als sie zuallerletzt doch hereinbrach, war alles bereinigt, so daß kein Raum mehr blieb, daß ihre zerreißende Brutalität über ihn hätte Macht gewinnen können. Simmel tat noch zuletzt einen Schritt weiter, ohne sich zu verleugnen.

Das Leben, das unaufhörlich mehr Leben anstrebt, will darin auch mehr als Leben; aber das ist sein Wesen, aus dem es damit nicht herausfällt, um sich etwa in einer Transzendenz zu verflüchtigen oder sich wider sich selbst zu kehren. Es überbrückt diesen inneren Gegensatz; es überschreitet sich, ohne sich zu verlassen. Und sollte das nicht nach Jahrtausenden der Lebenszerstörung durch Jenseitiges, welches nie greifbar zu machen war, die richtige Art sein, die «Erscheinungen zu retten», wie Aristoteles sagt, und doch den Menschen nicht in sie einzuschließen?

 

 

II.

 

Georg Simmel wurde 1858 als siebtes und letztes Kind eines jüdischen schlesischen Kaufmanns in Berlin geboren - Ecke Friedrichstraße und Unter den Linden, im Brennpunkt des Gewühls der Millionenstadt. Er bleib derselben äusserlich fast für immer und innerlich immer treu; mit ihrem geschwinden und allseitigen geistigen Austausch war sie die ihm zugeborene Umwelt.

Ein anderer Jude, Friedländer (Begründer der Edition Peters), wurde sein väterlicher Freund, der ihn für Musik begeisterte (obschon Simmel nie über sie philosophierte; dies sei zu schwierig). Friedländer vermachte ihm später sein Vermögen, was ihn instand setzte, bis zum 56. Jahr ohne hinlängliches Arbeitseinkornmen seiner wissenschaftlichen Produktion zu leben.

Die Berliner Doktorprüfung bestand Simmel nur cum lande (unser Landsmann Tobler befragte ihn dabei über Petrarca), verzeichnete dann aber nach baldiger Habilitation derartige Hörerzahlen, daß er immer im Auditorium maximum lesen mußte.

 

 

Trotzdem ging seine äußere Laufbahn langsam vonstatten. Das beruhte weniger auf seinem Judentum; getaufte Juden stießen damals auf keine größeren Hemmungen, wenn sie nicht geradezu Gardeleutnant werden wollten; Minister konnten sie werden. Es ist nur ein offizielleres Zeugnis erhalten, das ausdrücklich an Simmels Judentum Anstoß nahem, nämlich ein Gutachten des Historikers Dietrich Schäfer, der allerdings auch fast mehr Simmels Publikum in dieser Hinsicht hernahm als ihn selbst.

So ehrenvoll es für dieses und seinen jüdischen Anteil war, Simmel frühzeitig zu schätzen und ihm anzuhangen, so gab es doch darunter auch nicht wenige, die ihn als «geistreich» mißverstanden und daraufhin etwas oberflächlich genossen - wogegen sich Simmel immer und mit Recht zur Wehr setzte, mehr und mehr auch nur den Anschein davon vermied. Er war sich wohl bewußt, daß seine Art es ausschloß, Schule zu bilden ; sein Philosophieren war ihm auf den Leib geschrieben und konnte nicht nachgeahmt werden. Der Schreibende erinnert sich, wie im Frühling 1914 manchmal der ganze Kurfürstendamm über die Fakultät in Straßburg sich ergossen zu haben schien, welcher Simmel so weit nachgezogen war - aber seinerseits vorwiegend nur einen Begriff zu geben vermochte, wie er sich räusperte und wie er spuckte.

 

Was Simmel in seinem äußeren Aufstieg hemmte, war vielmehr eben die ganz ungewohnte Form seines Philosophierens, welche vielen relativistisch, feuilletonistisch, ja zersetzend erschien. Hauptsächlich wohnten solche Widerstände bei den Regierungen; Berufungen nach Heidelberg, denen Simmel gerne gefolgt wäre, scheiterten, einmal wahrscheinlich an dem Einfluß der pietistischen verwitweten Großherzogin Luise, welche für den Philosophieunterricht der Theologiestudenten fürchtete, das andere Mal am Kultusministerium in Karlsruhe. Unter den Eingaben, die für Simmel Beförderungen und Berufungen verlangten, finden wir große Namen der damaligen philosophischen Fakultäten, die ihm sachlich teilweise denkbar fern standen.

