Home Von Vögeln, Menschen und Ideologien

 

Von Erich Brock

 

Erschienen in der „Neuen Zürcher Zeitung“ am 15.4.1971, S. 29

 

Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung der Neuen Zürcher Zeitung

 

 

 

Es ist Mittag, der Tisch ist gedeckt; nämlich für die gefiederten Gäste. Sie warten, bis die überlieferte Stunde da ist; denn die meisten Tiere sind zwar von leidenschaftlichem Freiheitsbegehren erfüllt, und zehn Schritte in einem umhegten Raum sind ihnen Qual, drei Schritte in einem offenen Raum tiefe Genüge. Aber ihre Freiheit ist mit strenger und spießbürgerlicher Infrastruktur organisiert - wozu eine innere Uhr und ein inneres Raumgefühl mithelfen. So ist auch die Mahlzeit rituell; auf einmal sind alle Sträucher und Bäume voll von wildem Geflatter der Eingeladenen, einige Minuten dann nach der Essenszeit ist alles ausgestorben, auch wenn keineswegs abgegessen ist.

Also ist zu vermuten, daß das «wilde Geflatter» (nämlich der Bergfinken) bürokratisch organisiert ist. Dem näher Hinblickenden bestätigt sich das: Wenn zum Beispiel zweimal ein Korn aufgepickt ist, wird je mit dem dritten Zufahren wütend auf den Nachbarn losgehackt. Wozu dies eigentlich, da doch die unparteiische Hand des Menschen für alle reichlich vorgesorgt hat?

 

 

Je länger man dem Treiben zuschaut, desto klarer wird, daß im Schwarm zwar das Bedürfnis nach gegenseitiger moralischer Erwärmung, ja auch Unterstützung, Richtunggabe, Deckung, Gesellschaftsspiel und hierarchischer Einordnung Erfüllung findet, aber auch das Bedürfnis nach Streit, Sieg, Bemächtigung, Sich-in-der-Rangfolge-Emporstemmen, Sich-am-Schwächeren-als-der-Stärkere-Fühlen. In beidem findet das Individuum erst seine Identität, zu beidem braucht es die Gemeinschaft, aus beiden Bedürfnissen heraus kann es nicht allein sein.

Das ist ein tiefwurzelnder Zug des Lebendigen. In allen Tiergemeinschaften ist genauso wie Zusammenarbeit, Hülfsstellung, auch (um es in wissenschaftlichem Rotwelsch auszudrücken) die intraspezifische Aggression, das heißt Kampfspiele ohne Vernichtung, Zweck des Zusammenschlusses.

 

 

Das wird um so mehr zur Gewißheit, als der von da geschulte Blick nahezu dieselbe Entdeckung bei den Menschen macht. Manche Familien halten ebensosehr aus Haß wie aus Liebe zusammen, aus Bedürfnis nach Partnern für Friede und Freundschaft wie nach Partnern von Zank und Streit, und hier zwar nach solchen, die nicht einfach die Tür hinter sich ins Schloß ziehen können, dies aber nicht nur wegen äußerer Hindernisse, sondern auch aus Mangel an moralischer Unabhängigkeit. Steigert sich das, so kommt es schließlich zu dem strindbergschen Zustand, wo man nicht mehr mit und nicht mehr ohne einander zu leben vermag.

 

 

Auch bei größeren, angeblich rein sachbedingten Verbänden und ihrem gegenseitigen Verhältnis finden wir dieses Kräftespiel wieder. Sobald sich die Gesellschaft stark polarisiert und die polständigen Gruppierungen mit wild radikalisierten Parolen aufeinander loszudreschen beginnen, kann sich der Ältere, welcher derlei schon öfters mitangesehen hat, des Eindrucks nicht erwehren, daß ein Teil des erbitterten Kampfes hauptsächlich dem Zweck dient, sich voneinander abzuheben, und ein Teil seiner Standarten, damit eine künstliche ideologische Voraussetzung des Kampfes selbst und des Selbstgefühls zu schaffen und aufrechtzuerhalten.

 

 

Das ist sehr nötig, denn es bleibt noch der gemeinsame Gegner, die Mitte, welche die Polarisierung nicht anerkennt und darum von beiden Seiten bekämpft werden muß. Es darf trotzdem aus dieser objektiven Kampffront gegen die Mitte um keinen Preis eine subjektive Gemeinsamkeit und Fraternisierung der Randgruppen werden. Darum die schwarzen und die weißen Helme in Frankreich und in Italien; man muß sich doch schlicht und sichtlich unterscheiden können im Kampfgetümmel und vor der Welt.

