Home Auswege aus der Bedrohung

 

Jean Gebser: Verfall und Teilhabe. Über Polarität, Dualität, Identität und den/ deren Ursprung. Otto Müller Verlag, Salzburg, 1974.

Gabriel Marcel: Tragische Weisheit. Zur gegenwärtigen Situation des Menschen. Europaverlag, Wien, 1974 (frz. 1968).

 

siehe auch:

Erinnerungen an die Zukunft II

 

 

Nicht nur, dass sie letztes Jahr [1973] starben - Jean Gebser mit 67, Gabriel Marcel mit 83 Jahren - ist ihnen gemeinsam, sondern auch ihr Thema: der Mensch und seine Bedrohung in der heutigen Zeit. Ja noch mehr : "der Ursprung", "die Mutation“ "die Freiheit“, "das Licht“ und "die Transparenz" (Gebser) oder "das Durchscheinen" (Marcel) sowie "der schöpferische Prozess" (Marcel) oder die "Evolution" (Gebser).

Beide gehen gegen den Anthropozentrismus an, bemühen sich, Begriffe zu präzisieren, sind auf ähnliche Art "religiös" und - fühlen sich als Aussenseiter.

 

Schliesslich sind es von beiden Philosophen Aufsätze, die in Sammelbänden vorgelegt werden. Gebsers "Verfall und Teilhabe" (Otto Müller Verlag, Salzburg) enthält deren acht, Marcels "Tragische Weisheit“ (Europaverlag, Wien) vierzehn.

Während diejenigen von Gebser aus der Zeit von 1958 bis 1972 stammen und bibliographisch dokumentiert sind, fehlen bei Gabriels "Essays" - und um solche scheint es sich zu handeln - Angaben sowohl zum Anlass als auch zum Datum der Entstehung; sie werden wohl in den sechziger Jahren, jedenfalls vor 1968 - dem Erscheinungsjahr der französischen Ausgabe - entstanden sein. Bei Gebser fehlt dafür ein Hinweis, dass "Die Beziehungen des Menschen zur Technik" am 2. September 1967 auch im "Tages-Anzeiger" zu lesen waren. Der 60seitige "Unsichtbare Ursprung" erschien bereits 1970 im Walter Verlag, Olten, als Büchlein.

 

Tod und integrales Bewusstsein

 

Nicht zu verhehlen ist, dass der Kulturphilosoph Gebser und der existentielle Philosoph Marcel verschiedene Pfade schreiten und ihr Augenmerk auf je andere Erscheinungen richten. Hat beispielsweise Marcel stets einerseits die nukleare Bedrohung, anderseits die Gewissheit des eigenen Todes vor Augen, so sind es bei Gebser die Hinwendung zur "äusseren Welt" seit den alten Griechen und die in den letzten Jahrzehnten erfolgte Intensivierung- des mental-rationalen Bewusstseins zu einem integralen, aperspektivischen und arationalen.

"Das neue Bewusstsein ist heute eine Wirklichkeit. Es ist da. Es wirkt ... Da es da ist, führen keine Wege zu ihm. Man braucht seinetwegen keine Hoffnung zu hegen. Es bedarf keiner Mittel, um sich seiner und der ihm inhärenten Wirklichkeit bewusst zu werden. Es erfordert keine Handlung, wohl aber die entsprechende, ja selbst die gemässe Haltung" (57).

 

Diesen Optimismus Gebsers, der vor allem gespiesen ist von den Ergebnissen der Quantenphysik und den Konsequenzen der Relativitätstheorie, vermag Marcel freilich nicht zu teilen. Sobald man auch nur ein wenig über die Gegebenheiten unserer gegenwärtigen Erfahrung nachdenke, meint er, werde man

"zu recht alarmierenden Schlussfolgerungen gezwungen: denn vorbehaltlich einer Katastrophe scheint sich die immanente Logik der demographischen Progression einerseits, und der unkontrollierbaren Progression der Techniken anderseits unweigerlich gegen die Person und dadurch auch gegen die Freiheit zu richten".

Allerdings:

"So erschreckend diese Perspektiven auch sein mögen, wir müssen uns vor dem Defaitismus hüten, das heisst, wir haben nicht das Recht, uns in der Gewissheit des Schlimmsten einzurichten, wir haben sie als Gewissheit zu leugnen."

 

Welcher Wirklichkeit entgegen?

 

Das bedeutet wiederum nicht, dass Gebser die "Krise unserer Weltsituation" und das Drohen "einer von Tag zu Tag grösser und offensichtlicher werdenden Gefahr" nicht sähe. Aber für ihn ist die neue, reichere Wirklichkeit, dank des Durchbruchs des integralen, zeitfreien Bewusstseins "auf allen Gebieten sowohl bei uns als auch in Asien" schon sichtbar.

"Dafür habe ich in meinen Veröffentlichungen umfassendes Beweismaterial zusammengetragen. Wie alles Neuartige wirkt es zuerst äusserst befremdend - ist aber zugleich eine konsequente Ausgestaltung unserer bisherigen Bewusstseinsmöglichkeiten: ist ein geistiges Geschehen, das schmerzhaft ist, und das, so es bewusst nachvollzogen wird, die Gewähr in sich trägt, dass wir und die Welt und die Menschheit einer neuen Wirklichkeit positiver Art entgegengehen" (67-68).

 

Bei Marcel heisst es verklausulierter:

"Ich glaube, dass jeder von uns diesseits des Glaubens, der ausser Frage steht, gleichsam eingeladen ist, den Spuren einer Welt wieder zu folgen, die die unsrige im übrigen nicht überlagert, die zweifellos diese Welt selbst ist, aber in einer Vielfalt von Dimensionen, auf die wir gewöhnlich kaum achten ...

Aus dieser Perspektive … könnte es sein, dass in diesem unserem Zeitalter der absoluten Unsicherheit die wahre Weisheit darin besteht, sich vorsichtig, aber in einer Art glücklichen Erschauerns auf jene Wege zu wagen, die vielleicht nicht aus der Zeit, wohl aber aus unserer Zeit führen" (251).

 

Diese wenigen Bemerkungen und Zitate mögen die Grundpositionen der beiden Denker umreissen. Um sie zu wissen, erleichtert die Lektüre ihrer Aufsätze, die zwar in schlichter Sprache abgefasst sind, an den Leser aber dennoch grosse Anforderungen stellen. Gewiss gibt Marcels Sammlung ein Bild seines "gesamten Werkes; es ist in diesem Sinne homolog", und gewiss erscheint in Gebsers "letzter Gabe“, wie Wilhelm J. Revers im kurzen Nachwort schreibt, "kaleidoskopisch" sein "Weg als Denker und als Mensch", doch "Einführungen" in beider ungemein reichhaltige Lebenswerke sind es nicht.

Es handelt sich eher um Aufsätze zur Bestätigung oder Erinnerung für Kenner - eloquent gewunden und meist abrupt abbrechend, aber den Leser direkt ansprechend bei Marcel, nüchtern, distanziert und ungeschliffen bei Gebser.

 

Erschienen unter dem Titel „Die Bedrohung des Menschen in der heutigen Zeit“ im Tages-Anzeiger, 25. Oktober 1974

 


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