Aber es war trotz allem eine Zeit von großartigem Liberalismus. Man konnte etwas und ließ den anderen die Auswirkung ihrer Fähigkeiten, wenn diese sozusagen gradmäßig einleuchteten. Illiberal sind meistens nur die Nichtskönner, aus verständlichen Gründen.

 

Troeltsch sagte einmal dem Schreibenden: Simmel ist ein ganz bewußter Jude. Buber dagegen berichtet, er habe ihn nur einmal von den Juden mit «wir» reden hören. Völkisch (dieses Wort gebrauchte Simmel) konnte das nicht gemeint gewesen sein, konfessionell schon gar nicht. Daß Simmel von dem alttestamentarischen Weltanschauungstvp denkbar weit entfernt war, dürfte klar geworden sein. Er hatte einen stark jüdischen Gesichtstypus, war dabei klein und unschön, aber von unvorstellbar lebendigem Gebärdenspiel, besonders auf dem Katheder, wo er immer sozusagen frei sprach und den Entstehungsablauf seiner feingesponnenen Ideen mit den Händen plastisch machte.

 

 

Später bewahrheitete sich an ihm das Wort Bismarcks, vom fünfzigsten Jahr ab sei jedermann selbst für sein Gesicht verantwortlich. Sein letztes Bild angesichts des Todes zeugt von der inneren menschlichen Größe, zu welcher er damals aufwuchs, und ist von ergreifender Schönheit.

Seine Güte strahlte unmittelbar aus ihm hervor. Er war ein Genie der Freundschaft und des BriefwechseIs - obschon er sonst vor Schauen, Fühlen, Denken eher wenig las. Im gespannten Austausch seines Freundeskreises waren auch nicht wenige Juden eingeschaltet. Es war die Blütezeit der deutsch-jüdischen Kultursymbiose,- welche gewiß einige Schattenseiten hatte, aber im ganzen ein Glücksfall von bedeutender Fruchtbarkeit für beide Teile war. Caliban hat ihm für immer zerstört.

 

 

Simmel heiratete 1890 die Tochter eines preußischen Regierungsrates; im ganzen war die Ehe glücklich. Seine Frau schrieb auch schätzbare lebensphilosophische Bücher; allerdings ist darunter das nach seinem Tod veröffentlichte wertlos.

Viele Reisen dienten seinem unerschöpflichen Drang nach anregendem Geistesstoff. Er liebte Italien. leidenschaftlich; insbesondere Florenz dünkte ihn die leibgewordene Harmonie zwischen den Grundpolen des menschlichen Geistes; sie sei die Heimat seiner Seele - «soweit unsereiner eine Heimat hat». Aber schließlich, wie so manche Deutschen, entschied er sich doch vor letzter Alternative für das Nordische, für Gotik und Rembrandt.

Er war ein innig verliebter, jedoch darin meistens mit schlechtem Gewissen behafteter Sammler schöner Töpferware, besonders solcher aus China; auch sie wurde ihm philosophischer Stoff. So hatte er kaum Zeit, sich zurückgesetzt zu fühlen.

 

 

Endlich fiel ihm ein Lehrstuhl in Straßburg zu. Leicht wurde ihm der Abschied von Berlin nicht. Obwohl in Straßburg die Universität gut war und das Geistesleben seit Erringung der Selbstregierung geschwinde aufblühte, so war doch das philosophische Interesse in weiteren Kreisen noch mäßig. Nur einen tiefer verstehenden Schüler und Freund gewann Simmel dort, der ihm innerlich Treue wahrte, auch als er sich nach anfänglicher Erwägung von Emigration und besonders nach 1940 von allem Deutschen absetzte.

 

 

Schon nach einsemestriger Tätigkeit in Straßburg sah sich Simmel dem Kriegsausbruch gegenüber. Anhänger von ihm haben gesagt, seine Haltung im Kriege sei extrem nationalistisch gewesen. Die Hauptzeugnisse darüber sind vernichtet. Wir wagen zu widersprechen. Ein Geist von seiner Empfindsamkeit und Reaktionswilligkeit hätte nicht vermocht, dem machtvollen inneren Aufschwung zu Kriegsbeginn nur als kühler Beobachter beizuwohnen. Diesen Aufschwung erlebte er als subjektiv echten und gehaltvollen.

