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Karl Jaspers: Provokationen - Gespräche und Interviews. Herausgegeben von Hans Saner. Piper-Verlag, München 1969; auch Buchklub Exlibris, Zürich 1969.

 

rot = weggefallen bei der redaktionellen Bearbeitung

 

siehe auch:

Innerliche und äusserliche Verwandlungen seit 1939

Karl Jaspers – aus Distanz gesehen

 

 

 

Lieber hätte der Rezensent seiner Besprechung den Titel «Gespräche mit Karl Jaspers» gegeben. Doch unter den dreizehn Radio-, Fernseh- und Zeitungsinterviews aus den letzten neun Jahren ist nur ein einziges ein richtiges Gespräch. Deshalb trägt das Buch auch den Untertitel „Gespräche und Interviews“ (wobei allerdings die Kennzeichnung in den jeweiligen Titeln als Gespräch oder Interview nicht überzeugt). Ob es «Provokationen» sind, bleibe dahingestellt. Auf jeden Fall geben diese Aufzeichnungen - vom Tonband abgetippt und etwa zur Hälfte bisher ungedruckt - einen ausgezeichneten Einblick in Jaspers' Denkensart.

 

Ein breites Spektrum von Fragen und Antworten eröffnet sich von grosser Dichte und Tiefe. Nicht nur infolge der schriftlich fixierten, mündlichen Ausdrucksform also ist dieses Buch schwer zu lesen, sondern weil Jaspers' Ausführungen in äusserster Konzentration auf das Wesentliche gerichtet sind und er hier, man darf es sagen, aus der Fülle seines reichen Denkens und Lebens schöpft.

 

Die weitgespannte Thematik lässt sich in zwei Bereiche gliedern: die Beziehung Philosophie-Wissenschaft und diejenige von Philosophie zu Politik und politischem Geschehen. Nicht allein um die Bundesrepublik Deutschland, ihre Gegenwart, ihre nationalsozialistische Vergangenheit und die Judenfrage geht es, sondern ebensosehr um die Welt und den Menschen in der heutigen Welt.

 

Was leistet die Philosophie?

 

Gleich zu Beginn wird die brennende Frage an Jaspers herangetragen: Was kann die Philosophie heute (noch) leisten, wie stellt sie sich zu den heutigen Ereignissen im politischen und wissenschaftlichen Leben, wie steht sie zu den vergangenen; ist die Philosophie etwa am Ende, hat sie noch eine Zukunft?

 

Es ist hier nicht der Ort, auf Einzelheiten, so bedeutsam sie sind, einzugehen, noch eine Zusammenfassung zu geben, doch können aus dem enormen Reichtum der Jasperschen Gedanken einige herausgehoben werden.

Ein grundsätzlicher und mehrfach formulierter ist dieser: Philosophie selbst ist nicht definierbar, höchstens äusserlich (170). «Philosophieren ist das, was in jedem Menschen geschieht. Der Philosoph von Beruf kann das nur zu grösserer Klarheit bringen» (176).

 

Der Mensch ist ein philosophierendes Wesen: «Der Mensch als Mensch philosophiert» (189). Das Philosophieren halte ich für die Sache eines jeden Menschen. In der Tat philosophiert auch jeder, ohne dass er sich dessen bewusst ist, ohne es selber Philosophie zu nennen ... Wir Philosophieprofessoren nun, die die Philosophie als lehrbar zum Berufe machen, haben die Aufgabe, die Gedanken der grossen Philosophen zu überliefern, die Erscheinung dieser grossen Persönlichkeiten nicht der Vergessenheit verfallen zu lassen, die Jugend dorthin zu führen, dass sie sieht, was da war und geschehen ist ...

Und so wie die Philosophie über das Philosophieren zur Erscheinung kommt in der Lebenspraxis des einzelnen Menschen und nicht nur im geredeten Satz, so kommt sie auch zur Erscheinung in der Politik. Darum ist zu verwerfen, dass man sagt, Politik sei ein Bereich für sich, habe an sich mit der Philosophie nichts zu tun ... Beide ergreifen den ganzen Menschen. Beide beteiligen sich, wenn es ihnen Ernst ist, an dem Gesamtgeschick des Menschen In unserer Welt. Wo die Beteiligung nicht ist, da ist auch keine Politik» (186-187).

