HomeZu Ludwig Klages (1872-1956):

                    Die Entwicklung seiner Ideen und Werke

 

Verschiedene Zusammenstellungen im Herbst 1972, leicht ergänzt 1977,

neu versehen mit Zwischentiteln

 

 

Literatur

 

ZA                  Ludwig Klages: Zur Ausdruckslehre und Charakterkunde. Gesammelte Abhandlungen. Heidelberg: Kampmann 1927 (21 Abhandlungen aus der Zeit von 1897-1927).

RR                  Ludwig Klages: Rhythmen und Runen. Nachlass 1889-1915, herausgegeben von ihm selbst. Leipzig: Barth 1944.

Schröder       Hans Egger Schröder: Ludwig Klages. Die Geschichte seines Lebens. Erster Teil: Die Jugend. Bonn: Bouvier 1966, 1-398.
Zweiter Teil: Das Werk. Erster Halbband (1905-1920). Bonn: Bouvier Verlag Herbert Grundmann 1972, 399-920.

Bibl.                Hans Kasdorff: Ludwig Klages. Werk und Wirkung. Einführung und kommentierte Bibliographie. Bonn: Bouvier 1969.

Kasdorff         Hans Kasdorff: Zu den ersten Veröffentlichungen von Klages. Zeitschrift für Menschenkunde, 33, 1969, Heft 4, 169-191 (= 1969b).

 

Vgl. auch

Roderich Huch: Alfred Schuler, Ludwig Klages und Stefan George. Erinnerungen an Kreise und Krisen der Jahrhundertwende in München-Schwabing [kurz vor seinem Tod 1943/44 aufgezeichnet]. Privatdruck Magdeburg 1950;
Amsterdam: Castrum Peregrini Press 1972; 2. Aufl. 1973.

Georg Peter Landmann: Der George-Kreis. Eine Auswahl aus seinen Schriften.
2., um einen Text von Ludwig Klages und ein Nachwort des Herausgebers erweiterte Auflage. Stuttgart  Klett-Cotta 1980.

Hans Kasdorff: Zu den Dichtungen von Ludwig Klages. Zeitschrift für Menschenkunde 53, 1989, 113-118.

Richard Faber: Männerrunde mit Gräfin. Die "Kosmiker" Derleth, George, Klages, Schuler, Wolfskehl und Franziska zu Reventlow. Mit einem Nachdruck des "Schwabinger Beobachters". Frankfurt am Main: Lang 1994.

Michael Pauen: Dithyrambiker des Untergangs. Gnostizismus in Ästhetik und Philosophie der Moderne. Berlin: Akademie Verlag 1994, 135ff., bes. 187-189.

Michael Pauen: Einheit und Ausgrenzung. Antisemitischer Neopaganismus bei Ludwig Klages und Alfred Schuler. In Renate Heuer, Ralph-Rainer Wuthenow: Konfrontation und Koexistenz. Zur Geschichte des deutschen Judentums. Frankfurt New York 1996, 242-269.

Heinz-Peter Preusser: Ein Neuromantiker als Ästhetizist? Über den Dichter Ludwig Klages. In Bettina Gruber, Gerhard Plumpe (Hrsg.): Romantik und Ästhetizismus. Festschrift für Paul Gerhard Klussmann. Würzburg: Königshausen und Neumann 1999, 125-163.

Heinz-Peter Preusser: Antisemiten aus Kalkül? Über Alfred Schuler, Ludwig Klages und die Instrumentalisierung des rassistischen Ressentiments im Nationalsozialismus. In Walter Delabar, Horst Denkler, Erhard Schütz (Hrsg.): Spielräume des einzelnen. Deutsche Literatur in der Weimarer Republik und im Dritten Reich. Berlin: Weidler 1999, 121-136.
Auch in: Juni 30/31, 1999, 121-136.

Heinz-Siegfried Strelow: "Ich gehöre unter den dunstbedeckten Himmel des Nordens." Die hannoversche Jugendzeit von Ludwig Klages 1872-1893. In Michael Grossheim (Hrsg.): Perspektiven der Lebensphilosophie. Zum125. Geburtstag von Ludwig Klages. Bonn: Bouvier 1999, 203-215.

Heinz-Peter Preusser: Antisemitismus oder Antijudaismus? Alfred Schuler, Ludwig Klages und das Ressentiment im Aufbau einer heidnischen Metaphysik. In: Baal Müller (Hrsg.): Alfred Schuler, der letzte Römer. Neue Beiträge zur Münchner Kosmik. Castrum Peregrini Presse 2000.

Elke-Vera Kotowski: Feindliche Dioskuren. Theodor Lessing und Ludwig Klages. Das Scheitern einer Jugendfreundschaft (1885-1899). Diss. Univ. Potsdam 2000; Berlin: Jüdische Verlags-Anstalt 2000.

Elke-Vera Kotowski: Verkünder eines 'heidnischen' Antisemitismus. Die Kosmiker Ludwig Klages und Alfred Schuler. In Gert Mattenklott, Michael Philipp, Julius H. Schoeps (Hrsg.): "Verkannte brüder"? Stefan George und das deutsch-jüdische Bürgertum zwischen Jahrhundertwende und Emigration. Hildesheim 2001, 201-218.

Stefan Breuer: Rezension von Elke-Vera Kotowski: Feindliche Dioskuren. Theodor Lessing und Ludwig Klages, das Scheitern einer Jugendfreundschaft (1885-1899), 2000. Hestia 2000/01, 2002, 167-169.

Robert Edward Norton: Secret Germany. Stefan George and His Circle. Cornell University Press 2002.

Paul Bishop: Ludwig Klages's Early Reception of Friedrich Nietzsche. Oxford German Studies, 31, 2002, 129-160.

 

 

Inhalt

Teil 1: 1888-1890: Gedichte und Dichtungen des Sechzehn- bis Achtzehnjährigen

Teil 2: 1872-1903: Weitere wichtige Motive beim jungen Klages

Teil 3: Um 1900 festigte Klages seine Weltanschauung

Teil 4: Ab 1897: Graphologie und Charakterkunde

Teil 5: Ab 1898: Charakterkunde

Teil 6: Ab 1901: Ausdruckskunde im Rahmen von Graphologie und Charakterkunde

Teil 7: Ab 1906: Weiterentwicklung der Philosophie

Teil 8: Zusammenfassung: Ständige Revisionen seiner grossen Werke

Teil 9: Wenig umfassende Sekundärliteratur (1920-1971)

 

 

 

Teil 1: 1888-1890: Gedichte und Dichtungen des Sechzehn- bis Achtzehnjährigen

 

Bereits die Gedichte des 16jährigen Klages lassen wichtige, immer wiederkehrende Motive erkennen: Er möchte auf Wolken "dem Sonnenball, der Purpurglut, dem fernen West entgegen" getragen werden. Dann identifiziert er sich mit dem Sturmgott, der mit seiner wilden Gnomenschar im Frühling dem lichtgewobenen und sein Sonnenschwert schwingenden Frô hilft, die Göttin der Fruchtbarkeit aus der Eisburg zu befreien, im Herbst jedoch zu "morden" unternimmt, was er vorher keimen und reifen liess:

 

Schön ist's lang genug gewesen -

Habt euch oft genug ergetzt!

Und was schön ist, muss verwesen!

Und was Frucht trieb, wird zerfetzt!

 

Scheltet nicht! Dem Gott des Lichtes

Folgte ich, ein Freund einst, nach,

Da mit Flammen des Gerichtes

Er der Göttin Kerker brach.

 

Doch das Glück hat seine Wende.

Auch dem Lichtgott seine Zeit!

Meiner hat sich bis zum Ende

Steter Wonne je erfreut!

 

Auch der Lichtgott musste stürzen!

Kampf - die Losung dieser Welt.

Soll der Ruhm das Leben würzen,

Sinkt im Streite auch der Held.

 

Auf zum Kampfe: heisst mein Name.

Das Verjüngte nur besteht.

Neue Knospen, frischer Same

Hütet, dass die Welt vergeht!

 

Eine Art Kombination der ersten beiden Gedichte stellt das dritte dar: Zwei Geister oder Götter treten zur Zeit des Sonnenuntergangs vor Klages auf: Der eine, der "schwarze Dämon", spricht: "Ihr werdet geboren, Bald zu verwesen ... Ein dumpfes Entstehen - Ein schnelles Vermodern - Ziellos gezwungen Von starrer Gewalt - So wogen die Welten Ohn' Anfang und Ende, Sinnlos vertauschend Form und Gestalt!"

 

Vom andern Geist stammt das "Götterwort": "Im Herzen zu hoffen, Dass schliesslich geschlagen Der Teufel, der Tod Und das Werk dann vollbracht - Das ist der Glaube, Der aus Stein und aus Staube Des Lebens liebliche Blüte entfacht ... Des ewigen Willens Gezogene Zirkel Rollt zerrissen Das Weltenall."

 

Der Kampf zwischen entgegengesetzten Mächten

 

Der Kampf zwischen entgegengesetzten Mächten ist für Klages Motor der Welt: Das unaufhörliche Wechselspiel von Glut und Eis, Feuerflamme und Nebeldunst, Keimen und Welken, Blüte und Fäulnis, Alt und Neu, Sieg und Niederlage verhindert den Stillstand der Welt. Es sind gewaltige Kräfte, die im heldenhaften Streit die Welt bewegen - "dem Philistergeist zum Hohn!".

 

"Nicht liebt man die Götter, sie werden verehrt!" erkennt im nächsten Gedicht Wieland, der seine Geliebte Allwis dem Sturmgott zurückgeben muss, dem "Gott, der nach Taten lechzt: Der schrecklich zerstört, was der Frühling geschaffen". Vergeblich hat er gefleht: "Oh lass die Götter, oh bleibe mein! Als Götter stärker soll Liebe sein!"

Er gibt Allwis frei: "So fahr denn hinaus In die Nacht, in die Wälder, in Nebel und Graus!"

 

Die nächsten drei Jahre "bringen die dichterische Ausbeute aus einem Zeitraum der Fülle", wie Klages 1943 im Vorwort zu seinem Nachlass schreibt (RR, 10). Sie macht, zusammen mit den ersten fünf Gedichten, auf beinahe 250 Seiten nahezu die Hälfte der "Rhythmen und Runen" aus.

In der Einleitung von 1915 hat er diese "sangesvolle Schwermut der Jugendjahre" ausführlich gekennzeichnet (RR, 15f). Er stand damals ganz "in der geistigen Haft" des Stabreimdichters Wilhelm Jordan, dessen Werk er als Fünfzehnjähriger kennengelernt hatte. "In hymnischen Gesängen von elementarer Klanggewalt" goss Klages bis 1892 die innere Fülle aus, "voll verwehter Stimmen aus Horizonten der Vorwelt".

 

Jahreszeiten

 

Das Motiv des fünften und letzten Gedichts von 1889 wird im ersten von 1890 wieder aufgenommen: "Weihnachten". Es ist die trübe, aber ambivalente Zeit zwischen Herbst und Frühling. Einerseits träumt die im Frost erstarrte Landschaft von der Vergangenheit, "von rosenreichen, duftgeschwellten Landen", anderseits gelten die angezündeten Lichter am grünen Weihnachtsbaum dem Lenz:

"Wohl hielt mit Eis in Zauberbann der Tod die Welt gefangen;

Doch durch die Nacht drang strahlender des Lebens heisses Prangen.

'Das kündet', rief ich jubelnd aus, 'der Zukunft neu Erwachen!'"

 

"Frühlingswolkenlied" und "Maiwind" schliessen sich folgerichtig an. Die Wolken: "Singend ziehen wir, Jubelnd ins Land ... Tragen die Ströme Fruchtenden Regens, Lieblichen Segens Bergend im Schoss ... Streuen den Samen, Wecken die Keime, Bringen den Frühling Der Liebe euch her."

 

Mit diesen stürmenden Wolken möchte Klages im Maiwind ziehen:

 

"Weit hinter dem Meer da winkt mir ein Strand

Auf einem anderen Sterne!

Da weiss ich in schimmernder Pracht ein Land

Da schlingt die Liebe das ewige Band -

Es lockt aus schwindelnder Ferne.

 

Da atmen die Täler Seligkeit -

Da murmeln weissagende Quellen -

Das göttliche Reich der Vergangenheit!"

 

Die letzten zwei Verszeilen präzisieren das Ziel des Sehnsuchtdranges. Es wird im "Sonnenritt" wieder aufgenommen: "Jenseits von euch, verrinnende Wogen - jenseits von euch, entfesselte Wolken - fern, fern im Sonnenreiche des Westens ruht heilig und rein wie der lebensspendende Gral ... das unentsiegelte Geheimnis meiner Träume."

 

Doch das Verlangen des Herzens ist nicht stillbar. Wie jeder Tag seinen Abend hat, so folgen auf Frühling und Sommer Herbst und Winter: Das Licht des Tages erlöscht; die herbstlichen Stürme und Nebelreigen machen den Reisenden frösteln. Die Zeit verrinnt, enteilt ...

 

Vergeltung, Maschine, Tod

 

Weitere Motive sind: "Vergeltung" für Baumfrevel, die Maschine sowie der Tod.

 

"Du bist Natur wie jenes Bäumchen dort,

Das frühlingsfreudig junge Schösse treibt.

Zerstörst du es, begehst du einen Mord;

Denn Mörder ist, wer fällt, was lebt und leibt!

 

Der Gottesodem, der die Welt durchglüht,

Schlief auch im Keim, der diesen Baum gezeugt.

Was dir als Feuer aus den Augen sprüht,

Ist das, was hier als Knospe schiesst und steigt."

 

Für die Maschine steht der Eisenbahnzug, der "brausend durch die Nacht hin stampft": "Über grenzenlos weite Verfinsterte Steppen, Durch Moor und Heide Rast die Maschine. Einen Willenlosen Schleppt sie mit sich. - Weiter, nur weiter, Wagen des Schicksals! ... Vorbei mag alles Ein Schemen schwanken, Bis du entgleisend Zum Abgrund hinabstürzst Oder am kantigen Felsen zerklirrst:"

 

Das Todesmotiv, schon bei der "Vergeltung" vorherrschend - verlangt doch die Sühne, dass dem Frevler auch seine Stunde schlage und er im Holzsarg zu Grabe getragen werde - verdichtet sich auch im "Begräbnis" (Vgl. Schröder, 21, RR, 42f) zur Untergangsschau. "Mit wimmernden Drommeten naht ein Chor vermummter Träger ... Fahl glänzt der Sarg. Um Palmenreiser windet aus welkem Laub der Sturmwind die Girlande."

 

"Verloschen ist die Spur, die du getreten. -

Wir alle treiben fort im grossen Strome.

Einst schlägt die Stunde diesem Erdplaneten,

Und blitzzerspalten stiebt er in Atome!

Und wo vereint die Hölle mit dem Himmel

Gewoge schuf von streitenden Gestalten,

Wo Fluch und Mord das tobende Gewimmel

Der Menschenbrut äonenlang erhalten -

Ruht Weltallsfrieden starr und schmerzentladen

Und düstert eisig klar der hohle Raum.

Doch hell wie ehmals schimmern die Plejaden -

Man weiss den Ort des toten Sternes kaum. - "

 

Schleppt der durch die Nacht donnernde Eisenbahnzug einen Willenlosen mit sich, so gehorchen umgekehrt die Sturmgeister dem Willen des Meisters. Hier verbirgt sich wohl mehr als nur ein Reim. Klages ist der Meister, der mit "tiefgeheimen Zauberzeichen" Gespenster zu bannen versucht:

"Was noch nie gedacht, gesprochen -

Leuchtet durch die Nebelfalte,

Wie ein Strahl, hervorgebrochen

Aus umglühter Wolkenspalte."

 

Jedoch:

"Noch zu rasch entfliehn die Bilder.

Noch zu stürmisch wogt die Glut

Meiner Seele".

 

"Der Sonnenritt"

 

31 Seiten zählt die Prosadichtung "Der Sonnenritt". Sie fasst alle bisher geschilderten Bilder zusammen und stellt sie unter das Märchenmotiv Dornröschen: Der Ritter auf dem feurigen Rappen jagt dem Traumbild einer Jungfrau nach.