 

 

In Deutschland ist zurzeit diese Lage minder klar, weil da nach bestimmten fortwirkenden Erfahrungen ein militanter Rechtsradikalismus, abgesehen von einzelnen Schilderhebungen, kaum hat aufkommen können. Desto stärker ist da der Aufschluß durch Vergleiche mit der Vergangenheit. Jene äußerste Polarisierung, von der wir sprachen, hat immer etwas Apokalyptisches; und diese Stimmung pflegt einzutreten, wenn es den Menschen zu schlecht oder zu gut geht.

 

 

Apokalyptisch - das ist ein Stichwort, bei dessen Aufrufung die Deutschen nicht fehlen können, teils aus Anlage, teils aus Schicksal. Vielleicht sind die Schicksale immer sehr stark von der Anlage bestimmt; wenigstens tritt Heraklit, der einiges vom tieferen Weltlauf wußte, für diese Annahme ein.

Erst war die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg; da ging es den Menschen zu gut. Dann der Kriegsausbruch; wenn etwas, so versetzte er die Deutschen in apokalyptische Stimmung: unmittelbare Untergangsdrohung zusammen mit Aufschwung aus letzten Gründen. Dann der furchtbare Krieg selbst, zum Beispiel Verdun in vielfacher Wiederholung; die Hungersnot, Zusammenbruch aus höchsten Exaltationen heraus, dann Versailles, Inflation (eine Straßenbahnfahrt 100 Milliarden Mark; was bedeutet das, bis es so weit war), Wirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit; alles äußerste Dinge, deren schon jedes für sich an die Grenzen menschlichen Witzes führt und nur schon die Idee vernünftiger Heilung der Lage zur Absurdität zu machen schien.

 

 

Was bleibt dann übrig - wenn schlechthin alles ins Schwimmen geraten ist? Eben die Apokalyptik; und was ist deren Inhalt? Ein Blick auf die Geschichte und besonders auf die in unserer Geschichtsgliederung niedergelegte Zeitenwende genügt, um diese Frage zu beantworten.

 

 

Apokalyptik bedeutet, daß alle entfesselten Urgewalten aufeinander losbrechen, alles, was noch steht, zusammenhauen, in ein brodelndes Chaos umstürzen und daß dann durch einen absoluten Umschlag aus den letzten Tiefen der Gottheit heraus von selber das Neue, Endgültige, Allerlösende strahlend hervortritt.

 

 

So ist das immer verstanden worden, und so wurde es auch damals, am Vorabend von Hitlers Tausendjährigem Reich, in Deutschland verstanden. Von wem? Die Reichtstagsmehrheit wurde damals zusammen von den Nationalsozialisten und den Kommunisten gebildet. Sie waren für einander das Teuflische selbst; die Gemeinsamkeiten waren infolgedessen groß. Beide Gruppen waren antidemokratisch, antiliberal, antibürgerlich, antikapitalistisch. Und diese Einstellungen wurden nach der Inflation und den andern Bankrotten des «Systems» von der Mehrheit des Volkes geteilt.

 

 

Dazu trat dann noch als Lieferant etwas gehobener Theorie eine Gruppe von Intellektuellen, die, weder Kommunisten noch Nationalsozialisten, sich konservativ nannten, aber aus mehr oder minder tiefem Herzen die Katastrophentheorie bejahten und metaphysisch unterbauten: Leute wie Edgar Jung, Stapel, Pechel und vor allem Zehrer mit seiner «Tat»-Mann-Schaft. Und alle waren, nach Versailles kaum erstaunlich, national; selbst die Kommunisten arbeiteten stark mit einem «Nationalbolschewismus», der auch in der Reichswehr Anhänger hatte.

 

 

So war es nicht unbegreiflich, daß General v. Schleicher den Versuch unternehmen wollte, auf Grund der nationalen und antikapitalistischen «Sehnsucht» des Volkes mit einer Regierung aus dem rechten Flügel der Nationalsozialisten (Gregor Strasser), den christlichen und den sozialdemokratischen Gewerkschaften die abschüssige Entwicklung abzufangen. Er glaubte, dabei Hindenburg hinter sich zu haben; aber dieser ließ ihn fallen und überantwortete die Konkursmasse dem, der sich ins Fäustchen lachte über jene, die glaubten, als Generäle den ziellosen Kampf der Flügel mit einem Ziel versehen zu können; der «böhmische Gefreite» wußte genauer, was er wollte, und er merkte sich auch die Namen derer, welche im letzten Augenblick sich seiner Zielstrebigkeit in den Weg zu stellen versucht hatten; sie hatten damit ihr Leben verwirkt.

 

 

Auch heute erwahrt sich die gefundene Figur weitgehend. Auch heute waren apokalyptische Geschehnisse in Deutschland vorausgegangen, Taten und Leiden, Gasöfen und Phosphorbomben; dazu ungeheuerliche geistig-seelische Aufsteilungen und noch nicht dagewesene Zusammenbrüche. Zunächst hielt man sich, wie betäubt, still und an der Arbeit, noch halb in der Furcht, ob denn das aus der Apokalyptik ins Freiere führen könne.