Nur war Simmel natürlich außerstande, sich dabei in den kindlichen Schwarz-Weiß-Malereien zu tummeln, welche den Vordergrund der Szene beherrschten. Seine «Kriegsaufsätze» enthalten kaum ein Wort der Abschätzigkeit für die Kriegsgegner; für ihn war der Krieg ein innerdeutsches Ereignis. Im schrankenlosem Opfersinn so vieler und seinen gläubigen Leistungen sah er eine ungeahnte gewaltige Elementarkraft, welche sich darnach, gehe es wie immer aus, urbedingt in eine umfassende Erneuerung auswirken müßte. Und er litt, wie so mancher, darunter, gegenüber diesen letzten Einsätzen seine Existenz an Schreibtisch und Katheder fortzusetzen, als sei nicht die ganze Welt anders geworden.

 

 

Darin hat sich Simmel getäuscht. Die Ernte seines Schreibtisches wirkt fort, und die Opfer mit ihrem rasenden Schwung waren umsonst gebracht, nicht nur nationalpolitisch, sondern sie wurden noch im Innersten geschändet durch die Fehldeutung, welche der Mann des Unheils und die Seinen später daran vornahmen. Aber es war eine großmütige Täuschung. Je weiter der Krieg fortschritt, desto heißer wurde das Leiden des Philosophen daran - die Last der gefühlten Verantwortung - als Deutscher, Europäer und Mensch.

Oft glaubte er, die Last nicht mehr tragen zu können. Sie zerdrückte seine körperliche Kraft, die, ohnehin mäßig, durch die Hungersnot weiter untergraben wurde - obschon die Verhältnisse in Straßburg dank der Organisationsgabe des Bürgermeisters Rudolf Schwander (der daraufhin Reichswirtschaftsminister wurde) besser waren als anderswo. Simmel lehnte standhaft ab, sich irgend etwas außer den amtlich zugebilligten Rationen zuzuwenden, die doch zu wenig zum Leben waren. So nahm das Verderben seinen Lauf.

 

 

Schon seit Jahren von Todesahnungen heimgesucht (gleichen Schrittes auch vom Gefühl der Ausgeschöpftheit seiner philosophischen Prinzipien), die sich im Mißtrauen gegenüber allen weitergreifenden wissenschaftlichen Plänen sehr ruhig aussprachen, ließ Simmel sich die Fassung auch nicht rauben, als die Ärzte ihm im Mai 1918 einen inoperablen Leberkrebs bescheinigten, unter Abschätzung der verbleibenden Lebenszeit auf 6 Monate - von denen ihm die Parzen noch einen Drittel abschnitten.

Er nutzte diese kurze Zeit, um das seine Gedankenwelt krönende Werk «Lebensanschauung» zu vollenden. Als die letzte Korrekturfahne aus dem Haus war, duldete er, daß man ihm Morphium gab. Er verabschiedete sich brieflich in großer, scheinloser Haltung von seinen Freunden und starb.

Dieser Tod ersparte ihm, einige Wochen später mit dem Handkoffer unter den Steinwürfen eines gemieteten Pöbels über die Rheinbrücke gejagt zu werden; darüber hat Robert Minder das Erforderliche gesagt.

Bis zuletzt hielt Simmel daran fest: «Ich bin doch ein Götterliebling gewesen.» Und das ist wahr. Denn er durfte ausleben, was in ihm war, und sagen, was ihm aufgetragen war. In der Grenze des Todes schloß sich seine Gestalt.

 

 

Es ist schmerzlich, dazu einen kleinen Vorbehalt machen zu müssen. Wir zweifeln nicht, daß Simmel der bislang bedeutendste Philosoph dieses Jahrhunderts war und der größte deutsche Essayist überhaupt - gewesen wäre; wenn nämlich sein Stil auf der Höhe seiner Gedanken gestanden hätte. Vielleicht war aus der Friedrichstraße kein grundwachsender Stil heraufzusaugen; immerhin hatte Nietzsche bereits geschrieben.