 

In verwirrender Mischung von Traum und Wachen widerfahren ihm mystische Erlebnisse. Weiden am sumpfigen Teich "raunten einander mit wetterzähem Geäste Runen der Vorzeit zu". Schilfhalme "flüsterten ein uraltes Lied" und fordern ihn auf herniederzusteigen, "um zu versinken im Kelche der Allflut".

Dann wieder hebt ihn der Wind empor - "immer höher in sonnige Ferne über die Menschheit, und ich lächelte herab als ein Heros aus der Halle der Unsterblichen. Und noch höher flog ich empor ... Ich wähnte zurückgekehrt zu sein in eine ferne, unermesslich ferne Vergangenheit. Wiegte mich nicht in weichen Armen die Mutter?"

 

Später kommt er in eine grosse Stadt: "Welch neue Welt erschloss sich mir da. Funkelnde Karossen jagten vorüber - ... unter hohen Huttürmen stolzierten die Dämchen auf Stelzenhacken - Wucherjuden mit langen Bärten feilschten um Waren." Vor einer hohen gotischen Kirche "ragte ein Götzenbild und um diesen Götzen tanzte alt und jung in kreischender Prozession einen wahnwitzigen Cancan".

 

Diesem "goldenen Kalb" brachte man Menschenopfer dar ... "Mancher blieb zuckend im Staube vor Ahrimans hochragendem Opferaltar. Doch horch, da luden plötzlich die Glocken im Dome zur heiligen Frühmesse und - o Wunder - die Bekehrten legten mit süsslichem Lächeln die bluttriefenden Dolche aus den Händen, ordneten sich zum selbstgefälligen Büsserzuge und wallten himmelsgläubig gesenkten Hauptes durchs hohe Portal hinein in das Haus des einzig wahrhaftigen Gottes, wo sie der Andacht genossen und des Brotes und Weines und der Sündenvergebung. -

Voll Ekel und Abscheu stürzte ich davon. Da erbebte rings der Boden von gewaltigen Trommelwirbeln. Die breite Mittelstrasse herauf marschierten im Soldateskaschritt ein Trupp kurzbeiniger, blitzäugiger Männer, die mit wilder Wut ihre Pauken schlugen. Jeder trug eine rote Mütze mit der Aufschrift: Wir sind die Patrioten! Und zum Takt ihrer Trommeln sangen, nein, brüllten sie aus heiseren Kehlen:

 

Das Vaterland ist gar zu gut, gar zu gut, gar zu gut,

Und wir wollen Feindesblut - Fein - des - blut - !"

 

In dieser bitterbösen Art fährt der 17jährige Klages noch lange weiter. Motto: "Was stände nicht feil für Geld?" "Geld heisst der Lebenspuls der Dinge, Geld ist die Schlagader der Menschheit, Geld der Beweger des Alls ... Merkator heisst der Gott der Zukunft!"

 

Die Flucht aus diesem Sodom und Gomorrha bringt schon das nächste Abenteuer, den Kampf mit einem dämonischen Doppelgänger. Dann endlich "bohrte Helios seine Pfeile durch die Dunstwelt der Nebel ... Aus tausend kristallklaren Tropfen lugte glühend empfangen das blitzende Auge der Welt".

Schliesslich gelangt der Ritter ans Meer. "Müde senkten sich überwältigt von der rätselhaften Grösse der Natur wie zum Schlummer die Lider; zusammensank der Feuergigant, der unsterbliche Wille. Und ich schloss völlig die Augen, um tiefinnen widergespiegelt zu sehen das Gottheitsabbild ... Es löste sich von der Seele des Alls die leidige Schale des Ichs, verflutend im Hauche des Meeres".

Da erhebt sich ein heulender Sturm. Der Ritter sieht sich als Prometeussohn, der mit Menschenwitz und -wille die grünmähnigen Rosse Poseidons zu bändigen androht. Doch plötzlich tauchen nackte Nixen aus dem Schaum und schicken sich an, mit "Sirenentriller" den Sonnensohn zu verführen. Der Prahler, der die Meeresmächte verhöhnt hat, scheut zurück.

"'Feigling!' brüllte die Brandung und 'Feigling!' heulte der Sturm."

 

Nach diesem Traum, Gleichnis menschlicher Hybris, erwacht er; die Sonne versinkt "hinter dem Erdplan und nur der Himmel zeichnete sprühend den Pfad, den der Lichtgott gegangen war ... und ich öffnete den Mund, von innerer Gewalt getrieben, und sang in die schweigende Nacht den brausenden Sonnenhymnus:

 

Wann die Sonne nebeldunstumflossen

In die Flammenflut des Westens sinkt

Und die Erde glutenübergossen

Feuer aus dem Kelch des Himmels trinkt,

Zucken fiebernd ihre Bergeslehnen

Dem umlohten Firmament entgegen -

Das uralt titanenhafte Sehnen

will in ihrem Felsenleib sich regen.

Mächtig drängt der Allgeist durch die Poren

Des Planeten, seinen Sitz zu fliehn.

Denn aus Flammen ward die Welt geboren

Und in Flammen wird sie einst zersprühn."

 

Doch der in "Urnen" gefangenen Sonnenseele gelingt es nicht, sich ins Flammenmeer aufzuschwingen: "... der Funke muss gefesselt bleiben ... Tief im Felsenbusen eingebettet Schläft der Weltgeist seufzend wieder ein."

 

Dieser Sonnenhymnus war Klages so wichtig, dass er ihn zweimal in "Rhythmen und Runen" abdrucken liess (RR, 65f, 113f). Die zierschriftliche Abschrift von Herta von Larisch bildet eines der kostbarsten Stücke des Klages-Archivs.

 

Tief in der Dunkelheit gelangt der Ritter zu einem niedrigen Haus, bewohnt von einem Greis mit wallendem Bart, einer strahlenäugigen Matrone und einem reizenden Mädchen. Draussen erhebt sich Schneegestöber, drinnen prasselt das Kaminfeuer und ein Wasserkessel singt: "das sind die Allmachtsminuten im Sklavenleben des Menschen", die unsterblichen Gedanken flattern "über die unendlichen Gefilde der Erde ..., steigen hinauf in die Eisregionen der Monde - und höher zu glutkochenden Sonnen", durchmessen das All, "bis sie zerstieben hinter den letzten Nebelringen des Makrokosmos."

 

Der Greis liest aus einem umfangreichen Buch die siebzehnstrophige Geschichte eines Pilgerzuges, Sinnbild vergeblichen menschlichen Bemühens. Über winterliche Wüsten, durch die Rankenwildnis des Dschungels monatelang über Weltmeere im Zedernkahn und schliesslich jahrzehntelang "über Steppen, Heiden und Savannen, Gebirge, Ströme, durch die dunkle Pracht der Urwaldsriesen" kämpft sich die immer kleiner werdende Schar gen Westen, stets Mut schöpfend in der abendlichen Flammenflut. Endlich gelangen sie in eine "Stadt mit Wappen, Türmen, Schilden" - errichtet "von denen, die verzagt zurückgeblieben ... das war dieselbe Wüste, wo früher sie zum Tode sich gelegt".

 

Erneut taucht vor den träumenden Augen die Jungfrau auf. Er wirft sich auf seinen Rappen und rast im Schneesturm über die nächtliche Heide. Aus huschenden Nebeln hebt sich eine Burg. Darinnen tanzen jugendliche Paare. "Da sah man bunte Ritter mit nickenden Helmbüschen - in wallenden Talaren würdige Prälaten - Schelmengesichter unter Harlekinshüten - zarte Mädchen in Gretchengewändern, blitzäugig kokette, die den knospenden Busen in Rokokoroben bargen, und üppige Schönen in bäurischen Miedern."

 

Der Ritter mischt sich darunter, sieht seine angebetete Jungfrau, beginnt zu wachsen "und nun wähne ich, ein Riese der Vorzeit zu sein, und durch meine Adern rollt der glühende Urstoff, woraus alsbald ein neidischer Gott die Sonnen und Kometen giessen wird, und ich murmle vor mich hin:

 

Nieder nun brechen die lähmenden Fesseln

Und aus dem Moder reisst sich beflügelt

Mit Donnerlaut der allmächtige Geist!

Der Wille wird Tat nun; dem Wunsch wird Erfüllung -

Und es stürmt, Planeten und Sonnen verzehrend,

Ein Flammengott

Durch die tönenden Hallen des Makrokosmos,

Bis er die Weltmyriaden verschlungen -

Und nichts mehr ist als die öde, kalte,

Uranfängliche Nacht."

 

Der Ritter presst die Geliebte an die Brust - "ein Kuss glüht auf ihren schwellenden Lippen". Da ein Donnerschlag, und er versinkt durch den Ballsaal in bodenlose Schlünde. Erwacht, findet er sich bis an den Bauch im Morast stecken. Im Mond erscheint der sanfte Kopf des Mädchens. Der Ritter schreit einen grässlichen Fluch zu den Sternen empor: "Deshalb also, lüstern lockende Buhlerin, hast du mich gekirrt mit berechneten Reizen, um mich hinabzuschleudern in den erstickenden Sumpf?"

Weiter versinkend klagt er ermattet: "Ewige Sterne - Götterfernen zeigt ihr dem sehnenden Herzen ... Niemals alternd nach ewigen Ratschluss zieht ihr feurige Zirkel durch die Öde des Alls ... Wir aber ringen - und ringen vergebens und sterben. Zu modern sind wir verdammt im Boden der Erde, die uns gebar. Verglimmen muss der titanische Wille - die Tat ward den Göttern, verlangende Ohnmacht dem Menschen! Mich aber, der ich gegriffen nach deinem Gürtel, heiligbleiche Madonna, stürztest du hinab in verschlingende Gründe - und kalt lächelst du hernieder und fühllos!"

 

 

Teil 2: 1872-1903: Weitere wichtige Motive beim jungen Klages

 

Die Elemente

 

"Die Elemente begleiteten ihn durch seine Kindheit und Jugend; das Sturmesrauschen ...; die Magie des Wassers ...; der Glanz der Abendsonne ... Das sind die drei elementaren Mächte, die am stärksten auf ihn einwirkten; das Wasser aber ist das Wandlungsfähigste unter ihnen, das seinen Einfluss in immer neuen Formen übt ... Der Sturm ist das Grundelement, dem seine Seele angehört ... Die Melodie des Regens war ihm voller Geheimnisse. Tiefer als in ihr offenbaren die schaffenden Naturkräfte sich nicht ... Der Heranwachsende aber bleibt dem Geheimnis auf der Spur, wenn er sich [1902!] den Satz notiert: 'Im Schall des Regens ist die Hochzeit beider, des tellurischen und siderischen Elements' [RR, 265]" (Schröder, 9f, vgl. auch 71).

 

Mit fünf Jahren lernte er das Meer kennen. "In den Gedichten kehren die Bilder der See immer wieder, 'die Ferne, wo sich Wolken und Wogen dämmernd vermischen" (Schröder, 11 - RR, 167). Gibt es "eine Verwandtschaft der Menschenseele mit den Charakteren der Tageszeiten, so gehört die Klages-Seele der Abendstunde an. Immer wieder tönt durch die Gedichte der Sehnsuchtsruf: 'Zum fernen West! Zum fernen West!" (Schröder, 12 - RR, 25, ähnl. 45, 68ff). Sucht man eine Verwandtschaft mit einer Jahreszeit, so ist es der Winter (Schröder, 485-490, 506, 536 - vgl. RR, 512), die geographische Heimat der Norden (RR, 502).

 

Klages erlebte auch "entrückende Sturmfahrten der Seele", die er wohl zu unterscheiden wusste von Träumen und Phantasien (Schröder, 22-25, 31f; ein gegenteiliges Erlebnis: 67, 88 f, 395f). In einem langen Brief im 30. Lebensjahr an Franziska Reventlow (RR, 513-519) schildert er sich als schüchternen, folgsamen und klugen Knaben (eine Korrektur, vgl. Schröder, 466f), der jedoch oft, "wenn er fern von allen Menschen", auf Seelenausfahrten "über die keuchende Welt" sauste: "Beide Wesen, das menschliche und das dämonische, erstarkten, wuchsen und reiften in demselben Knaben, und sie wuchsen, ohne eines vom anderen zu wissen", schreibt Klages.

 

Auch durch Zauberei, Magie versuchte er "die immer wiederkehrende, aber kaum zu beschreibende Verwandlung" zu erleben. "Eine lebhafte Phantasie machte Ludwig zu einem Meister im Märchenerzählen" (Schröder, 37-39, vgl. auch 83). Sein ganzes Leben lang hat er denn auch heranwachsenden Kindern Märchen erzählt und Zauberkunststücke vorgeführt (Schröder, 447).

 

"Schüchternheit nach aussen und eine mystische Tiefe und Intensität des inneren Erlebens sind die Merkzeichen seiner Jünglingsjahre ... Klages lebte in einer Traumwelt, die über das Wachbewusstsein dominierte ... Klages liebte die Landschaft mehr als die Menschenwelt. Das Verhalten der Menschen zur Landschaft beunruhigte ihn; der Gegensatz von Stadt und Land begann ihn zu quälen ... Klages war erfüllt von Bildern der Vorzeit; ihn beherrschte das Erwachen von Urerinnerungen", so charakterisiert Schröder Klages im Gegensatz zur Ibsen-Jugend (Schröder, 80, 84). Ein reifer Niederschlag war "die merkwürdige mythologische Dichtung" (so Schröder, 83) "Der Sonnenritt" (1890 - RR, 46-76).

 

Gegensatz von Christentum und Heidentum

 

Mit fünfzehn Jahren empfing er unauslöschliche Eindrücke von Wilhelm Jordans Stabreimepos "Nibelunge" (Schröder, 45-47, 51, 54-59, 61, 70f, 235-237): "Der Nimbus alter Gottheiten teilte als Wirklichkeit sich ihm mit; die leuchtende Aura einer versunkenen Vorzeit hüllte ihn ein. In ihm wurde ein Stück schlummernder Vergangenheit geweckt und bestimmte von diesem Augenblick an seine Lebensbahn."

 

Seit seinem 13. oder 14. Lebensjahr hat er an einer Tragödie, "Desiderata", dem Untergang der Langobarden gewidmet, gearbeitet; dieses Thema, "das letzte tragische Aufflammen der abendländischen Götterwelt gegen den Eingott des Orients " (Schröder, 51 - RR, 109), hatte ihn über sechs Jahre in seinem Bann. Drei Fassungen entstanden, doch das Werk blieb Fragment (vgl. RR, 77-108, 137-149). In ihm klingt ebenfalls "das Thema an, dem künftig das Lebenswerk von Klages dient: im Spiel der menschlichen Charaktere die Wurzeln der Herrschsucht aufzuspüren und ihre unerkannten Wege, Ziele und Folgen aufzudecken" (Schröder, 49).

 

Diese beiden Motive, der psychologische "Gegensatz von egoistischen und gedanklichen Triebfedern" und. der religiös-metaphysische "Gegensatz von Christentum und Heidentum" (RR, 108f), tauchen also hier zum erstenmal auf. Er wurde im "Wettstreit des Dichtens" (Schröder, 53) mit dem Schulkameraden Theodor Lessing, der mit ihm die Jordan-Begeisterung teilte, weiter ausgetragen. (Die Freundschaft zerschlug sich 1899; später hat Lessing die Priorität für die meisten der Klagesschen Entdeckungen für sich in Anspruch genommen.)

 

Analytisches Denken

 

Wie sehr Klages "gespalten" war, zeigte sich wieder bei der Wahl seines Studienfaches: "Es lebten in ihm fast unverbunden zwei Naturen, die seelisch-rauschhafte, in magischem, mythischem und dichterischem Denken webend, und die dem dialektischen, mathematischen und physikalischen Denken zugeneigte geistige [vgl. RR (1891), 495]. Seltsamerweise schon zu Beginn des 18. Lebensjahres stellte er fest: die geistige bilde ein Hindernis der seelischen und es sei seine Aufgabe, die Formel zu finden, durch die sie für immer entmächtigt werde. Ja, das verdichtete sich ihm am Grabe seiner Mutter zum feierlichen Schwur. Für jetzt aber sagte er sich: um mein Ziel zu erreichen, muss ich mich nicht nur aus Büchern, sondern im Laboratorium aufs genaueste mit den seelefeindlichen Mächten vertraut machen; ich muss den Feind kennen, um ihn zu schlagen mit seinen eigenen Waffen; ich muss erproben, durch welche Art analytischen Denkens man zu der Behauptung gelangt ist, dass die Welt aus Atomen bestehe; folglich wähle ich auch aus inneren Gründen Chemie" (Schröder, 100).