 

Politik und Philosophie

 

Es kommt also darauf an, «dass Philosophie in jedem Augenblick praktisch wirklich gegenwärtig sein muss ... es gehört zu uns als Menschen, dass wir im Philosophieren unsere letzte Selbstvergewisserung jederzeit und jeden Augenblick finden möchten» (32).

Noch genauer: Philosophieren «im philosophischen Glauben bedeutet die Helligkeit unserer existentiellen Entschlüsse und ihrer Verwirklichung, bedeutet, dass wir je in unserer Situation als einzelne, unvertretbare Existenzen wirklich werden können mit Hilfe des philosophischen Denkens ... Ich drücke das im Gleichnis so aus: Philosophie ist nur dann im Aufschwung, wenn die zwei Flügel schlagen, das, was gedacht wird als Inhalt und Gedankenbewegung, und das, was wirklich ist im inneren Handeln und im Tun und Verwirklichen aus den Entschlüssen» (25).

 

Das ist also die Verbindung von Theorie und Praxis oder das Tun und das Darüberreden. Entscheidend hierbei ist, zu wissen, was man will, wofür man leben will; das ist die Existenzerhellung und Bewusstseinsintensivierung in ständiger kritischer Selbstreflexion und Meditation. Darum gilt: Philosophie kann man nicht - etwa als «neue» - fordern, sondern man muss sie leben, sie ist immer eine gegenwärtige (44). Deshalb ist sie auch nie am Ende.

Ihre Aufgabe ist einerseits, «die Wirklichkeit im Ursprung zu erblicken und sie durch die Weise, wie ich denkend mit mir selbst umgehe, im inneren Handeln zu ergreifen» (39). Anderseits ist in der heutigen Situation eine Umkehr erforderlich: «Umkehr ist immer ein radikaler Akt eines einzelnen Menschen, der aus der Freiheit kommt ... Wenn man nun von Umkehr spricht in der Politik, so ist das etwas, was in der Öffentlichkeit zur Auswirkung kommt auf Grund dessen, was in vielen Einzelnen geschehen ist» (191).

 

Die Umkehr steht im Bereich der Einheit der Wandlung. «Was dieses ‚Eine’ ist, ist positiv nur unbestimmt zu sagen: die Umkehr, die Rückkehr zum Ursprung, der Ernst der Existenz, die Offenheit für Transzendenz» (83). Geschieht dies im Vertrauen und werde ich mir darin der Freiheit bewusst, handle aus ihr, so werde ich mir in ihr geschenkt (65).

 

Philosophie und Theologie haben es beide mit dem Ursprung zu tun, Politik nicht. Dennoch: «Eine Politik, die Stiftung von Dauer sein will, ist gebunden an die Wahrheit, die Würde des Menschen» (193). Jaspers nimmt hiefür das Nietzschewort auf «’Die Wahrheit beginnt zu zweien.’ Da ist die Kommunikation so entscheidend, dass meine Philosophie den Satz zugrundelegt: ‚Wahrheit ist, was uns verbindet'. Die Kommunikation ist der Ort der Wahrheit» (82).

 

Deshalb erhebt er immer wieder die Forderung, wir sollten miteinander reden (188), sei es im kleinsten Kreis, innerhalb der Bundesrepublik zum Aufbau, zur Neugründung einer - bisher verpassten - echten Demokratie, sei es mit der DDR, mit Russland, mit den Kommunisten.

In der Kommunikation wird «der Mensch des Menschen selber ansichtig und seiner selbst bewusst» (125). Daraus nur kann im politischen und gesellschaftlichen Geschehen Freiheit und Friede werden. «Aus der Geschichte aber, die wir selber seit 1900 erlebt haben, lernen wir vor allem eines: Das eigentliche Unheil ist die Unwahrhaftigkeit, gegen sich selber, gegenüber den anderen, gegenüber der Wirklichkeit. Die Unwahrhaftigkeit steigert in Gegenseitigkeit die Illusionen» (163).

