Home Erinnnerungen an die Zukunft II

 

Jean Gebser: Der unsichtbare Ursprung. Walter-Verlag, Olten 1970.

 

 

 

Wie Nietzsche im August 1881 unweit Surlei, so hatte Jean Gebser - 1905 in Posen geboren, viel gereist und Professor für Vergleichende Kulturlehre an der Universität Salzburg – im Winter 1932/33 seine "blitzartige Eingebung" und zwar des Konzepts "von der Herausbildung eines neuen Bewusstseins" in uns, was er seit seiner Wohnsitznahme in der Schweiz, 1939, darzustellen versuchte. "Ursprung und Gegenwart", zwei Bände von zusammen über tausend Seiten (1949/53), waren das ausgereifte Resultat seiner Überlegungen und Forschungen. Sie gehören zum bleibenden Bestand kulturhistorischen Wissensgutes, sind fundiert und umfassend, überzeugend und ungemein anregend.

 

Prädestination - alt oder neu?

 

Nun geschah Gebser, was vielen geschah, die einst den (begeisternden) grossen Entwurf erleben durften: er wurde zum Epigonen und später Propagandisten seiner selbst. Sein neuester "Traktat", ein schnell aufgeblasener Vortrag, ist hiefür ein Paradebeispiel. Mut braucht es, diese Selbstzitate als "mutig" (laut Klappentext) und "neuartig" hinzustellen.

Trotz Kürze unsäglich gewunden, voller Pauschalurteile und denkerisch, respektive sprachlich sehr unsauber - sowie mit typographischen Eigenwilligkeiten - geht es um die "Evolution als Nachvollzug" des Vorentscheides, der vorgegebenen Reifungsmöglichkeit, denn Evolution ist "im Unsichtbaren vorentschieden". Sichtbares hat hiesigen, materiellen, Verstandes- und Beweisbarkeits-, das Unsichtbare hingegen "Evidenzcharakter".

 

E-vident, transparent, diaphan? Gesichert "durch die Vorurteilslosigkeit des common sense"?

 

Zur Erhärtung seiner These bringt Gebser Schlüsselsätze, Aussagen einiger Wissenschafter und Künstler (Heisenberg, Picasso, T. S. Eliot, Sri Aurobindo), die "sich auf die Raum-Zeitlosigkeit all dessen beziehen, was vor dem ersten Tage war", das heisst "vor dem Anfang der Welt, der Erde".

Vor aller Zeit ist der unsichtbare Ursprung, worin alles in Gleichzeitigkeit - "zugleich" - komplex konstelliert wurde. Dem unser mental-rationales Bewusstsein ablösenden intensivierten, aperspektivischen und arationalen integralen wird er als Zukunft in der Gegenwart erinnerbar und wahrnehmbar (auf dem Titelblatt: sichtbar). Was enthält er? Alles oder nur Strukturen? Was hat die Evolution zum Thema; was evolviert?

 

Es ist ausserordentlich - das sei betont - schade, dass dieser bemerkenswerte Ansatz wirr und in einem etwas philosophisch aufgemöbelten, schlechten Deutsch anscheinend auf eine breite Leserschaft spekuliert.

 

erschienen in den Basler Nachrichten, 8. Oktober 1970

 


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