 

Dennoch betrieb er - zum Praktiker wenig begabt - vorwiegend ein Bücherstudium - obwohl wiederum kein Stubenhocker -, weshalb er seine mühevolle Experimentalarbeit erst 1900 zum Abschluss bringen konnte.

Am meisten beeindruckten ihn die Schriften Eugen Dührings sowie Nietzsches kritische Schriften der mittleren Jahre.

 

Untergangsschau

 

Briefe an Lessing aus den ersten zwei Studiensemestern in Leipzig (1891/92) legen Zeugnis ab von seherischen und dichterischen Gedankenstürmen. "Im Februar 1892, in der sorglosen Zeitstimmung einer aufstiegsfrohen Epoche, findet sich in ihm plötzlich der Satz: 'Ich höre das donnerähnliche Brausen des Weltvernichtungssturmes über den Häuptern sorgloser Menschen.' [RR, 498]. Das ist der erste der kassandrischen Mahnrufe, die sich später durch sein ganzes Werk ziehen.

 

Die tragische Weltsicht steigert sich in den Leipziger Dichtungen zur Untergangsschau" (Schröder, 107, vgl. später 397f). Neben der vierten Fassung von "Desiderata" sind das vor allem die mehr als achthundert Verse von "Karthagos Fall" (1891 - RR, 193-213). Die Schreckensbilder des Kriegs, die er darin malt, sind dabei nicht solche der Vergangenheit, sagt Klages im Prolog, sondern damit sollen Gefahren einer "nahen Zukunft" gezeigt werden, "welche die gegenwärtige Menschheit bedrohen, die mehr denn je von der Triebfeder der Herrschsucht, des Grössenwahns und der Geldgier beherrscht wird. 'Die Gestalten sind unter uns' heisst es; und der verzweifelte Wunsch schliesst sich an: 'Dass wir sie wirken sehn, das mög', bei allen Göttern, nie geschehn!" (Schröder, 109 - RR, 195).

 

Zerrissenheit

 

Während eines Zwischensemesters in der Heimatstadt Hannover begann eine Zeit der Unrast: "Systeme stiegen auf gleich Kartenhäusern und brachen wie diese wieder zusammen" (Schröder, 115, ähnl, 450). Diese Zerrissenheit und Sehnsucht - "Das Ich steht dem All gegenüber" (Schröder, 142 - vgl. RR (1890) 59, (1891) 191, (1903) 423, (1911) 352, (1912) 356) - setzte sich auch nach der Übersiedlung nach München, 1893, fort, wo er zuerst Stefan George, den Psychiater Georg Meyer und den Lyriker und Bildhauer Hans Hinrich Busse, dann Alfred Schuler und später Karl Wolfskehl kennenlernte.

Während George Klages als Dichter bewunderte, blieb Klages von Georges poetischen Leistungen unbeeindruckt, dagegen schätzte er George als einen lebenserfahrenen, klug beratenden Freund.

 

Ab 1895/96 begann er sich mit Fragen der Wissenschaft auseinanderzusetzen (Schröder, 146-148), wandte sich aber gleichzeitig immer mehr der Psychologie (Theodor Lipps) und Philosophie zu: "Was ist das Geheimnis des Schaffenden, worauf beruht die Eigenart des schöpferischen, des bildnerischen Menschen? Das war für ihn jetzt die Kernfrage der Seelenkunde und der Anstoss zur Beschäftigung mit ihr" (Schröder, 150).

 

Da unterdessen feststand, dass er nie als Chemiker sein Brot verdienen könnte und wollte, schloss er sich Meyers und Busses Bemühungen um die Graphologie an, die ihm nicht nur ein Einkommen als Gutachter und bald auch als Referent verschaffte, sondern auch sich zum Aufbau und zur Fundierung einer Charakterkunde (Schröder, 167ff) abseits der von Klages gar nicht geschätzten Wundtschen Psychologie anbot.

 

Herkunft und Zukunft

 

Alfred Schuler brachte Klages nicht nur zum "Glauben an die Wirklichkeit der mythischen Mächte" (Schröder, 190 - RR, 18), sondern auch zur "Zukehr zu einer damals völlig neuartigen Bewertung des Blutes als der Substanz, die über das Gepräge des Seelenlebens entscheidet" (Schröder, 219).

Mit Wolfskehl, dem dritten Geistesverwandten, bildeten Schuler und Klages die "Kosmische Runde", deren Gespräche und vor allem Lektüre von J. J. Bachofens Schriften für das Werk von Klages von grösster Bedeutung sind(vgl. KE, 1922, 180f; W, 909). "Es ist längst vergessen, dass diese drei Männer die Kosmiker genannt wurden, weil sie das All-Leben über das Einzelleben stellten, dieses als von jenem abhängig erkannten und in kosmischen Relationen das Vorbild auch für die symbiotischen Verbände unter Menschen sahen" (Schröder, 223).

 

Die Bachofenlektüre vertiefte nicht nur Klages Verständnis für Schulers Visionen und Denkweise, sondern öffnete ihm "die Pforten ... zu den Symbolen und Mysterien des Altertums" und die Augen für "seherische Grössen aus dem vorsokratischen Schrifttum der Griechen - Nietzsche, den Bringer der Philosophie des Orgiastischen - ... die von schwärmenden Ahnungen flackernd erhellte Spätzeit jenes kurzen Traumerwachens der germanischen Seele, das man missverstehend Romantik nennt" (RR, 17, 18 - zit. Schröder, 237, 238).

 

Schröder bringt nach Auszügen von Bachofens Schriften (Schröder, 226-236) eine schöne, mit Zitaten angereicherte Schilderung dessen, was Klages fortan bewegte: das Thema Herkunft und Zukunft (Schröder, 238-242, auch 286-292), das den schicksalshaften Gegensatz von Heidentum und Stifterreligion, Dionysos-Jahwe genauer fasst. "So wenig Klages ... eine Wiederbelebung des alten Heidentums für möglich hielt, so lebhaft erstrebte er die Sammlung und Bewahrung heidnischer Lebensreste in der heutigen Menschheit als ein Gegengewicht gegen die Faszination durch den Zukunftsglauben der Fortschrittsgesinnung" Schröder, 242).

 

Eine innige Liebe vom Sommer 1899 bis Anfang 1903 (Schröder, 268-292, 299-323) zur Gräfin Franziska zu Reventlow stürzte ihn in ebenso tiefe wie quälende Leidenschaft; in ihr, der "heidnischen Heiligen" (zit. Schröder, 282), suchte er die Elementarseele. Alte Erinnerungen an die Jugend, durch Jahre "fruchtlosen Ringens" (zit. Schröder, 120ff - RR, 10ff) und der Düsterkeit überschattet, brachen wieder auf, bringen aber nicht Befreiung, sondern Wehmut und Trauer (z. B. Schröder, 283-291, 311-316).

 

 

Teil 3: Um 1900 festigte Klages seine Weltanschauung

 

1902-1903: erste Darstellungen der Weltanschauung

 

Erst 1903 - nachdem bereits 1899 neues Ufer in Sicht schien (Schröder, 365f, vgl. auch 323) - nahmen die "unglaublichen Lebensverwirrungen" (zit. Schröder, 308f) ein Ende: Die Sammlung auf "das Werk" konnte einsetzen; wobei der Forderung dieses Werks alle Freundschaften zum Opfer fielen.

Noch aber strebte dies nicht auf die wissenschaftliche Form hin. "Noch glaubte Klages, mantisches Wissen in ein Seherwerk bannen zu können, das ganz im Bereich des symbolischen Denkens beheimatet sein sollte" (Schröder, 327, ähnl. 398).Gemeint ist das Fragment "Hestia. Entwurf der Metaphysik des Heidentums" (vgl. RR, 373-413), das nach Klages' eigenen Worten "Bruchstücke der Weltanschauung des Verfassers" zur Darstellung bringt.

 

Abgesehen von einigen wenigen Zeitschriftenartikeln war der andere Versuch von Klages, seine Weltanschauung zur Darstellung zu bringen, das Buch über Stefan George (1902). Seine Gedanken seien vom Impuls geleitet gewesen, schreibt er in der Vorbemerkung, "die im bildnerischen Einzelwesen wirksamen allgemeinen Grundkräfte zu erfassen, durch die es zwar zum Tropfen grosser Geistesströme vermindert, aber auch erhöht wird zum Körper des Alls." Schröder meint hiezu: "Die Auffassung, der bildnerische und zumal der dichterische Mensch sei Stimme und Vollstrecker ausserpersönlicher Mächte, zählt zu den Grundanschauungen von Klages ... Sie am Beispiel Georges zu demonstrieren, hat Klages später als Versuch am untauglichen Objekt empfunden" (Schröder, 329).

 

Dies "später" bezieht sich auf die aufschlussreiche Anmerkung in "Zur Ausdruckslehre und Charakterkunde" (1927), wo Klages schreibt, er habe nicht eine Erklärung der Verse Georges angestrebt, sondern sie benutzt, "um an einem vermeinten Anwendungsbeispiel in teilweise andeutender und symbolischer Sprache zum erstenmal die Grundlinien der eigenen Weltanschauung zu zeichnen. So hat sich das Wunderliche begeben, dass weltanschaulich darin ich glaube sagen zu dürfen nicht eine einzige Zeile steht, die ich nicht heute noch unterschriebe, während die Anwendung auf Georgesche Verse nicht nur da und dort, sondern grundsätzlich fehlgreift" (ZA, 380; vgl. Bibl., 1969, 390).

 

Die Weltanschauung als Grundlage der Charakterkunde und Ausdruckswissenschaft

 

Das heisst nun auch, dass in diesen Jahren das weltanschauliche Gerüst für Klages fortan unveränderlich vorlag und einzig noch einer Vervollständigung und Differenzierung unterlag. Deshalb erstaunen Schröders Behauptungen: "Keine Brücke führt von diesem Vorläufer zu seinen späteren grossen Veröffentlichungen" (Schröder, 331), und der weltanschauliche Gegensatz George-Klages sei unüberbrückbar gewesen (Schröder, 368ff).

 

Demgegenüber befindet H. Kasdorff (1969b, 169): "Im Zusammenhang des Ganzen, wie es sich nach 1910 [d. h. nach dem Erscheinen "der beiden ersten wissenschaftlichen Bücher über Graphologie und Charakterologie"] allgemein sichtbar entwickelt, scheinen mir schon die Anfänge einer näheren Betrachtung wert", und revidiert die Auffassung von Schröder (150, 167), dass das "Geheimnis des Schaffenden" und die "Graphologie ... als eine Hilfswissenschaft" Klages zur Seelen- und Charakterkunde geführt hätten: "Wenn man die damals nicht gedruckten Texte der RR nicht kennen würde, könnte ein flüchtiger Blick auf das Veröffentlichte den Gedanken nahelegen, die Charakterkunde von Klages sei aus zwei Wurzeln entstanden, aus der Beschäftigung mit der Seele des Künstlers und aus der Befassung mit der Graphologie. Aber dieser Eindruck täuscht. Alle diese drei werden aus einer gemeinsamen Wurzel gespeist, die damals als solche nur zu ahnen war ... Sein Suchen nach Art und Sinn des tellurischen und siderischen Weltlebens ist es, was von Anfang an das Problem der rätselvollen Spannung in der menschlichen Persönlichkeit umgreift" (H. Kasdorff, 1969b, 171).

 

Kasdorff belegt in diesem Aufsatz wie auch in seiner Bibliographie (Bibl., 290ff), dass Klages' Einsicht in den Zwiespalt von Geist und Seele "von allem Anfang an im Denken des jungen Klages angelegt war, dass sie in allgemeinen Sätzen lange vor der Jahrhundertwende ausgesprochen ist und dass einige Grundzüge des späteren Systems in den Gedichten und in den grüblerischen Niederschriften der Jahre nach 1891, also z. T. von dem Achtzehnjährigen bereits angedeutet sind! ... Es lässt sich also sagen: nicht nur was Klages bei seiner Bachofenlektüre bestätigt fand, nämlich Rang und Tiefe des Wahrheitsgehalts eines symbolischen Denkens, sondern auch seine bewusstseinswissenschaftlichen Untersuchungen gehen von Problemen aus, die bereits der Achtzehn- und Zwanzigjährige für sich formuliert und deren Lösung sich, wie allgemein auch immer, schon andeutet. Auf diesem tiefen Grund erwächst auch die Charakterkunde und Ausdruckswissenschaft" (1969b, 172f; ähnl. nochmals 180ff, 188ff).

 

Das richtet sich also sowohl gegen Schröder (150, 167, 169, wie aber auch etwa 328, 331) als auch gegen K. J. Groffmann (Einleitung zu SW VII, 1968, XXXIV): Klages charakterologisches System hätte also auch ohne graphologische Forschungen entstehen können, "zumal die Wurzeln dazu nirgendwo anders als in seinem früh einsetzenden Ringen mit allgemeinen philosophischen Fragen liegen" (H. Kasdorff, 1969b, 173).

Das heisst auch, dass die seit 1911 (G. Schneidemühl, Bibl. Nr. 220; G. Rosenstein, 1912, Nr. 227, F. Krueger, 1926, Nr. 352) vielverfochtene Behauptung nicht verfängt, man könne Klages' Charakter- und Ausdruckslehren ohne den metaphysischen Hintergrund betrachten, diese seien vielmehr davon unabhängig.

 

Geist gegen Leben

 

Dies alles bestätigt Klages selbst.

Obzwar er mehrfach seine grösste und, möge er auch in manchem andern geirrt haben, einzige bleibende Entdeckung, nämlich des Gegensatzes von Geist und Leben und demzufolge des Bewusstseins als einer Lebensstörung, auf die Jahrhundertwende, also in sein 28. Lebensjahr, datiert ("Vorwort für die Zeitgenossen" zum W, VII; G, 38; ebenfalls bei Schröder, 450f, 546f), präzisiert er doch (W, 919) die Erlebnisniederschläge, auf denen sein ganzes Forschen beruhe, stammten aus den Jahren 1889-1892 und seien in seinem Nachlass niedergelegt. Sie machen fast 250 Seiten, also fast die Hälfte dieses Nachlasses aus. Er erschien noch zu Lebzeiten, 1944, unter dem Titel "Rhythmen und Runen".

 

Zu diesem Lehrsatz - "Geist und Leben seien zwei völlig ursprüngliche und wesensgegensätzliche Mächte, weder aufeinander, noch auf ein Drittes zurückführbar" - verhielten sich alle sonstigen Neubefunde wie die Folgerungen aus ihm.

 

Dem Leben einen Tempel zu errichten

 

Dies das eine. Das andere: "Der sogleich wiederholt unternommene Versuch, den tausendfältigen Ertrag des Gedankens zu einem Werke zu ballen, scheiterte an innerer wie auch an äusserer Schicksalsungunst und wurde 1903 endgültig aufgegeben. Mein 1914-15 zusammengestellter Nachlass [eben "Rhythmen und Runen"] überliefert späteren Geschlechtern wenigstens einige prachtvolle Bauglieder eines Tempels [vgl. RR, 15, 20], den von neuem zu planen ich nicht mehr wagen könnte. Seit jenem Verzicht war es mir gewiss, dass ich den schier endlosen Umweg mühsamen Forschens einschlagen müsse, um den vergletscherten Gipfel zu erreichen, den ich in steilem Aufstieg nicht zu erklimmen vermochte" (W, VII, 1929 ).

Im Vorwort zu "Rhythmen und Runen" betont Klages nochmals, "dass die Kristallisationszentralen ausnahmslos aller späteren Forschungsergebnisse unabänderlich vorliegen seit 1900" (RR, 9). Er dehnt diesen Zeitraum allerdings in einer Fussnote (RR, 351) bis 1907 oder 1910 aus (ähnl. RR, 482).