Dann gab es eine seltsame Fernzündung, auf einen Zunder, der zur Hälfte aus den vergangenen Schrecknissen, zur andern aus der gegenwärtigen Prosperität zusammengesetzt war. Viele fühlten, es mußte wieder gestritten sein. Der Bergfink erwachte wieder im Menschen. Aber unter welchem Banner gestritten, mit welchen Stichwörtern?

 

 

Trotz mannigfachen Mißständen, die doch kaum über das Allgemeinmenschliche hinausgehen, war das nicht so leicht zu beantworten. Zunächst eines. Nachdem die höchste Aufpeitschung des Nationalismus den Deutschen mißlungen war, seine Träger auf den letzten Platz zurückgefallen, konnte durch Überkompensation die Welt-Führungsrolle in der Ausrottung des Nationalgefühls errungen werden.

Allerdings sind darin die andern Völker kaum gefolgt. Aber da gab es noch ein anderes ideologisches Vehikel. Etwas ganz Neues fand man zwar nicht; aber der Marxismus hatte noch nicht ausgedient; er war vom Osten her noch in Erörterung. Man mußte ihn nur nach der apokalyptischen Seite hin etwas aufbügeln: alles zusammenschlagen, sodann selbsttätiges Paradies ohne Zwang, ohne Repression, ohne Tabus.

 

 

Diese schlichte und doch etwas abgebrauchte Weisheit wurde noch vermittels einer eigens zum Zwecke imposanter Unverständlichkeit erfundenen Sprache als Wissenschaft in Verkehr gebracht. (Auffallend, daß der Marxismus da, wo seine Oberbau-Theorie, nämlich daß alle Ideologie abhängig sei von nichtrationalen Strebungen, einmal ihr Feld gehabt hätte – daß da nun der Glaube an die reine objektive Wissenschaftlichkeit seiner Thesen beansprucht wurde.) Damit stand dem Start zu neuen Bergfinken-Schlachten nichts mehr im Wege. Man war wieder antibürgerlich, antidemokratisch, antiliberal und antikapitalistisch.

 

 

Der Einbruch in die Politik gelang nicht besonders; dazu war die Ideologie etwas zu fadenscheinig, und die schweigende Mehrheit wußte zu gut, was sie bei dem bisherigen Nicht-Anti-System gewonnen hatte. Aber sehr viele Intellektuelle waren wieder zur Stelle, um kulturell, besonders in den Künsten verläßlich lieferbare Apokalyptik zum Strömen zu bringen. Was nicht Niederbruch, Verwüstung, Formauflösung, Zerrüttung jeden Haltes war, was noch bejahend, gestalthaft sein wollte, erregte nur ein wildes Hohngelächter. Die schweigende Mehrheit schwieg abgrundtief in ihres Nichts durchbohrendem Gefühl. Also den Mut nicht sinken lassen, ihr Bergfinken! Hegel hat euch gesagt: Wenn die Idee revolutioniert ist, kann die Wirklichkeit nicht aushalten.

 

 

Anderseits wissen die Tiere, wo einhalten mit dem Streit, ehe das Ganze zerstört ist. Im politischen Vogelleben gab es in Deutschland früher einen einmaligen Irrgast, der wohl auch allerhand ironisch verspielte Kampfmelodien daherpfeifen konnte. Aber er hatte den unzähmbaren, unbrechbaren Blick des Bussards, und dieser Blick sah je länger, desto mehr nur eines, nämlich in Worten: Laßt eure ideologischen Kampfspiele; gehen sie zu weit, so zeigen sie, daß sie nur zur Zerfleischung erfunden sind. Später, ziemlich viel später, wenn nicht mehr alles auf Messers Schneide steht, könnt ihr sie nach Gefallen nachholen, euer Haus innen einrichten, wie ihr es herausrauft und wie es euch gut dünkt. Ohne die Existenz der Gemeinschaft und ihre Sicherung sind alle Ideologien leer; bis dahin beobachtet sie als Wirkfaktoren.

 

 

Bismarck sagte diese Dinge immer wieder, aber umsonst. Immerhin hätte es anderseits ohne die deutsche Ideologie-Wut keinen Luther, keinen Schiller, keinen Fichte, keinen Hegel gegeben; nur aus der Politik sollte sie draußen bleiben.

Statt dessen scheint hier am deutschen Wesen die Welt genesen zu wollen - genesen im Sinne der Bergfinken. Doch Demokratie, Liberalismus sind wohl Allzumenschlichkeiten, sind keine allgenügenden politischen Lebensinhalte; aber es sind letzte Wälle, die nicht weggeschwatzt werden dürfen - Wälle vor den Inhalten, die das Leben lebenswert machen.

 


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