Simmel hat seine im verwegenen Sinn neuen und unmittelbaren Gedanken in der ausgelaugten Redeweise der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dargeboten. Papierene Schachtelsätze, Häufung überflüssiger toter Fremdwörter, welche keine Tiefe unter sich öffnen können und durch die das Pneuma seines «Lebens» nicht hindurchschwingt, lähmen diese Rede. Hätte er seinen Stil gefunden, so wäre es nicht zu der heutigen weitgehenden Polarisierung der deutschen theoretischen Prosa einerseits in Kaskaden von Leere tarnenden Fremdwörtern und anderseits einer deutschtümelnden «Paranoia etymologica» (wie Ludwig Marcuse es nennt) gekommen.

 

 

Daß Simmel, wie er sagte, sein Sterbliches gern dem Leben des Kosmos zurückgab, setzte sich symbolisch in das Schicksal seines bedeutsamen literarischen Nachlasses fort: Das Behütete fiel der Macht unbehüteten Vergehens anheim. Drei Bände davon erschienen zwar noch, einer von jenem Elsässer, einer von Simmels Frau herausgegeben, der dritte (mit den großenteils fast einzigartigen Aphorismen) von seiner nahen Freundin Gertrud Kantorowicz - von welcher Simmel, von seiner Frau freigegeben, eine schöne und kluge Tochter hatte, die er aus tragisch mißleitetem Pflichtgefühl nie gesehen hat («wenn man nicht das Recht zu dem hat, zu dem man die Pflicht hat ...»).

Sie ist dann im jüdisch arabischen Krieg von 1948 infolge eines Unfalls umgekommen. Ihre Mutter starb, bei einem Fluchtversuch in die Schweiz abgefangen, wenige Tage vor der Befreiung in Theresienstadt. Ihr war ein Koffer mit zahlreichen Manuskripten Simmels in der Eisenbahn gestohlen worden.

Einen andern Teil der handschriftlichen Hinterlassenschaft ließ Simmels sehr geliebter ehelicher Sohn, Halbjude, Kriegsteilnehmer, bedeutender Medizinprofessor in Jena, von einer Hamburger Speditionsfirma verpacken, als er mit seiner Familie nach Amerika flüchtete - wo er nach wenigen Jahren an den Folgen von Dachau starb (fast am selben Tag wie seine geheime Stiefschwester, mit der er in Verbindung getreten war). Im letzten Augenblick bekam die Gestapo Wind von der beabsichtigten Verschiffung der Handschriften und ließ sie «zugunsten des Reiches» versteigern. Auch sie sind nie mehr zum Vorschein gekommen.

 

 

Aus Ende setzen wir Jonas Cohns kaum überbietbar treffendes Wort über Simmel:

 

«Über alles einzelne hinaus ist er der Meister dialektischer Geisteshaltung: der Kern seines Geistes schwebt heiter und klar über der Fülle der Gegenstände, in die er sich doch liebevoll und scharfsichtig zugleich versenkt. Jedes besondere Ding wird ihm Mittelpunkt; aber keines bleibt isoliert stehen, keinem gibt sich der Geist gefangen. Dabei nimmt dieser Philosoph immer an Reichtum zu, ohne je seine Freiheit, seine Unabhängigkeit zu verlieren; anfangs scheint es, als seien die Gegenstände seines Nachdenkens nur beliebige Anlässe, seinen Scharfsinn zu üben; aber mehr und mehr gibt er sich ihnen zugleich hin; die spielerische wie die zersetzende Haltung weicht einer echten Liebe, und aus dieser heraus gewinnt der freieste Geist tiefe Frömmigkeit.»

 

 

 

 

Georg Simmel

AUS DEM NACHGELASSENEN TAGEBUCH

 

Unter den vielen Menschen, die an ihrem Werk arbeiten, sind wenige, an denen ihr Werk arbeitet.

 

*

 

Alles ist erlaubt außer dem Frivolen und dem Langweiligen. Aber für sehr viele Menschen ist es ganz unmöglich, eines von beiden zu vermeiden, ohne in das andre zu fallen.

 

*

 

In der Toleranz liegt immer ein Hochmut. Wenn Du noch so frech Nein sagst, stellst Du Dich doch noch auf einen Boden mit dem, der Ja gesagt hat. Aber wenn Du ihn tolerierst, bist Du sein Gönner.

 


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