 

So ergab es sich also, dass in den folgenden 50 (!) Jahren statt dem einen Werk fast 200 Vorträge und Publikationen (worunter zwei Dutzend Bücher) entstanden. Sie alle stehen unter dem Leitbild, "dem Leben ein Monument zu errichten", mit welchem Klages 1915 (RR, 20) seine Bestimmung seit der Jahrhundertwende beschrieben hat, und das Bezug nimmt auf die Verse aus dem Jahre 1899 unter dem Motto "Monument" (RR, 236), die er denn auch dem Buch "Rhythmen und Runen" vorangestellt hat.

 

Dasselbe Bild ist auch in einem Brief meisterhaft geschildert, den Klages nach dem Erscheinen des George-Buches im Dezember 1901 an Franziska zu Reventlow schrieb: "Ein Buch von mir ist nun da, und ich weiss, dass es, heute unverstanden, doch in die Zeiten hinausragen wird wie die Säule oder Pforte eines Tempels. Aber ich fühle zugleich, wie wenig doch von meinem glühendsten Leben darin ist und dass ich noch Leuchttürme aufrichten könnte an Gestaden, zu denen auch die Verwegensten nicht vordrangen.

Allein nicht Bücher sind es, obschon es äusserlich diese Gestalt hat. Leben ist alles, was ich je schrieb, je schreiben werde, Blattgold des Lebens! Ich fühle manchmal, wie sich meine Seele über die Zeiten erweitert, wie verflossene Jahrhunderte in mir sind und wie der innere Strom an die Tore der Zukunft pocht."

 

Betrachten wir nun die Stufen etwas genauer, wie dieser "innere Strom" mit "massvoll planender Bildnerkraft" (so in der autobiographischen Skizze "Der Poet", 1904) den Lauf in die Wissenschaftlichkeit nahm.

 

 

Teil 4: Ab 1897: Graphologie und Charakterkunde

 

Ab 1897: Graphologie

 

Hat Klages in den Jahren 1894-1904 in Georges "Blätter für die Kunst" eigene Dichtungen und Aufsätze zur Wesensart des Dichters und Künstlers, sowie in andern Zeitschriften Artikel zu allgemeinen Fragen der Kunst und über einzelne Dichter (Jordan, Goethe, George, F. Huch, Th. Lessing) veröffentlicht, so seit 1897 in den Zeitschriften der von ihm zusammen mit G. Meyer und H. H. Busse begründeten "Deutschen graphologischen Gesellschaft" Buchbesprechungen und Abhandlungen über graphologische und charakterologische Themen.

Schon in diesem ersten "wissenschaftlichen" Jahr findet sich die Unterscheidung der "Tätigkeit aus Ehrgeiz" vom "Ehrgeiz des Schaffenden" - der allein dem Werk gilt und aus der tiefen Liebe zum Leben die Kraft zur Selbstaufopferung erfährt - sowie des "Tuisten" vom "Egoisten".

Ein Jahr später, 1898, machte Klages den ersten Versuch einer wissenschaftlichen Gliederung des Charakters in Form und Inhalt und arbeitete die "Graphologischen Methoden" aus, die er zwei Jahre später fortsetzte, wozu er sich des "Rüstzeugs aus Mills Logik" bedient, die besagt, das natürliche Ziel jeder Wissenschaft sei die Erfassung der ursächlichen Zusammenhänge auf dem Weg des induktiven oder deduktiven Beweisverfahrens.

 

Nun gibt es aber nach Klages "einen Fall unabänderlicher und, soweit wir es übersehen können, unbedingter Folge, der nicht unter den Begriff der Ursächlichkeit im oben erörterten Sinne fällt: nämlich die gesetzmässige Aufeinanderfolge von Vorgängen, von denen der eine seelische; der andere körperlicher Natur ist ... Wir dürfen und müssen aus dem Vorhandensein der ersteren auf die gleichzeitige Anwesenheit der letzteren schliessen. Diese Art Bewegungen zu betrachten heisst, ihren Sinn, ihre Bedeutung ermitteln ...

Der Gegenstand der Graphologie ist die Ermittlung der Bedeutung derjenigen Schreibbewegung, deren Ergebnisse als Abweichungen von den vorschriftsmässigen Buchstabenformen sichtbar werden" (SW VIII, 9f).

 

1898: Wissenschaftstheorie

 

Es ist schade, dass Klages diese Abhandlung nirgendwo mehr hat wiederabdrucken lassen, befindet doch sogar Schröder: "Wieweit immer sie hinter den späteren grundlegenden Werken ... zurückbleibt, so nimmt sie doch eine Reihe wichtiger Grundgedanken aus ihnen vorweg" (SW VIII, 740).

Geradezu als wissenschaftliche Entdeckung müssen beispielsweise die Sätze gelten: "Streng genommen gibt es nur Methoden des Beweises, aber keine Methode der Entdeckung. In letzterer Hinsicht hat jede Wissenschaft, je nach ihrem besonderen Gegenstande, ihr eigentümliches Verfahren, und der wesentliche Teil davon ist nicht gleich dem fertigen Wissen oder den Grundsätzen des Beweises zu überliefern, sondern gehört der Begabung und Geschicklichkeit des einzelnen Forschers an. Abgesehen von diesen persönlichen Voraussetzungen bedarf es jedoch einer Reihe äusserer Umstände, wenn jemandem die Möglichkeit gegeben sein soll, eine Entdeckung zu machen" (SW VIII, 10).

Diese Aussagen von 1898 wirken über die wissenschaftstheoretische Unterscheidung von Entdeckungs- und Begründungszusammenhang (H. Reichenbach) bis in den "Positivismusstreit" in der Soziologie der 60er Jahre nach - ohne dass sich freilich irgend jemand dessen bewusst gewesen wäre. Dasselbe gilt für die 1913 formulierte Erkenntnis: "Man macht nicht Entdeckungen durch Beobachtung, sondern man bestätigt Entdeckungen durch Beobachtung" (RR, 362).

 

Eine weitere fundamentale Erkenntnis ist, dass das mächtigste Werkzeug des Denkens die Namen sind. Da Beobachtung und Beschreibung der Erklärung von Phänomenen vorausgehen müssen, bedarf die Wissenschaft "der Erfindung einer der besonderen Zwecken möglichst vollkommen dienenden Terminologie und Nomenklatur" (SW VIII, 13).

Dieser Erfindung tritt etwas Zweites zur Seite: Da die Namen ausnahmslos aller Eigenschaften weit davon entfernt sind, genau umschränkte Begriffe zu bezeichnen, muss man die "Entstehungsgeschichte dieser Bezeichnungen" studieren. Diese erhellt uns, dass die meisten gar nicht erfunden wurden" das wesentlich Gemeinsame der Individualitäten festzuhalten, sondern zur Abmessung des gesellschaftlichen Wertes derselben" (SW VIII, 15). Sie tragen die Farben des Gefühlstons der allgemeinen Sym- und Antipathien, genauer, des gesellschaftlichen "Nutzeffektes", der "sozialen Brauchbarkeit" und haben demzufolge nicht Gleichheit oder Ähnlichkeit der damit bezeichneten Charaktere zur Voraussetzung.

"Jeder Wechsel in den volkstümlichen Ansichten über das Menschenleben - also etwa im religiösen Bewusstsein - weiss den Sinn dieser Namen dadurch, dass er sie zum Subjekt neuer typischer Redewendungen macht, alsbald der verwandelten Schätzung der menschlichen Eigenschaften anzupassen" (SW VIII, 16). Dies ist also Grund für die Schwierigkeit, "neutrale" Charakterbeschreibung zu betreiben.

 

Graphologie ist Bewegungsphysiognomik

 

Da nun das induktive Beweisverfahren keine völlige Gewissheit über den Charakter geben kann, ist als wichtige Ergänzung die deduktive Ableitung herbeizuziehen. Dazu braucht es eine Theorie. Für Klages ist das die als Ergänzung zu Lavaters Organphysiognomik durch Darwin und Piderit verbreitete Funktions- oder Bewegungsphysiognomik.

Also: "Mit der Kritik der volkstümlichen Eigenschaftsbegriffe muss Hand in Hand gehen die Ausbildung der Physiognomik. Die Graphologie aber ist ein Teil der Physiognomik" (SW VIII, 24). Dann erst kann "der systematische Aufbau einer Wissenschaft vom Charakter beginnen".

 

Kann uns das induktive Verfahren mit den beiden Methoden der Übereinstimmungen und der Unterschiede (systematische Sammlung und methodische Variierung der Experimente) nur über die Wahrscheinlichkeit des Zusammenhangs Eigenschaft-Merkmal Auskunft geben, so die graphologische Deduktion, sofern (empirisch ermittelte) Stücke der Theorie ausgearbeitet sind, Gewissheit darüber, dass das individuelle Gepräge der Handschrift einerseits von sehr allgemeinen (willkürlichen und unwillkürlichen) Regelmässigkeiten oder "Verhaltungsgewohnheiten", anderseits vom "persönlichen Gebärdespiel" abhängt.

 

Ab 1897: Charaktertypen: Züge der Menschennatur

 

Eine erste Grundunterscheidung von Charakteren führt Klagen bereits jetzt ein: die mehr "produktiven" (auf Umgestalten der Vorstellungen) und die mehr "rezeptiven" (auf Hingabe an dieselben gerichteten) Naturen. Dass der Unterschied spezifisch männlicher und spezifisch weiblicher Charaktere "von Interessen der Gesellschaft" bestimmt wird, sieht er bereits als belegt an, indem er auf die moderne Frauenbewegung hinweist, welche erst die Diskussion in Gang gebracht hat, "ob parallel den physiologischen Unterschieden zwischen Mann und Frau auch solche der Sinnesarten beständen" (SW VIII, 16).

Ein Jahr zuvor hat Klages übrigens in seinem ersten charakterologischen Aufsätzchen den Grundgegensatz von "tuistischen" und "egoistischen" Charakteren herausgearbeitet (später, z. B. im "Kosmogonischen Eros" nennt er das die Scheidung sympathetischer von idiopathischen Naturen).

Hinter diesem Gegensatz, der naturgemäss nur Züge der Menschennatur typisiert, und auf den griechischen Hedoniker Annizeris zurückgeht, steckt kein anderer als der später zur Berühmtheit gelangte von extravertiert und introvertiert (das bestreitet Schröder, 570).

Egoistisch nennen wir ... Charaktere, die zu ihren höchsten Glücksgefühlen nur in der Abgeschlossenheit von andern Menschen gelangen können, tuistische solche, deren Befriedigungen erhöht werden durch das Bewusstsein von der Gegenwart mitempfindender Seelen ... In den Gefühlen des Tuisten [tritt] mehr die Beziehung von Person zu Person, in denen des Egoisten mehr sein Verhältnis zum Allgemeinleben hervor" (ZA, 8; = SW IV, 4). Der Tuist will geliebt sein oder herrschen; "das typische Weib ist immer Tuist". Dagegen ist die Formel des Egoisten nicht der "Wille zur Macht", sondern das noli turbare des Archimedes. Er ist, wie Aristoteles, ein vom reinen Erkenntnistrieb gepeinigter Forscher.

 

1900: Die Graphologie kennt keine festen Zeichen

 

Die detaillierten Ausführungen der "Graphologischen Methoden" über die Möglichkeiten der induktiven und deduktiven Beweisverfahren für die Bestimmung weniger von Seelen- oder "Gemütsanlagen" und "Elementartatsachen der Seele", sondern von Gemütszuständen oder -beschaffenheiten, also von Eigenschaften, Charakterzügen, aufgrund der Deutung von Merkmalen der Schrift haben Klagen schon nach zwei Jahren nicht mehr befriedigt, weshalb er eine ergänzende Erweiterung "Zur Methode in der Graphologie" (1900) anfertigte, wo er hauptsächlich gegen die Annahme fester "Zeichen" ins Feld zog: Jedes allgemeine Merkmale muss nach dem "handschriftlichen Gesamtbilde" oder aus dem "gegebenen Merkmalszusammenhang" (SW VIII, 55, 56) je besonders gedeutet werden.

Bemerkenswert ist ferner die Einteilung der Schriftmerkmale nach folgendem Prinzip: "Eine Handschrift besteht aus selbständigen und durch Nachahmung entstandenen Zügen. Beide können erstmalig sowohl mit als ohne Absicht erworben sein. Jede Handschrift enthält Züge von jeder Gattung" (SW VIII, 50). Deshalb ist die Lehre der signes fixes (Michon) unhaltbar.

 

In der ebenfalls 1900 verfassten ausführlichen Kritik an "Busses Handschriften-Deutungskunde" finden wir erneut die Ablehnung der Zeichenlehre wie der Resultantentheorie (Crépieux-Jamin) und die Hinweise: Vor den speziellen Deutungsversuchen "wäre zu zeigen, dass und in welchem Masse die Formanalyse zugleich Bewegungsanalyse ist und dass die herausgehobenen Gestaltabweichungen Sonderbekundungen sind allgemeiner Bewegungseigenschaften der schreibenden Hand. Es wären die beiden Haupterklärungssätze darzulegen: dass die betreffende Bewegungseigenschaft entweder als Teilfunktion des unwillkürlichen Körperausdrucks für ein Seelisches oder umgekehrt aus gewissen sehr allgemeinen Gefühlswirkungen der erzeugten Liniengestalt interpretierbar ist" (SW VIII, 62).

Des weiteren sei es ein grundsätzlicher Irrtum, die Übereinstimmungen der Schrift mit der Schulvorlage zu den deutbaren Handschrifteneigenschaften zu zählen: "Nicht die Übereinstimmung hat psychischen Symptomwert, sondern die Geringfügigkeit der Abweichung" (SW VIII, 64).

Desgleichen bemängelt Klagen das Fehlen der beiden für die gesamte Zeichenbeschreibung unerlässlichen Grundbegriffe: Schwankungsspielraum und Periodizität (von Strichbreite und Richtungen).

Interessant ist ein Satz, in dem Klagen die Scheidung von Gefühls- und Willensleben als gar nicht wesentlich erachtet (SW VIII, 68).

 

In der Besprechung von "Meyers Grundlagen der Graphologie" vom nächsten Jahr fällt der Satz: "Die Handschrift ist Gehirnschrift" (SW VIII, 85), welche Erkenntnis bereits in den "Graphologischen Methoden" (SW VIII, 17) vorbereitet Ist. (Pophal schrieb 50 Jahre später ein Buch unter diesem Titel.)

Dann formuliert Klages das "Meyersche Gesetz: Ausgiebigkeit, Geschwindigkeit und Nachdruck [der Schreibbewegung] ändern sich unter sonst gleichen Umständen im gleichen Sinne wie die Intensität der psychomotorischen Kraft" (SW VIII, 86). Das bildet eine Vorwegnahme der "prinzipiellen Beglaubigung" des "Grundgesetzes des Bewegungsausdrucks" (siehe später) und geht ebenfalls zurück auf die beiden methodologischen Abhandlungen.

 

1901: Antrieb und Hemmung

 

Von grösserer Bedeutung ist jedoch das daran anknüpfende, hier erstmals von Klages entwickelte psychologische Gesetz: "Die Stärke bewegungsphysiognomischer Auswirkung ist stets das Ergebnis des Zusammentreffens zweier Elemente: der Grösse des Antriebs und der entgegengesetzt gerichteten Grösse der Hemmung. Es gibt Fälle, wo mit dem Antrieb auch die Hemmung zunimmt; dann wächst die Spannung und die Auswirkung erfolgt unter beständiger Hemmungsüberwindung ... In anderen Fällen jedoch sehen wir bei wachsendem Impuls die Hemmung sich mindern: dann kommt die Auswirkung mühelos zustande und ihre Heftigkeit ist nicht sowohl für die Stärke des Antriebs als vielmehr für Schwäche der Hemmung ein Zeichen" (SW VIII, 87; ähnl. 98, 102).

Daraus ergibt sich einerseits die seit den "Prinzipien der Charakterologie" (1910) bekannt gewordene Formel:

 

R = T/W, also: "Entstehung des strebenden 'Reagierens' (R) beruht auf der Stauung der Kraft der Zielvorstellung, die wir die Triebkraft nennen (T), an dem die Hemmvorstellung tragenden Widerstande (W)" (PCh, 53; = SW IV, 151).