 

Einzelprobleme

 

Das sind nur einige wenige der allerwichtigsten Zitate. In einigen Stichworten seien noch ein paar Einzelprobleme gestreift:

Der Unterschied zwischen Philosophie und Wissenschaft besteht darin, dass erstere keine endgültigen, gewissen Antworten oder Lösungen gibt, sondern aus der einzelnen Persönlichkeit und dem Ursprung heraus gewissermassen in der Schwebe und in Unruhe bleibt, wohingegen letztere methodisch (mathematisch-logisch) und partikular ist und allgemeingültige (universale) Erkenntnisse weltweit verbreitet.

Philosophisch ist nun nicht etwa das Nachdenken z. B. eines Physikers oder Soziologen über die Methoden und Voraussetzungen seiner Wissenschaft, sondern eine philosophische Frage ist: Warum treibe ich Wissenschaft? Das Bewusstsein, Wissenschaft habe einen Sinn und beruhe auf dem grenzenlosen Wissenwollen, «ist ein philosophisches Motiv. Die Wissenschaft kann niemals selber begründen, warum sie da sein will» (15) oder soll (34).

 

Das fundierteste, härteste, aber auch am schwersten verständliche und längste, «richtige» Gespräch ist dasjenige mit dem Theologen Heinz Zahrnt über die Thematik von Jaspers' Buch «Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung». Hier stehen die «Chiffren» im Mittelpunkt, und erschütternd ist die beidseitige Aufrichtigkeit des Eingeständnisses des Nicht-Verstehens, das aber nur ein vorläufiges sein darf.

 

Zu Fragen des Tages

 

Drei weitere Interviews befassen sich mit Eichmann und der Judenfrage. Jaspers unterscheidet mit Hannah Arendt Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Kriegsverbrechen) von solchen gegen die Menschheit (Völkermord, «Verwaltungsmassenmord»). Er sieht hier für den Staat Israel eine nicht genutzte Chance, Eichmann als Hanswurst und kümmerliche Verkörperung der «Banalität des Bösen» einer Instanz der Menschheit, beispielsweise der Uno, zu überantworten, womit zumindest eine heilsame Unruhe (107) gestiftet worden wäre. Das Problem liegt für ihn weniger in der Rechtsprechung als im Kampf der Gesinnung gegen die blosse Meinung.

 

Ebenso basieren die letzten fünf Interviews auf der Überzeugung, dass der Nazistaat ein Verbrecherstaat war und deshalb 1945 ein radikaler, demokratischer Neubeginn im Vertrauen zum Volk - und nicht zu den von den Alliierten wiedereingesetzten Politikern und alten Parteien - nötig gewesen wäre.

Vor der Parlamentsdebatte über die Verjährung der NS-Verbrechen (März 1965) hoffte Jaspers - egal wie das Ergebnis gewesen wäre - noch auf «Deutschland als geistig-sittliche Kraft» (141). Das letzte Interview in diesem Buch - genau drei Jahre später - schliesst jedoch mit den Sätzen: «Ich bin besorgt und warte noch auf die Umkehr ... So sehe ich pessimistisch in die Zukunft deutscher Politik» (218).

 

Jaspers' Stellung zur Wiedervereinigung ist bekannt. Ihre Forderung hält er für irreal: «Die Wiedervereinigung ist sozusagen die Folge dessen, dass ich das, was geschehen ist, nicht anerkennen will» (173). (Unterdessen wirbt die FDP mit ganzseitigen Inseraten: «Schluss mit dem Alleinvertretungszopf.»)

Desgleichen richtet sich Jaspers mit einer Mahnung an die Studenten (und Arbeiter, Angestellten); er ist skeptisch: «Durch das Mitspracherecht allein wird sich vielleicht nichts ändern. Vor dem Griff nach institutionellen Ordnungen müsste die Wirklichkeit des geistigen Vermögens in Erscheinung treten. Wenn dieses fehlt, ist der Anspruch nur Ausdruck eines Machtwillens» (216).

 

Diese Sammlung von Interviews mit Karl Jaspers - als Partner u. a. W. Hochkeppel, F. Bondy, Th. Koch, Peter Wyss, R. Augstein, K. Harpprecht, A. Eichholz, F. R. Allemann (der Buchumschlag gibt leider nicht alle an) - wurde wenige Monate vor seinem Tod fertiggestellt. Es ist ein Trost, im Lesen seiner engagierten Klarstellungen und Aufrufe seine Stimme innerlich noch einmal hören zu können.

 

Erschienen in den Basler Nachrichten, 7. Mai 1969

 



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