 

Derselbe Sachverhalt findet sich auch in "Handschrift und Charakter" (1949, 34; SW VII, 326ff), wenngleich ohne Formel, beschrieben. Anderseits führt dieses Widerspiel von Antrieb und Hemmung zur "Doppeldeutigkeit der Ausdrucksmerkmale".

 

Neben den Bezeichnungen "Reagibilität", "psychischer Triebkraft" "als Triebfeder wirkende Geneigtheit" und "Theorie vom optischen Leitbilde" findet sich auch bereits "gestaut" und "Hemmtriebfeder" (als welche später der Wille gefasst wird): In den Charakterzügen der Zurückhaltung, Bestimmtheit, Selbstbeherrschung, Ausdauer, usw. "ist das Dauermotiv des Selbstschutzes (bzw. das Bewusstsein der Gefährdetheit) als Spannung erzeugende Hemmtriebfeder vorhanden" (SW VIII, 90). Ungewöhnlich entwickelte Hemmtriebfedern lassen ferner eine unmittelbare Impulsverwirklichung selten oder nie mehr zu (SW VIII, 91).

 

Die "Theorie des Schreibdrucks" hatte Klages bereits in einem Vortrag im Herbst 1900 (vgl. SW VIII, 89 u. 754) ausgearbeitet; sie kam aber erst 1902/3 in den "Graphologischen Monatsheften" zum Abdruck. Hier entwickelte er erstmals das Gesetz des Seelenausdrucks (siehe später) und die Unterteilung der Charaktereigenschaften in strukturelle und qualitative (artliche):

"Jede Qualität hat zugleich die Bedeutung einer spezifischen Triebfeder. Andre Bestimmungen dagegen betreffen die strukturelle Beschaffenheit des Individuums, ohne den besonderen Inhalt seines Erlebens zu berühren. Sie sagen etwas aus über den Grad seiner Erregbarkeit, seiner Bereitschaft zum Wollen, seiner Fähigkeit zur Äusserung, betreffen aber in keiner Weise die Ziele des Strebens" (SW VIII, 101f; ZA, 73).

 

Hier haben wir bereits den Kern der Lehre vom Gefüge (Struktur) des Charakters vor uns (siehe später). Freilich decken sich bereits hier die Bestimmungen des "Egoismus" nicht mehr mit den charakterologischen Beschreibungen aus dem Jahre 1897, treffen sie doch vorwiegend auf den "Tuismus" zu (vgl. Schröder, 568ff).

Es schliesst an der erste Satz der Willenslehre: "Die Anspannung des Wollens kann ... nur wachsen mit der Grösse der Hindernisse" (SW VIII, 102; ZA, 74). Im "Nachtrag" zu diesem Aufsatz von 1903 wird dann die Triebfeder definiert als "bleibende Ursache des inneren Antriebs, dessen Anlass in den motivierenden Vorstellungen beschlossen liegt" (SW VIII, 122; ZA, 96). Unmittelbar damit in Zusammenhang taucht der Begriff des "Ichs" auf "als des nach allgemein bestimmbaren Gesetzen die Bewusstseinsvorgänge organisierenden Zentralpunktes".

 

Charakterkunde ist das Fundament der Ausdruckswissenschaft, Graphologie ihre Praxis

 

Zur "Theorie des Schreibdrucks" schreibt Schröder (SW VIII, 745): "Der Aufsatz ist nicht nur für den Graphologen, er ist auch charakterologisch ergiebig. Einzelne Gegenüberstellungen der Übersichtstafel [SW VIII, 112-115] können geradezu als Vorläufer zu den entsprechenden Entgegensetzungen auf Tafel I 'System der Triebfedern' in den 'Grundlagen der Charakterkunde' [1926, zuhinterst; SW IV, 410-411] angesehen werden - ein Fingerzeig, wie stark graphologische und charakterkundliche Forschungen bei Klages Hand in Hand gingen und charakterkundliche Befunde zuweilen aus graphologischen Deduktionen hervorgegangen sind."

 

Klages selber bezeichnet im einführenden Vorwort zu den "Problemen der Graphologie" (1910) diese Schrift als den "in unserem Sinne bisher einzigen Versuch einer Fundamentierung der Wissenschaft vom Ausdruck überhaupt, als dessen zurzeit für die Forschung freilich wichtigste Zone wir die Tätigkeit des Schreibens erachten" (SW VII, 3).

 

Im Vorwort zur ersten Auflage von "Handschrift und Charakter" (1917) präzisiert Klages: "Zur Lehre vom Ausdruck verhält sich die graphologische Technik ähnlich wie etwa zur theoretischen Chemie die analytische. Jene bietet letzte Gründe, Tatbestände und Begriffe, diese zeigt wie man sie verwerte zum Zweck der Auflösung eines individuellen Ganzen in seine Elemente. Wie jedermann weiss, pflegt die Praxis zunächst der Theorie voranzulaufen …" (SW VII, 288).

 

Bei der in seinem letzten Lebensjahr erschienenen 24. Auflage von "Handschrift und Charakter" fügte Klages zuhinterst eine Besprechung der "Quellen" an und schrieb über die "Prinzipien der Charakterologie" (1910) resp. "Die Grundlagen der Charakterkunde" (1926): "Das Buch war nicht nur die erste, sondern ist auch die bisher einzige wissenschaftliche Grundlegung einer systematischen und vollständigen Charakterkunde, will sagen, einer solchen, die allen überhaupt denkbaren Spielarten menschlicher Charaktere zu genügen weiss, und bildet insofern das Fundament der ganzen Ausdruckswissenschaft" (SW VII, 537).

 

Ab 1903: Eigenart der Formen = Formniveau

 

Die Prägung des Begriffs "Formniveau" erfolgte Ende 1905, wie Schröder nachweist (SW VIII, 718), die "Entwicklung" des Begriffs aber erst 1913 ( SW VI, 701).

Dennoch ist bemerkenswert, dass bereits 1898 bei Klages von "uneigenartigen Handschriften" (SW VIII, 4) die Rede ist. Er zielt hier auf die Berufshandschriften der Abschreiber und Kanzlisten und stellt diese in den Rahmen der Schriften von Leuten, deren "unbeschäftigte Aufmerksamkeit ... sich naturgemäss auf die Schreibtätigkeit [richtet], wodurch die individuelle Bewegungsunwillkürlichkeit vermindert wird" (SW VIII, 5).

 

Eine Erweiterung bietet das Kapitel "Vom Einfluss allgemeiner Gewohnheiten" der Graphologischen Methoden" (1898), wo nebst der mehr willkürlichen Ausbildung von "schönen" Schriften die unwillkürliche Nachahmung in der Ausbildung von Berufshandschriften als Standeshandschriften (Kaufleute, Beamte) nachgewiesen wird.

 

1900 fällt die Bemerkung von "der in jedem Falle eigenartigen Gesamtbewegung" (SW VIII, 66) und in einem "Anhang" von 1903 diejenige von der "Eigenart der Formen, die ... für die relative Bildungshöhe und den Ursprünglichkeitsgrad des Charakters kennzeichnend ist" (SW VIII, 126). Diese Eigenart bemisst sich gerade nicht am "wohl proportionierten Formalismus" von Schriftzügen, nicht an deren "Schönheit" oder Glätte und Anmut oder "Harmonie", weil das eine Vernachlässigung des unwillkürlichen Gebärdenlebens bedeutete. Die Eigenart, in deren Beurteilung durchaus ein "Gefühlsmoment" wirksam ist, ist das Gegenteil von Schablonisierung der lebendigen Formen (SW VII, 125).

Wenig Eigenart beweisen z. B. "unoriginelle", "triviale", kalligraphische und nahe bei der Schulvorlage liegende Buchstaben, ferner eine "mehr als gewöhnliche Regelmässigkeit". Bei Künstlichkeit einer Schrift, die "aus heftigem Schönheitsverlangen" entspringt, "werden wir nach Zeichen der Ursprünglichkeit und erfinderischen Auswahl nicht vergebens suchen" (SW VIII, 126f), jedoch wenn sie dem ganz äusserlichen Bedürfnis entspringt, "stilvoll" und "apart" zu erscheinen. Letzterem unterliegen sehr beeinflussbare Charaktere, welche die Mode einer Zeitströmung nachzuahmen bestrebt sind.

 

Als Beispiel einer solchen karikiert Klages anschliessend die Anhänger Georges, die Symbolisten (SW VIII, 128; vgl. auch Schröder, 367). "Diese Maskerade nun erstreckt sich bis in die Handschriften. Man muss schon einige Routine erlangt haben, um wenigstens anfangs nicht verführt zu werden von gewissen Merkmalen, die, wo sie ursprungsecht, Intimität und Vornehmheit erwiesen. Oft erst dem eingehenden Zergliedern enthüllen Unsicherheiten und Inkonsequenzen oder auch 'schnörkelhafte Hinzufügungen' die mehr oder minder gelungene Mache" (SW VIII, 128). Solch "schöngeistiges Scheinenwollen" enthüllt, was sich als "ästhetisch massvolle" Beschränkung gibt, als aus "innerer Vorsicht des Beifallbeflissenen" und mangelndem Selbstvertrauen rührende Anpassung an den "Zeitgeist".

 

Im "Fall Wagner" (1904), auf den Klages 1910 zurückverweist ("Probleme der Graphologie", SW VII, 159, 270) setzt er den Begriff Formniveau zu dem der Ästhetik in Beziehung: "Will man dies innere Leben am Kunstwerk die Form nennen, so ist Form der geistigen Anstrengung unerreichbar und ein 'Stil' trägt den Zauber der Form genau in dem Masse, als der Rhythmus in ihm sein Gesetz bemeistert." Das hat auch diagnostische Konsequenzen: "Dergestalt wird auch eine Handschrift uns mehr oder minder reich, lebendig und im tieferen Sinne sympathisch erscheinen, und wir werden bei einigem Gefühl dafür unschwer die schöne und starke von der schwächlichen oder giftigen Seele unterscheiden lernen. Aber wie jede Vollendung, so weist auch diese nicht über sich selbst hinaus, und es wäre eine arge Fehlfolgerung, aus der Fülle des Lebens auf Fülle des Geistes zu schliessen" (SW VII, 271f; SW VIII, 575f; ZA 121, 123).

 

Bei der Betrachtung von Wagners Handschrift fallen die Formeln "rhythmische Verteilung" und "harmonische Gesamtgestalt", Eigenschaften, deren die Handschrift Wagners nach den Vierzigerjahren ermangelt; ja trotz aller Gewandheit und Behendigkeit fehlt die "tiefere Eigenart", wovon "die Ursache in einem ebenso starken Eigenartsmangel der Persönlichkeit zu finden" ist.

Die Grundbestimmung folgt: "Das 'Eigenartige' ist eine besondere Form des 'Elementaren' und wird wie dieses mehr erlebt als begriffen. Nicht streng beweisen lässt sich, dass es da sei oder nicht; wohl aber erfolgreich hinweisen wird man auf diejenigen Imponderabilien des sinnlich Erscheinenden, die das Gefühl davon vorzüglich anregen oder ausschliessen müssen. Man nenne sie allgemein etwa: Fülle, Schwere und Tiefe" (SW VIII, 580-584; ZA 124-126).

 

In den "Problemen der Graphologie" (1910) schliesslich gilt ein ganzes Kapitel dem "Formniveau" (SW VII, 157-165), also der "in Begriffe nicht auflösbaren Gesamtqualität" der Schrift, welche den "Gehalt an Leben" aufgrund der "spezifischen Gefühlsempfindlichkeit des Betrachters", im Falle von Klages in fünf Niveaus zu unterscheiden erlaubt.

 

 

Teil 5: Ab 1898: Charakterkunde

 

1899: Wichtige Befunde vorgezeichnet

 

1899 finden sich charakterologische Befunde in den Aufsätzen "Zur Menschenkunde" und "Bahnsens Charakterologie" (leicht verändert wiederabgedruckt in ZA, 1927, 14-26 und 27-52; resp. SW IV, 12-26 und 27-50) in solcher Prägnanz, dass H. Kasdorff (1969b, 188f) vermutet, Klages' System von 1910 deute sich sogar in Einzelheiten schon an: "Ob jemand über ein 800 Seiten starkes Werk [d. i. von Bahnsen] in dieser Form berichten könnte, ohne selbst die Grundlinien eines Systems vor Augen zu haben, muss man bezweifeln."

 

Kasdorff belegt dies ausführlich, indem er wichtige Forschungsgebiete von Klages hier bereits vorgezeichnet findet, z. B.

  • die Entstehung unserer Neigungen zu anderen Menschen,
  • der Einfluss der Landschaft und des Klimas auf den Charakter,
  • der Zusammenhang der Triebfedern,
  • das wissenschaftliche Studium der unwillkürlichen und gewohnheitsmässigen Bewegungen,

die alle zum Aufbau eines Systems der Seelen-, Charakter- oder Menschenkunde führen.

 

Ab 1898: Charakterkunde und Sprache

 

Bereits 1898 konzentriert sich Klages in einem Aufsatz über "Form und Inhalt des Charakters auf die Namen für Charaktereigenschaften oder seelische Zustände, insbesondere auf solche, die den sozialen Wert meinen und dem sittlichen Urteil unterliegen.

Klages geht es in der Charakterkunde wie in der Graphologie - ein Jahr zuvor bestimmt "als eine der Bemühungen, die auf die Gewinnung eines nüchternen, gleichsam unpoetischen Wissens vom Menschen gerichtet sind" (SW VIII, 11) - um die Deutung eines Stoffes, "und zwar in einer Sprache, die, soweit irgend nur möglich, der Einmischung parteiischer Gefühle entrate. Sie will uns in menschlichen Angelegenheiten zu ebenderselben Vorurteilslosigkeit des Sehens verhelfen, auf die wir (ob mit Recht oder mit Unrecht) stolz zu sein pflegen in den Naturwissenschaften" (SW IV, 12; ZA, 15).

 

Trefflich sind beispielsweise die Anmerkungen zu dem, was wir heute "Aggressivität" nennen: "Die Lust am Vergewaltigen und Wehetun gehört, wenn nicht zum Wesen des Menschen überhaupt, so doch bestimmt zum Wesen des geschichtlichen Menschen ... Keine Religion hat je den Hang zur Grausamkeit im Menschen verringert; denn das ist unmöglich. Die seelischen Intensitäten können so wenig vermehrt oder vermindert werden wie im Reiche der Körper die 'Energie'; wohl aber vermag eine Religion oder wie immer sonst bedingte Gesinnungsart den Entspannungen die Richtung zu weisen. Einunddieselbe Leidenschaft kann in verschiedenen Zeitaltern von so sehr verschiedenen Gegenständen angeregt werden und in so sehr verschiedenen Formen sich darleben, dass sie ihr Aussehen völlig verändert und gleichsam erst wiedererkannt werden will wie das Antlitz unter der Maske" (SW IV, 14f; ZA, 18).

 

Dies ist nichts weniger als eine Vorwegnahme von Sigmund Freuds Theorie der "Sublimierung", was bestätigt wird durch den Satz aus der Besprechung von "Bahnsens Charakterologie" (1899): "Scheitert z. B. die angemessene Entspannung gewisser Triebe an inneren Hemmungen, so werden sie in Gedankengängen, Vorstellungen, Phantasmen wirksam und gewinnen dadurch eine Vertiefung der 'Innerlichkeit' ihres Aussehens" (SW IV, 36; ZA, 37).

 

Hochinteressant auch das weitere: Das Christentum hemmte die Entfaltung des Menschen nach aussen und schuf damit abnorme innere Spannungen. "Die offenbare Grausamkeit des Altertums verkleidete sich in die Bussfestigkeit des Reuezerknirschten. Dort unverhehlte Lust an Kampf und Mord, hier dieselbe Lust, aber larviert in die selbstmörderische Wut der Flagellanten und Asketen. Und der neuzeitliche Mensch ... steht nicht zurück; ja grade er erfreut sich beider Äusserungsarten der Grausamkeit: begonnen vom Wüten gegen die Gesamtnatur des Planeten (Austilgung aller nicht verhäuslichten Tiergeschlechter) über die Entrechtung, Versklavung und schliesslich Vertilgung der 'Primitiven' bis zu den sublimsten Formen grausamer Vivisektion der eigenen Seele" (SW IV, 15; ZA, 18f).

 

In der Besprechung von "Bahnsens Charakterologie" (1899) wird erneut auf die Bedeutung der Sprache hingewiesen, "weil unser Denken beständig am Leitfaden und unter der Führung überlieferter Worte geschieht" (SW IV, 30; ZA, 30).

Hier setzt nun Klages Aufzählung von Redewendungen ein, was er bis zu seinem Tod nicht mehr aufgab. Die ersten Beispiele sind: sich zusammennehmen, in die Brust werfen, ausser sich sein, ausser Fassung geraten (auch in "Zur Menschenkunde", SW IV, 16; ZA, 20), auf etwas gespannt sein. "Man überlege sich, wieviel Seelenkunde menschenalterlange Erfahrung in das Wort 'Eindruck' schloss. Wir ständen ratlos vor unsern Erlebnissen und wären nicht in der Lage, uns mitzuteilen, wenn nicht mit solchen Namen die Sprache für uns dächte" (SW IV, 30; ZA, 31). Freilich führt die Sprache auch in die Irre, nicht zuletzt bei Wörtern, in denen "Begriffe von der gesellschaftlichen Nützlichkeit menschlichen Verhaltens Gestalt gewonnen" haben. "Wir müssen also die Namen erst prüfen, ehe wir sie verwenden" (SW IV, 32; ZA, 32).

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Klages übernimmt hier von Bahnsen die zutreffende Unterscheidung von Artanlagen und Funktionsanlagen, welch letztere er auch individuelle Formanlagen nennt.

 

"Prinzipien der Charakterologie"

 

Die "Prinzipien der Charakterologie", ebenfalls aus der "Graphologischen Prinzipienlehre" (1904-8) hervorgegangen und zuerst als integrierender Bestandteil der "Probleme der Graphologie" vorgesehen, basieren noch ausgeprägter als diese auf dem "nicht mehr umdenkbaren Urdualismus" von Leben (Element, Seele) und Geist (PCh, 1910, 10; GCh, 196914, 201). Sie bilden nicht nur die Grundlage von Klages Erkenntnistheorie, sondern entfalten auf dieser "Dualität der konstituierenden Bestandteile" der Persönlichkeit die ganze "Metaphysik der Persönlichkeitsunterschiede" und das "System der Triebfedern".

 

Ebenso sind "Materie, Struktur und Qualität des Charakters" (später in andern Begriffen: Stoff, Gefüge und Artung) auseinander gehalten.

In den "Grundlagen der Charakterkunde" (1926, mit nur geringfügigen späteren Änderungen) treten dann noch Tektonik, scheintypische Beschaffenheiten und beständige Eigenschaften des Charakters hinzu, ferner Kapitel über "Gedächtnis und Erinnerungsvermögen" und "Vom Charakter der Hysterie"; letzteres als Aufnahme und Ergänzung des III. Kapitels der "Probleme der Graphologie" (das seinerseits auf der "Graphologischen Prinzipienlehre" von 1904 beruht).

 

 

Teil 6: Ab 1901: Ausdruckskunde im Rahmen von Graphologie und Charakterkunde

 

Ab 1901: Ausdruckswissenschaft

 

Die Beschäftigung mit Lavaters sog. Organphysiognomik hat Klages zur Bewegungsphysiognomik oder Ausdruckswissenschaft gebracht, deren früheste Ergebnisse sind:

  • das Grundgesetz des Bewegungsausdrucks,
  • die Unterscheidung von ausdrückenden und darstellenden Impulsen und
  • die Erkenntnis, dass der Darstellungsdrang im Erlebnis des Anschauungsraumes wurzelt und einem persönlichem Leitbild folgt.

 

Der erste Aufsatz zur Ausdruckswissenschaft datiert aus dem Jahre 1901 und behandelt "Prinzipielles bei Lavater" (SW VI, 3-12). Darin findet sich die Einsicht: Nur aufgrund physiognomischer Regeln von der Zusammengehörigkeit der Merkmale kann jedes einzelne den Rang eines Zeichens erlangen.

Im selben Jahr finden sich in einer Buchbesprechung der Begriff "Hemmtriebfeder" - nachdem er schon 1898 von der Hemmung und Störung der Ausdrucksbewegungen gesprochen hatte - und der erste Hinweis auf C. G. Carus (dessen Psyche" er 1925 mit einer längeren Einführung neu herausgab).

 

Auf diesen insgesamt etwa 125 Seiten der graphologischen Zeitschrift (plus die 20 Seiten der "Theorie des Schreibdrucks") finden sich also vor dem Erscheinen des George-Buches eine Fülle von Grundsätzen und Erkenntnissen, die Klages' weiteres fachwissenschaftliches Forschen so sehr bestimmen, dass sie keinesfalls unberücksichtigt gelassen werden dürfen.

 

Eine akribische Darstellung dürfte die kontinuierliche Entwicklung von Klages' Lebenswerk in der Verschränkung von Weltanschauung, Kunstauffassung, Graphologie, Ausdrucks- und Charakterkunde sichtbar werden lassen. Zumal, wenn man bedenkt, dass der Nachlass aus den Jahren 1899-1901 im Ganzen der "Rhythmen und Runen" weitere 340 engbedruckte Seiten ausmacht.

 

Dass diese frühen Veröffentlichungen weit mehr als nur "Splitter und Späne ohne selbständige Bedeutung" (Schröder, 328) darstellen, geht übrigens wiederum aus Klages' eigenen Worten hervor. Nicht nur enthalten die ersten 60 Seiten seines 1927 herausgegebenen Sammelbandes "Zur Ausdruckslehre und Charakterkunde" fünf Aufsätze aus den "Graphologischen Monatsheften" der Jahre 1897-1901 (plus die 20+14 Seiten der 1900/03 entstandenen "Theorie des Schreibdrucks"), sondern im Vorwort schreibt der Verfasser selbst, diese wie die späteren "sachlich wichtigsten Arbeiten" entsprächen auch jetzt noch, also in seinem 55. Lebensjahr seiner Überzeugung und: "Wer die hier aneinandergereihten Aufsätze auch nur mit einigem Verständnis durcharbeitet, wird ... so viel wenigstens erkennen, dass es eine nicht geringe Gruppe wissenschaftlicher Einzelprobleme war, die Verfasser, gestützt auf einen weitschichtigen Stoff, durchforschte, und er wird ... eine Zielbestimmtheit und Geradlinigkeit bemerken, die in Ansehung des zugrunde gelegten Zeitraums nichts zu wünschen übrig lässt" (ZA, 4, vgl. auch 14).

Ähnlich äussert er sich auch zwei Jahre später im "Vorwort für die Zeitgenossen" des Widersachers: "... mit wie vielen Kapiteln ich immer über alles bisher Veröffentlichte hinauszugehen scheine, Andeutungen der Endresultate finden sich da und dort in anderen Schriften von mir seit nahezu dreissig Jahren" (W, XIII).

 

Für einen akribischen Nachweis dieser Konsequenz in der Entwicklung ist hier nicht der Platz. Wir werden auch den Fortgang nur skizzieren.

 

1904 begann Klages - neben einer sich reich entfaltenden Vortrags- und Unterrichtstätigkeit (in seinem "Psychodiagnostischen Seminar") - mit der Ausarbeitung der 220 Seiten umfassenden "Graphologischen Prinzipienlehre", was ihn fünf Jahre beschäftigte. "Für die Entstehung des Lebenswerkes von Klages kommt ihr grundlegende Bedeutung zu", schreibt Schröder in seinem ausführlichen Kommentar (SW VIII, 717). Dennoch wurde sie nicht in den "Sämtlichen Werken" wiederabgedruckt.

 

1905: Die Ausdrucksgesetze

 

Da werden zum erstenmal das "Ausdrucksprinzip" (1905), das "Darstellungsprinzip" (1908) und die "Willenslehre" (1906) formuliert.

Ersteres geht zurück auf die Definition der Ausdrucksbewegungen in den "Graphologischen Monatsheften" von 1898 als "diejenigen unwillkürlichen Körperfunktionen, welche affektive Zustände im Menschen begleiten und als Symptome derselben angesehen sind" (SW VIII, 35) sowie auf das erstmals in der "Theorie des Schreibdrucks" (1902) formulierte Gesetz, dem die ganze Statik und Dynamik des Seelenausdrucks folgt: "Der körperliche Ausdruck jedes Seelenzustandes ist so beschaffen, dass er seinerseits diesen Zustand hervorrufen kann" (SW VIII, 99), was wiederum nichts anderes ist als eine Umkehrung und gleichzeitige Präzisierung der Erkenntnis aus den methodologischen Schriften, dass "der Eindruck, den eine Handschrift hervorbringt, zu den Ursachen ihrer Beschaffenheit [oder: Entstehung] gehören kann" (SW VIII, 51 u. 54; vgl. schon 30f).

 

Das Ausdrucksgesetz wurde 1905-1910 "Grundgesetz des Ausdrucks" genannt und lautet: "Jede innere Tätigkeit nun, soweit nicht Gegenkräfte sie durchkreuzen, wird begleitet von der ihr analogen Bewegung" (so die Fassung in den "Problemen der Graphologie" von 1910, SW VII, 137).

Im revidierten Wiederabdruck von 1927 (SW VI, 14) trägt es den Namen "Grundgesetz des Bewegungsausdrucks und der Bewegungsdeutung", und "innere Tätigkeit" ist durch "Seelenvorgang" ersetzt.

 

Die "prinzipielle Beglaubigung" für dieses Gesetz, nämlich: "Die Bewegtheit nimmt zu direkt proportional der inneren Tätigkeit" (SW VII, 140) findet sich ebenfalls in der Revision von 1927: "Die Bewegtheit des Körpers nimmt zu proportional der Bewegtheit der Seele" (SW VI, 16), sonst aber nirgendwo mehr.

 

Zu beachten ist, dass bereits 1908 erstmals die durchkreuzenden "Gegenkräfte" wegfallen. In einem Vortrag sagte Klages: "Zu jeder inneren Tätigkeit gehört die ihr analoge Bewegung, zu jeder Tätigkeitsdisposition die analoge Bewegungstendenz" (SW VIII, 168). In einem Vortrag, datiert zwischen 1908 und 1913, heisst es dann: "In jeder Willkürbewegung liegt als nicht gewollt die Persönlichkeit des Wollenden" und: "Zu jeder inneren Tätigkeit gehört die ihr analoge Bewegung - oder, wenn man statt Tätigkeit auch 'Bewegung' setzt: Jeder inneren entspricht die ihr analoge äussere Bewegung" (SW VI, 680f).

Der erste Satz taucht in den "Problemen der Graphologie" von 1910 in der Gestalt auf: "In jeder Bewegung liegt die persönliche Ausdrucksform" (SW VII, 127). In "Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft" von 1913 heisst es unter "Ausdrucksgesetz": "In jeder Willkürbewegung steckt die persönliche Ausdrucksform" und "jeder inneren entspricht die ihr analoge Bewegung den Körpers" (SW VI, 150). Als Ergänzung tritt der uns schon von 1902 (SW VIII, 99) bekannte Satz hinzu: "Der körperliche Ausdruck jedes Bewusstseinszustandes [1902: Seelenzustandes; 1921: Lebenszustandes] ist so beschaffen, dass sein Bild diesen Zustand wiederhervorrufen kann" (SW VI, 70, vgl. 58, 75, 162).

In der zweiten, auf den doppelten Umfang erweiterten Auflage dieses Buches (1921) hat Klages dann dem "Ausdrucksgesetz" eine neue Doppelfassung gegeben: "Jede ausdrückende Körperbewegung verwirklicht das Antriebserlebnis des in ihr ausgedrückten Gefühls" und: "Jede Ausdrucksbewegung [1935: Der Ausdruck] verwirklicht nach Stärke, Dauer und Richtungenfolge die Gestalt einer seelischen Regung" (SW VI, 169 u. 170).

Dabei bleibt es auch in der "Grundlegung der Wissenschaft vom Ausdruck" von 1935 (SW VI, 474 u. 483), nun unter dem Titel "Das Ausdrucksprinzip". Die andern zwei Sätze sind nun in verschiedene Kapitel gestellt und lauten: "Die beliebige Willkürbewegung drückt ungewollt die Persönlichkeit des Wollenden aus" und: "Der Ausdruck eines Lebenszustandes ist so beschaffen, dass seine Erscheinung den Zustand hervorrufen kann" (G, 19709, 28 u. 72; SW VI, 356 u. 398).

Der Lehrsatz aus "Graphologie" (1932, unverändert 1949; SW VIII, 428f): "In jeder Willkürbewegung erscheint der Charakter ihres Trägers", lautet nun: "In jeder persönlich charakteristischen Bewegungseigenschaft erscheint die persönlich charakteristische Bewegungsweise" (G, 19709, 31; SW VI, 359).

 

Erwähnenswert ist noch, dass der Satz von 1910 aus dem Abschnitt "Das Grundgesetz des Ausdrucks" "Die "Ausdrucksbewegung' ist ein generelles Gleichnis der Handlung" (SW VII, 146 - vgl. bereits in einem Vortrag 1908, SW VIII, 168f, ferner: wohl etwas später SW VI, 682) sich über "ein Gleichnis" (1913), "das Gleichnis" (1921) zu "Der Ausdruck ist ein Gleichnis der Handlung" (1934) gewandelt hat.

 

Bezüglich des zweiten Gesetzes hat die Klages-Forschung bis heute übersehen - abgesehen von einer kleinen Bemerkung Schröders (SW VIII, 740, 744) -, dass es schon im ersten graphologischen Aufsatz aus dem Jahre 1898 formuliert ist: "Jede zweckvolle Bewegung wird von unwillkürlichen Bewegungen begleitet. Daher gilt für sie das gleiche Gesetz, welches das gesamte Gebiet der unwillkürlichen Ausdrucksbewegungen beherrscht: sie werden in ihrem Ablauf gestört und gehemmt, wenn sie in dem Augenblicke, wo sie sich zu vollziehen im Begriffe sind, deutlich vorgestellt werden" (so im Selbstzitat, SW VII, 258; der Wíederabdruck bringt eine revidierte Fassung von 1926; SW VIII, 3).

 

1900: Das persönliche Leitbild

 

Im Jahre 1900 stellte Klages unter Bezugnahme auf "persönliche Vorlieben" und "besondere Assoziationen" sowie mit Hinweis auf das Werk von Lipps fest, "dass die Schreibbewegung durch das individuelle Liniengefühl des Schreibers in jedem Augenblick unwillkürlich beeinflusst werden muss" (SW VIII, 51f, vgl. auch 79f, 94f).

 

Von 1908 an erscheint dieses Gesetz stets unter der Aufschrift "Das persönliche Leitbild". Dies ist die "individuelle Selektionskonstante" oder derjenige "Komplex unbewusster Tendenzen ..., durch die das individuell spezifische Vorstellungsvermögen im Gefühlsleben zur Wirksamkeit gelangt", womit das Gesetz lautet: "Ein selektiver Impuls kann umso eher zur Geltung kommen, als die betreffende Ausdruckssphäre bewusst zu werden geeignet ist" (so die Fassung in den "Problemen der Graphologie" von 1910, SW VII, 219-221 - der revidierte Nachdruck von 1927 bringt nur zahlreiche terminologische Änderungen, SW VI, 27 u. 29).

In "Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft" von 1913 wird dieses Gesetz am Anfang des 3. Kapitels nur kurz gestreift: Das Gesetz des individuellen Raumsinns "fügt dem Ausdruck des seelischen Zustandes demjenigen hinzu, mit welchem die Seele impulsiv Antwort gibt auf das Bild ihres eigenen Ausdrucks" (SW VI, 95, vgl. auch 63). In der zweiten Auflage von 1921 findet "das allgemeinste Gesetz des Darstellungstriebes" dann im Unterkapitel "Das Gesetz des Leitbildes" die Formulierung: "Jede willkürbare Bewegung des Menschen wird in jedem Augenblick gemodelt von unwillkürlichen Erwartungen ihres anschaulichen Erfolges" oder kürzer: "Jede willkürbare Bewegung des Menschen wird unbewusst mitbestimmt von seinem persönlichen Leitbild" (SW VI, 233 ff).

 

Diese Sätze finden sich in leicht abgewandelter Form auch in der "Grundlegung der Wissenschaft vom Ausdruck" von 1935, freilich nicht im Kapitel "Das Darstellungsprinzip", sondern am Anfang des Kapitels "Vom persönlichen Leitbild". Beim zweiten Satz ist das "unbewusst" weggelassen, und der erste Satz lautet : "Die willkürbare Bewegung kann vom Darstellungsdrang nur insoweit gemodelt werden, als sie einhergeht mit unbewusster Erwartung ihres anschaulichen Erfolges" (SW VI, 596f).

 

Angemerkt sei, dass die Prägungen "Jede menschliche Spontanbewegung wird mitgestaltet von unbewussten Erwartungen ihres anschaulichen Erfolges" resp. "Jede Spontanbewegung des Menschen wird unbewusst mitbestimmt von seinem persönlichen Leitbild" (SW VIII, 436f) in "Graphologie" von 1932 bis 1949 (4. Aufl) unverändert steht.

 

 

Teil 7: Ab 1906: Die Weiterentwicklung der Philosophie

 

1906: Willenslehre

 

Noch verzwickter ist die Enthüllung der Entwicklung der Willenslehre. Ansätze finden sich in Aufzeichnungen seit 1899 (RR, z. B. 477f). Von grundlegender Bedeutung ist hierbei der Begriff der Hemmung.

Eine erste zusammenhängende Fassung der Willenstheorie, soweit es sich um den Ausdruck des Wollens handelt, steht 1906 in der "Graphologischen Prinzipienlehre". Sie besagt:

"Der Zustand des Wollens wirkt auf den Ausdruck regulierend oder: die Vorherrschaft des Willens spricht sich im unbewussten Walten einer Regel aus" (so die Formulierung in den "Problemen der Graphologie", 1910, SW VII, 195).

Klages geht hierbei vom fundamentalen Unterschied der aussermenschlichen Natur "von der Natur, die durch den Willen hindurchgegangen ist", aus und gelangt damit zum Gegensatz von Eigenart und Gesetzlichkeit, der in späteren graphologischen Schriften (seit "Handschrift und Charakter", 1917) als derjenige von Ebenmass und Regelmässigkeit zur Fruchtbarkeit in der Deutungspraxis gelangt. "Einen festen Massstab, sei es des Raumes, sei es der Zeit gibt nicht die Natur, ihn fordert und setzt und zwar in jedem Akt des Erfassens ausschliesslich der Geist." Dem Willen steht die Regel zur Seite "oder die den Rhythmus durchbrechende und ihn schliesslich zerstörende Mechanisierung der Lebensprozesse" (SW VII, 195f).

 

Bereits hier findet sich auch der Unterschied: Die Antike und alle "Naturvölker" stehen unter dem Vorrang des Pathos, während das Christentum und alles Spätere dieser heidnischen Sinnlichkeit den "weltüberwindenden" Willen entgegenhält. Daraus ergibt sich auch die Unterscheidung von Kultur als sozial sich vollendender Wachstumseinheit und Zivilisation als allgemeiner Verstandesherrschaft.

 

Nur schon diese wenigen Sätze zeigen, dass auf den 260 Seiten der "Probleme der Graphologie" wie auch in den ebenfalls 1910 erschienenen "Prinzipien der Charakterkunde" alles angelegt ist, was dann unter ständiger terminologischer Präzisierung und Erweiterung in den folgenden Werken breit ausgefächert wurde.

 

1910: Der Wille als universale Hemmtriebfeder

 

Die in den "Problemen der Graphologie" verstreuten Äusserungen zur Willenstheorie basieren auf der Überzeugung: "'Antrieb' und 'Hemmung' sind die nicht auseinander zu reissenden Hälften der inneren Tätigkeit. Wie die Stärke des elektrischen Stromes als zerlegbar gedacht wird in die elektromotorische Kraft und den Widerstand des ihn leitenden Mediums, so ist der geistige Vorgang in jedem Augenblick das Ergebnis aus der Wirkung zweier Kräfte, deren eine treibt, während die andere zügelt, und das tatsächliche Erleben vollzieht sich ausnahmslos im steten Wechsel von 'Stauung' und 'Abfluss'' (SW VII, 155, ähnl. 187). Ganz ähnliche Formulierungen finden sich später im "Widersacher" (1929) im Kapitel "Wollung und Handlung".

 

Aus diesem Sachverhalt ergibt sich dann die bekannt gewordene Formel

R = T/W (Reagibilität gleich Triebkraft zu Widerstand), die bereits hier wie auch in den "Prinzipien der Charakterologie" als dreifältig erkannt, in den "Grundlagen der Charakterkunde" 1926, Kap. VI.; SW IV, 296-319) ihre endgültige Form fand:

 

Eg = Lg/Tg (Gefühlserregbarkeit gleich Gefühlslebhaftigkeit zu Gefühlstiefe),

 

Ew = Tk/W (Willenserregbarkeit gleich Triebkraft zu Widerstand), und

 

A = E/Wa (Äusserungsfähigkeit gleich Erregung zu Äusserungswiderstand).

 

Diese drei Verhältniseigenschaften machen das Gefüge des Charakters aus und können auch als Affektivität, Temperament und Naturell bezeichnet werden.

 

Dass der Wille, als eigene Disposition gedacht, die "universelle Hemmtriebfeder" ("Prinzipien der Charakterologie", 61; SW IV, 158) oder als Träger der Möglichkeit des Wollens die "generelle Hemmtriebfeder" ("Probleme der Graphologie", SW VII, 190) ist, steht seit 1910 in diesen Formulierungen da, also nicht erst 1913 wie Schröder (SW VI, 701) meint.

 

Mit "Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft" von 1913 - wo auch erstmals vom charakterologischen Doppelsinn aller Bewegungsmerkmale und dem weltgeschichtlichen Verfall der Gestaltungskraft die Rede ist -, einem im selben Jahr gehaltenen Vertrag auf einem Kongress für medizinische Psychologie und Psychotherapie in Wien über die "Theorie (und Symptomatologie) des Willens" sowie dem Aufsatz "Mensch und Erde" zur Jahrhundertfeier der Freideutschen Jugend auf dem Hohen Meissner - worin er die verheerenden Folgen der Willensherrschaft in der Natur- und Kulturzerstörung erstmals in flammenden Worten anprangerte - ist die erste Etappe seines Lebenswerks abgeschlossen.

 

Ab 1910: Die Lehre von den Bildern

 

Auch die "Lehre von den Bildern" und die "Lehre vom Begriff", seit 1889 resp. 1892 in zahlreichen Dichtungen und Prosaversen niedergelegt, sind in den "Problemen der Graphologie" (1910) formuliert.

1892 hiess es z. B.: "Das aber ist der Weg des Geistes: die Welt der Sinne münzt er um in eine Welt der Begriffe", und 1899: "Dass es für uns zwei Wirklichkeiten gibt, eine des gewöhnlichen Bewusstseins und eine der Seele, dies ist der gedankliche Ausdruck jener Zerklüftung des inneren Seins, die mit Platon und Christus in die Welt des Lebens einzog" (RR, 466 u. 475).

1900 hiess es: "Leben ist Fluss, Beharrung ist Tod. Das Leben erstarrt und endet im Glauben an die Wirklichkeit der Dinge, im Wahn der Dauer. Das Weltall hat die Wirklichkeit eines unaufhörlichen Vorgangs", oder: "Die Welt des Denkens ist die des gewöhnlichen Bewusstseins. Die Seele lebt in der Welt der Bilder, und zwar entweder als die makrokosmisch schweifende oder als die mikrokosmisch-haftende" (RR, 249 u. 255f).

 

1910 heisst es: "Ohne die Gabe, im sinnlich nur Ähnlichen und mithin Verschiedenen ein begrifflich Identisches festzuhalten, kännten wir keine Welt der 'Objekte', sondern einzig der 'Bilder', in der jeder Tag eine neue Sonne, jeder Abend neue Gestirne brächte und wo der volle ein anderer ist als der halbe Mond" (SW VII, 191).

Hier fallen auch erste Hinweise auf das sog. "Eleatenproblem" und die Frage der Kausalität (letzteres auch in PCh, 62; SW IV, 159).

 

Drei Jahre später lautet es, noch prägnanter: "Damit der Willensakt möglich werde, bedarf es zuvor des Urteilsaktes, der an die Stelle des immer sich wandelnden Bildes den im Verfliessen der Zeit mit sich identischen Gegenstand setze, indem nur ein solcher von uns bezweckt werden kann. Während jeder Eindruck qualitativ und fliessend ist, so geht unser Wollen auf das darin mittels des Geistes gefundene Seiende aus, im Verhältnis zu dem die erlebte Sinnenseite nun erst den Charakter der blossen 'Erscheinung' annimmt. Wenn nun aber demgemäss der Zweck nicht der sinnlichen Welt angehört, die als in rastloser Wandlung begriffen sich keiner Voraussicht zur Anknüpfung böte, so ist er offenbar ein ideeller Punkt und das Abzielen des Willens geschieht in einer begrifflichen Richtung" (SW VI, 86).

Anschliessend folgt die bekannte Erläuterung, dass 'die Zwecke' ursprünglich den Pflock Im Zentrum der Scheibe, nach dem man zielt und schiesst, kennzeichnet. Daran schliesst sich die Unterscheidung von Willkür- und Ausdrucksbewegung an. Die Richtung der ersteren ist, "weil vorausgedacht, auf den raumlosen Punkt gestellt, die Ausdrucksbewegung folgt ungebunden, aber blind dem Anreiz des Eindrucks" (SW VI, 87).

 

Ab 1913: Dualität von Geist und Leben

 

Zwar ist bereits in einem langen Aufsatz von 1913 über die Ausdrucksbewegung die "metaphysische Dualität ... von Geist und Leben" bestimmend, und die Verwechslung von geistigen Akten mit Mächten des Lebens (SW VI, 90) wird als fundamentaler Irrtum herausgestellt, doch zur strengen, vor allem auch begrifflich sauberen Scheidung von "Bewusstsein und Leben" gelangte Klages erst im so betitelten Aufsatz von 1915. Hier ist die - an die Formel von 1904 vom "aufzuckenden Lichte des Geistes" resp. vom "aufzuckenden Blick eines Auges ... des Geistes" (RR, 279 u. 336f) anknüpfende - Bemerkung von 1913, dass geistige Akte, "wie der aufzuckende Blitz die zuvor verdunkelte Landschaft, ebenso zielvolle Abläufe zwar beleuchten, nicht aber schaffen" (SW VI, 90 - vgl. RR (1903), 319, (1915) 365f) in die Form gebracht: "Nicht der Strom des Erlebens ist Bewusstsein, sondern solches entsteht, sofern er vom Blitzlicht des Erfassens getroffen wird" (SW III, 648).

 

Das ist weit präziser als in der Abhandlung "Vom Traumbewusstsein I" vom Vorjahr, womit er einen Beitrag liefern wollte "nicht so sehr zum Verständnis der Träume als zur Theorie des Bewusstseins überhaupt, dessen Wachheit nicht begriffen wird ohne Einsicht in das Wesen seines Träumens" (SW III, 158). Das lehnt noch an den Abschnitt "Die Pole der Seele" von 1911 (RR, 288f) an.

 

Seit 1916: Arbeit am "Widersacher"

 

Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs hatte für Klages einen tiefen Schock bedeutet, der die Konzentration auf seine eigene Arbeit schwer beeinträchtigte. Das "Psychodiagnostische Seminar", im Begriff sich beinahe zu einer kleinen Privatuniversität auszuweiten, musste geschlossen werden, da viele Teilnehmer eingezogen wurden oder sich freiwillig meldeten.

So begann Klages mit der Sichtung, Ordnung und Fixierung seines dichterischen Nachlasses (der wie erwähnt, 1944 gedruckt wurde). Im August 1915 übersiedelte er in die Schweiz und liess sich am linken Zürichseeufer, zuerst in Rüschlikon, von 1920-28 im C. F. Meyer-Haus in Kilchberg, von 1933 bis zu seinem Tod 1956 im Hause seines Freundes und Gönners Ch. Bernoulli) nieder.

 

Aus seiner Unterrichts- und Vortragstätigkeit, vorwiegend in privatem Kreise, sowie aus "Lehrbriefen" gingen zahlreiche seiner späteren Aufsätze, Werke und einzelne Kapitel daraus hervor. Hier schrieb er auch - durch Erwerbsarbeit und Herausgabe zahlreicher Bücher ständig unterbrochen - in 16 Jahren sein 1500seitiges Hauptwerk "Der Geist als Widersacher der Seele" (I, II 1929; III1, III2 1932; = SW I und II).

 

Wie er im "Vorwort für die Zeitgenossen" dazu schreibt, ist der erste Band "der Wissenschaft vom Wesen und der Entstehung des Bewusstseins" gewidmet. Die Grundzüge hiervon erschienen 1916-1919 in vier Fortsetzungen in der Monatszeitschrift "Deutsche Psychologie" unter dem Titel "Geist und Seele", der bis zuletzt auch für das Hauptwerk vorgesehen war.

"Inzwischen türmten sich, eine Nachwirkung des Krieges, die äusseren Hindernisse ins Unermessliche, so dass ich mich entschloss, wenigstens das in Vorlesungen [1918] mehrmals entworfene Programm des Gedankenganges, soweit es die Lehre vom Bewusstsein als einer Störungserscheinung der Vitalität betraf, 1920 [1921] unter dem Titel "Vom Wesen des Bewusstseins' selbständig herauszugeben" (W, VIII). Für die kleine Schrift war zuerst der Titel "Zur Lebenslehre", dann "Die Grundlagen des Bewusstseins (Lebenslehre)" vorgesehen, was sich schliesslich im Untertitel "Aus einer lebenswissenschaftlichen Vorlesung" niederschlug.

 

Aus "ganzen Ketten von Lehrbriefen, teils diagnostischen, teils und vor allem mythenwissenschaftlichen Inhalts,... schlugen sich bleibende Gebilde nieder, so "Handschrift und Charakter" [1917, aus 20 graphologischen Unterrichtsbriefen entstanden] auf der einen Seite, so "Vom kosmogonischen Eros" [1922] auf der andern Seite" (W, VIII).

Es schlossen sich zwei Bücher an, "mit denen der Wissenschaft von den Charakteren ein für allemal die Richtung gewiesen ist" (W, VIII): "Die Grundlagen der Charakterkunde" (1926; als vierte und erweiterte Auflage der "Prinzipien der Charakterologie" von 1910) und "Die psychologischen Errungenschaften Nietzsches" (1926). Letzteres Thema beschäftigte ihn seit 1919.

Die erneute Beschäftigung mit Goethe - nach Ansätzen um die Jahrhundertwende - datiert aus derselben Zeit und fand ihren Niederschlag in der Schrift "Goethe als Seelenforscher" (1932; als Jahrbuchbeitrag schon 1928).

 

Ein weiteres Thema, dasjenige vom "Wesen des Rhythmus" stand seit 1913 in seinem Blickpunkt, doch der "feindliche Gegensatz" von "Rhythmus und Takt" wurde erst 1920 erkannt (in der 2.Aufl. von "Handschrift und Charakter") und ein Jahr später in denselben Worten in der 2.Aufl. von "Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft" (im Untertitel "Das Formniveau") ausführlich zitiert. Die vorläufige Formulierung "Vom Wesen des Rhythmus" erfolgte 1923, die endgültige unter demselben Titel 1934.

 

Daneben lief die Befassung mit graphologischen Fragen weiter, was sich in Aufsätzen und Vorträgen unter dem Titel "Handschrift und Charakter" (1911, 1920, 1921, 1923; in verschiedenen Versionen) und "Gegen das graphologische Pfuschertum" (1926) sowie in den Büchern "Einführung in die Psychologie der Handschrift" (1924), "Graphologisches Lesebuch" (1930) und "Graphologie" (1932) niederschlug.

Einzeluntersuchungen, die mit dem "Fall Nietzsche - Wagner" (1904) und "Bismarcks Handschrift" (1912) eingesetzt hatten, gelten nun den Handschriften von Karl May (1919, was Klages freilich nicht wusste), der Mathematiker Bernoulli (1922), Erzbergers (1925), Schopenhauers (1926), Kaspar Hausers (1926), Nietzsches (1927), Beethovens (1929) und Schliemanns (1930) - zusammengestellt in SW VIII, 563-672.

 

Hatte die Charakterkunde in verschiedenen Vorträgen und Aufsätzen (z. B. "Über den Begriff der Persönlichkeit", 1916) sowie in der Schrift "Persönlichkeit" (1927) weitere Vertiefung erfahren, so kam die Ausdruckskunde erst 1935 wieder zum Zug, freilich gleich mit dem abschliessenden Standardwerk "Grundlegung der Wissenschaft vom Ausdruck" (erschienen als 5., erweiterte Auflage der bereits 1921 auf den doppelten Umfang erweiterten "Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft").

 

Neben all diesen publizistischen Arbeiten erfolgte die Ausgestaltung des "Widersachers", weshalb es nicht verwundert, dass Klages von einer täglichen Arbeitsleistung von zunächst 14, später 16 Stunden schreibt (1920; vgl. SW VIII, 724, 721; Schröder, 910).

 

1929-1932: Die Themen von: "Der Geist als Widersacher der Seele"

 

Die ersten drei "Bücher" des "Widersachers" gelten der Lehre vom Bewusstsein. Das vierte, "Die Lehre vom Willen", bildet eine folgerichtige Fortsetzung, ist sie doch "ein wesentlicher Teil der Lehre von den Entstehungsbedingungen des Bewusstseins" (W, 515). Bereits vor Beginn der Arbeit am Widersacher abgeschlossen, entschloss sich Klagen jedoch erst 1920 diese Lehre in das Hauptwerk aufzunehmen, da sonst "das vollständige Fehlen der Theorie des Willens" eine "ausserordentliche Lücke" hinterlassen hätte.

Das fünfte "Buch" schliesslich, "Die Wirklichkeit der Bilder", das fast die (zweite) Hälfte des Gesamtumfangs ausmacht, setzt sich aus der "Lehre" und dem "Weltbild des Pelasgertums" zusammen. Letzteres lag bereits 1918 vor und war bis etwa 1927 als selbständige Veröffentlichung gedacht. Vorläufer dazu sind das Fragment "Hestia" (1903) sowie Vorlesungen über mythologische und folkloristische Themen (z. B. "Zur Psychologie des Volksliedes", 1910, ferner: private Unterrichtsbriefe, 1917 und 1918) und Arbeiten über das Wesen des Symbols (ebenfalls seit 1917).

 

Was das Erosproblem betrifft entstand Anfang 1918 und fand eine selbständig gebliebene Fassung im "Kosmogonischen Eros" (1922), der "eine das Hauptwerk zwar ergänzende, aber völlig selbständige Schöpfung" (Vorwort zur fünften Auflage des W, 1951) bildet. Ebenfalls keine direkte Aufnahme in den Widersacher fanden einige Aufsätze, die 1920 resp. 1929 im Sammelband "Mensch und Erde" erschienen.

 

Dafür bringt das längste Kapitel des Widersachers, "Magna Mater", die dreissig Jahre dauernde Auseinandersetzung mit dem Werk Bachofens zum krönenden Abschluss, wiederum unter Aufnahme von Abschnitten aus "Hestia" (Muttertum des Baumes und des Wassers).

 

Die "Lehre" von der Wirklichkeit der Bilder, welche Befunde der als Fragment 1914 und 1919 abgedruckten Untersuchung "Vom Traumbewusstsein" sowie Aufzeichnungen von 1918 wiederaufnimmt, entstand schliesslich im zeitlich letzten Arbeitsgang des Widersachers.

Schröder nennt im Kommentar zum Widersacher das fünfte Buch eher irreführend "Lebenslehre" oder "Metabiologie" (SW II, 1551f), was doch mehr auf die ersten vier zuträfe. Zudem schrieb Klagen 1917 an seinen Verleger Dr. Arthur Meiner in Leipzig: "Ich verstehe es, wenn Sie nach den Ihnen bisher bekannt gewordenen Teilen meines Werkes [in "Deutsche Psychologie", 1, Heft 3/4 und 5] dieses ein 'erkenntnistheoretisches' nennen; muss jedoch bemerken, dass es sich tatsächlich keineswegs um eine Erkenntnistheorie, sondern um eine neue Grundlegung der Psychologie auf biologischer Basis handelt".

Ähnlich schrieb er ein Jahr später: "Mit den Vorarbeiten zu einem vollständigen System der Charakterkunde bin ich seit anderthalb Jahrzehnten beschäftigt. Es hat sich aber erwiesen, dass eine wirklich beweiskräftige Ausgestaltung zweierlei voraussetzt:

  • eine vollständige Lehre vom Bewusstsein und
  • eine vollständige Lebenslehre (= philosophische 'Biologie').

Das beide enthaltende Werk (im Sinne einer Lebenslehre als der Grundlage einer Bewusstseinslehre) habe ich seit mehreren Jahren in Arbeit und hoffe es trotz ausserordentlicher inner und äusserer Störungen in absehbarer Zeit vollenden zu können" (Schröder, 771).

 

Daran anknüpfend spricht Schröder davon, dass es Klages um die "vitalen" Entstehungsbedingungen oder die "biologischen" Ermöglichungsgründe des Bewusstseins gegangen sei, führt jedoch anschliessend (SW II, 1552) Dispositionsentwürfe an, in denen der spätere dritte Abschnitt des dritten Buchs des Widersachers bereits die Überschrift "Die seelischen Grundlagen des Bewusstseins" trägt.

Beachtenswert ist, dass die Frage nach dem Bewusstsein bis ins Jahr 1900 zurückgeht, wo in den "Bruchstücken der Weltanschauung" steht: "Man trägt nichts von aussen in eine Seele hinein; das Bewusstsein ist Folge, nie Ursache. Wohl aber kann man von aussen die Entfaltung einer Seele hemmen ... Aber woher diese Verschattung und Umschlackung des Urfeuers? Was ist der Sinn und Ursprung unseres begreifenden Bewusstseins? (RR, 243 u. 247).

Ähnlich nennt er 1903 die Entstehung des begrifflichen Denkens "das fragwürdigste Geheimnis der Weltgeschichte" (RR, 422), und gibt anhand des apollinischen "Kenne dich selbst" eine erste Grundlegung seiner Theorie des Erkennens und Selbstbewusstseins.

 

Interessant mag noch sein, zu wissen, dass Klages im Jahre 1918 systematisch begann, alle Fremdwörter aus seinen Publikationen nach Möglichkeit auszumerzen, und die Rolle der Selbsttäuschungen, die im Nietzschebuch eine zentrale Stellung einnehmen, bereits einmal bei der Auseinandersetzung eines graphologisch Begutachteten mit seinen Gutachtern im Jahre 1906 aufgetaucht ist.

 

 

Teil 8: Zusammenfassung: Ständige Revisionen seiner grossen Werke

 

Graphologie und Charakterologie

 

Bereits im frühesten Versuch von Klages, eine Methodik der Graphologie zu entwickeln ("Graphologische Methoden" , 1898, SW VIII, 7-38), bezeichnet er die Graphologie als Wissenschaft. Zwei Jahre später wurde er gewahr, dass dieser Versuch "an mehreren Lücken leidet", weshalb er eine "ergänzende Erweiterung" nachschob (SW VIII, 46-56). Beide Abhandlungen wurden nicht mehr nachgedruckt.

Erst die "Theorie des Schreibdrucks" (1902/03; SW VIII, 96-116, 117-132) fand Aufnahme in den Sammelband "Zur Ausdruckslehre und Charakterkunde" (1927, ZA, 67-89, 90-97). Der Text wurde stilistisch überarbeitet und gekürzt, insbesondere am Schluss. In seinem letzten Lebensjahr (1956) hat ihn Klages für eine geplante, aber nicht erschienene Neuauflage des Sammelbandes erneut einer Revision unterzogen (SW, VIII, 745).

 

1904 begann Klages, neben einer reich sich entfaltenden Vortrags- und Unterrichtstätigkeit (in seinem "Psychodiagnostischen Seminar") eine "Graphologische Prinzipienlehre" auszuarbeiten, was ihn fünf Jahre beschäftigte. Daraus und aus anderen Materialien entstanden 1910 die beiden eng zusammengehörender Schriften "Die Probleme der Graphologie" und "Prinzipien der Charakterologie".

 

Umarbeitungen

 

"Die Probleme der Graphologie" (1910) wollte Klages, vergeblich, von 1915 an bis nach 1922 neugestalten. Sie wurden 1917 durch "Handschrift und Charakter" ersetzt, welcher "gemeinverständliche Abriss der graphologischen Technik" 1920 wesentlich umgearbeitet und erweitert (als "Lehrbuch", wie Klages dem Verleger schrieb), 1926 mit "wenigen kleinen Verbesserungen", 1940 (geplant schon 1935) umgearbeitet, 1943 ergänzt, 1949 abermals verändert und 1956 mit einigen Berichtigungen erschien. Posthum wurde er dann 1965 von B. Wittlich "für die Deutungspraxis bearbeit und ergänzt".

 

Die "Prinzipien der Charakterologie" (1910) erschienen in der 4. Auflage (1926) umgearbeitet und auf mehr als den doppelten Umfang erweitert als "Grundlagen der Charakterkunde". Die wiederum erfuhren 1928 "geringfügige Zusätze" und erschienen 1948 nochmals überarbeitet.

 

 

Ausdruckskunde und Philosophisches

 

Im trotz des Kriegs äusserst fruchtbaren Jahrzehnt 1910-1920 fand eine Profilierung der Philosophie und eine Präzisierung der Terminologie statt.

 

"Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft" (1913) erschien 1921 in fast auf das Doppelte erweitertem Umfang mit dem Untertitel "Grundlegung der Wissenschaft vom Ausdruck" und 1935 in der 5. Auflage völlig umgearbeitet mit dem Haupttitel "Grundlegung der Wissenschaft vom Ausdruck", welche 1950 nochmals überarbeitet und ergänzt wurde. Dieses Werk begründet bereits einige philosophische Einsichten und bringt sie in nähere Zusammenhänge.

 

Die Aufsätze "Vom Traumbewusstsein." (1914 und 1919) und die Abhandlung "Geist und Seele" (1916, 1917 und 1919) führen bereits zum Hauptwerk, dem Widersacher (1929/32), dessen Fertigstellung sich jedoch verzögerte durch die Herausgabe

  • von Sammelbänden eigener Aufsätze ("Mensch und Erde", 1920, "Zur Ausdruckslehre und Charakterkunde", 1927),
  • von Büchern von J. J. Bachofen (1925), M. Palágyi (1925), Carus (1926) und W. Preyer (1928), ferner durch die Ausarbeitung
  • von Büchern über Nietzsche (seit 1919; erschienen 1926) und Goethe (seit 1918; erschienen 1928 und 1932), sowie
  • "Vom Wesen des Bewusstseins" (1918; erschienen 1921), "Vom Kosmogonischen Eros" (1922) und "Vom Wesen des Rhythmus" (1923; umgestaltet erschienen 1934).

 

Umarbeitungen

 

"Vom Wesen des Bewusstseins" (1921) wurde in jeder folgenden Auflage, 1926, 1933 und 1955 umgearbeitet. "Vom kosmogonischen Eros" (1922) wurde 1926 "stilistisch und sachlich überarbeitet" sowie erweitert; 1930 erfolgten weitere Änderungen in der Darstellung.

Schliesslich wurde "Persönlichkeit" (1927) in der 2. Auflage verbessert (1937 unter dem Titel "Vorschule der Charakterkunde"), ebenso "Der Geist als Widersacher der Seele" (1929/32), genauer dessen 1. Band (1937). Bei letzterem Werk wurde 1954 das 23seitige "Vorwort für die Zeitgenossen" weggelassen und durch ein fünfseitiges "Einführendes Vorwort zur dritten Auflage" ersetzt.

 

Nach dem W beruhigte sich die publizistische Tätigkeit von Klages. Er gab 1940 den Nachlass Alfred Schulers und 1944 seinen eigenen (RR) heraus, veröffentlichte einige Vorträge sowie als letzte ausgearbeitete Schriften "Ursprünge der Seelenforschung" (1942) und das grosse Alterswerk "Die Sprache als Quell der Seelenkunde" (1948).

 

Genaueres hierüber findet sich, wie bereits erwähnt bei H. E. Schröder ("Das Werk" I, 1972, sowie im Kommentar zu SW II, 1966, 1551-1555, ferner in den Kommentaren zu SW VI, 697-713 und SW VIII, 713-824) und in vielerlei übersichtlichen Zusammenstellungen bei H .Kasdorff (Bibl., 285-338, ferner 345-410).

 

Ungenaue Angaben bei H. E. Schröder

 

Schröders Angaben entbehren allerdings letzter Genauigkeit. (Die korrekten Angaben finden sich bei H. Kasdorff, Bibl., 356ff [=K].)

Er (1969, 1551ff) gibt die Arbeitszeit an "Vom Traumbewusstsein" mit 1914-1919 (K: 1913; ferner 1919), das Erscheinungsjahr vom "Wesen des Bewusstseins" (entstanden 1918) zweimal mit 1920 (K: 1921) an. Die Entstehungszeit der "Einführung in die Psychologie der Handschrift" verlegt er ins Jahr 1924 (K: 1921), des Vortrags "Goethe als Seelenforscher" ins Jahr 1931 (K: seit 1918; 1928; Kasdorff, 1969b, 184: 1917).

 

Auf Seite 328 der Biographie von Schröder (1966) sind noch einige Fehler zu berichtigen: Der Band der Monatsschrift "Die Gegenwart" ist mit IL (49) nicht mit XLIX, was keinen Sinn ergibt, zu bezeichnen; die "Graphologischen Monatshefte" erschienen erst ab 1899, vorher hiess die Schriftenreihe "Berichte der Deutschen graphologischen Gesellschaft" (1897 und 1898) - vgl. richtig Seite 169 und SW VIII,* 717. In Busses "Graphologischer Praxis" veröffentlichte Klages 1905, nicht 1903, erstmals Aufsätze; die einzelnen graphologischen Veröffentlichungen nennt Schröder nicht.

 

Über den ersten Ansatz Schröders zu einer Biographie ("Ein deutsches Forscherleben. Zum Tode von Ludwig Klages", Zeitschrift für Menschenkunde, 4/1956, 317-330) schweigt des Sängers Höflichkeit. Genauer, wenn auch unübersehbar polemisch, ist Schröders Kommentar zu Theodor Lessings autobiographischen Schriften" (1970).

 

 

Teil 9: Wenig umfassende Sekundärliteratur (1920-1971)

 

Es verwundert kaum, wenn bei einem derart umfangreichen Werk, das stete Wandlungen durchgemacht hat, eine auch nur einigermassen umfassende Übersicht bis zur Stunde nicht vorhanden ist.

Gibt es zwar einige mehr oder weniger ausführliche Darstellungen

  • des "Widersachers" (6 Dissertationen: J. Deussen, 1934; H. Bendiek, 1935; C. H. Ratschow, 1938; M. Kliefoth, 1938; W. Witte, 1939; R. Müller, 1971; sowie M. Ninck, 1931/33; H. Kinkel, 1933; F. Wiersma-Verschaffelt, holl., 1953; J. Meinertz, 1955 und H. Kasdorff 1954/69); ferner J. Lewin, 1931; E. Seilliere, frz., 1931 und erstaunlich wenige
  • seiner Charakterkunde (O. Hermann, 1920; J. François, holl. 1930; A. Kronfeld resp. E. v. Niederhöffer, 1932; G. Thibon, frz., 1933; E. J. M. Breukers, holl., 1941/47) sowie je eine einzige
  • seiner Ausdruckskunde (R. Klüwer, 1954, auch die Charakterkunde behandelnd) und
  • seiner Graphologie (H. Engelke, 1940), so steht es mit
  • Gesamtdarstellungen noch schlechter, bieten doch nur C. Wandrey (1933), C. Haeberlin (1934), H. E. Schröder (1938/64), A. Simons (1942), E. Frauchiger (1947), K. Nowack (1951), J. Rausch (1952) und E. Bartels (1953) Ansätze dazu.

 

für weitere Literatur seit 1970 siehe:

Ludwig Klages: Sekundärliteratur

 

 



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